Wieso gelten Anglizismen als Verhunzung der Sprache aber Lateinische Fremdwörter als intelligent?

71 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Interessante Frage!

.

Man kann sich die Thematik aus Sicht der Sprachwissenschaften ansehen. Letztlich gibt es fast immer mehrere Umschreibungen für ein Wort aus einer anderen Sprache. In der Schule meint man womöglich noch, dass dieses englische oder lateinische Wort genau jenes deutsche bedeute. Spätestens im Studium wird man bemerken, dass es vielmehr auf das Sprachgefühl ankommt und ein Wort aus einer Fremdsprache im Deutschen mal dies, mal aber auch jenes bedeuten kann. Es gibt Sonderfälle und Ausnahmen ohne Ende - deshalb ist es nötig, für manche lateinische Wörter fünf oder mehr Übersetzungsmöglichkeiten zu kennen, um ansatzweise die Bedeutungsvielfalt ausdrücken und den Sinn des Textes treffen zu können. Wie gesagt: Exakte Übereinstimmungen gibt es selten, entscheidender sind Sprachgefühl und Textzusammenhang. Außerdem entwickelt sich Sprache, d.h. Wörter werden in Übersetzungen in die heutige Sprache übersetzt - wenn man eine deutsche Übersetzung eines lateinischen Textes liest, der vor einigen Jahrhunderten entstand, wird ein Laie heutzutage nicht viel verstehen - er benötigt aktuelle Begrifflichkeiten, die ihm auch bekannt sind. Kein Sprachwissenschaftler würde heutzutage die Bibel so übersetzen wie Martin Luther (was dessen Leistung natürlich keinesfalls schmälert!).

.

Deshalb ist die Anwendung von Fremdwörtern absolut berechtigt. Manchmal treffen nur sie den Sinn einer Sache, fast immer erweitern Fremdwörter den Wortschatz einer ganzen Sprache. Abwechslung tut gut - aus herausragend kann man exzellent machen, aus erfinderisch kreativ etc.

So ist es auch mit neuen Wörtern aus dem Englischen. Was spricht z.B. dagegen, den Begriff online zu verwenden? Manche Leute versuchen, eine entsprechende deutsche Bedeutung zu finden, z.B. angewählt. Ich denke aber, dass online sinnvoller ist und sich deshalb durchsetzen wird bzw. sich schon durchgesetzt hat. Was sich durchsetzt, hat natürlich auch immer mit den Umständen und der Gesellschaft zu tun, möglicherweise auch mit der "Werbung" für den Begriff.

.

Noch abschließend zur Frage, wieso man als gebildet gilt, wenn man Fremdwörter angemessen (!) anwendet.

Seit jeher war es Sache der Gelehrten, die antiken Sprachen zu beherrschen - Latein und Altgriechisch. Diese Sprachen sind Klassiker - wer sich intensiv mit dem Altertum beschäftigen will, muss diesen Sprachen verstehen. Gerade zu der Zeit, als die Antike wiederauflebte (Renaissance, Humanismus), waren antike Sprachen von entscheidender Bedeutung.

Wer diese Sprachen beherrscht, weiß beispielsweise, dass eloquent oder exquisit oder impulsiv oder Edikt oder Colloquium oder Campus lateinischen Ursprungs und Charakter oder kinetisch oder Energie oder Geologie oder Georg oder Andreas oder Psychologe oder Psychiater oder Klaustrophobie altgriechischen Ursprungs sind und so wird derjenige alle Begriffe herleiten, unterscheiden und passend verwenden können. Man muss kein Doktor sein, um sich die Bedeutung von Leukämie, Hamartom oder Elektrokardiogramm herleiten zu können.

.

Es ist also Zeichen von Bildung und Wissen, wenn jemand Fremdwörter korrekt nutzen kann - besonders in Sachen Latein und Altgriechisch, aber auch in anderen Fremdsprachen, die es heutzutage noch gibt. Verwendet man Fremdwörter passend und entsprechend, beweist man Redegewandtheit und meist sogar gute Kenntnisse in der jeweiligen Sprache.

Bei Englisch ist das aber schwieriger: Englisch wird als Weltsprache Nummer Eins bezeichnet, daher nutzen auch viele ungebildete Menschen diese Sprache (z.B. nur weil es cool gilt). Englisch steht deshalb weniger für niveauvolle Sprache, sondern eher für die "Allgemeinheit" - daher existieren viele primitive, einfache und lockere Begrifflichkeiten, die Englisch zwar angenehm für die Kommunikation machen, aber nicht für eine kunstvolle und hochwertige Sprache sorgen. Beeindrucken wird man damit niemanden - in manchen Fällen (z.B. online) finde ich englische Wörter durchaus angebracht, aber wieso jemand unbedingt statement anstelle von Stellungnahme oder Aussage sagen muss, verstehe ich nicht - durch solche unnötigen Ausdrücke wird die deutsche Sprache "zu englisch". Ein Gebildeter wird auch nicht nur Fremdwörter wie exzellent nutzen, sondern er wird fünf oder zehn (deutsche) Synonyme parat haben, die er auch anwenden kann und wird. Wenn jemand ein Fremdwort nutzt und nicht sofort ein oder am besten mehrere Synonyme aufsagen kann, ist er sowieso nur ein-gebildet. ;-)


punkrockboy 
Beitragsersteller
 22.11.2010, 20:48

Danke. EIne wunderbare Antwort.

Zuerst dachte ich mir: Ohje, das wird viel zu lesen.

Aber es ist so schön geschrieben, dass man es wirklich gerne liest!

Der Stern steht dir wirklich zu! Sowohl, was Inhalt, als auch was Sprachstil angeht!

Draschomat  22.11.2010, 20:53
@punkrockboy

Oh, danke für den Stern - ich wollte mich kurz fassen, aber bei dieser Thematik ging das einfach nicht. :-D

Zeobit  22.11.2010, 21:40
@Draschomat

Bitte nicht kurz fassen, deine Texte sind einfach wunderbar zu lesen! :-)

Draschomat  22.11.2010, 22:42
@Zeobit

Danke, aber trotzdem möchte ich längere Antworten vermeiden. ^^

IchLioba  16.12.2010, 20:13

Wollte sinngemäß das Gleiche sagen, doch so ausführlich, treffend und wunderbar sachlich formuliert, hätte ich das nicht hinbekommen.

LittleDarky  17.12.2010, 15:45
@IchLioba

Schöne Erklärung! Wen das weitergehend interessiert, dem möchte ich "Wie wirklich ist die Wirklichkeit" von Paul Watzlawick ans Herz legen. Nette Dinge dabei, was die übersetzung von Wörtern betrifft (Konfusion), und dergleichen..

kdojgd  13.12.2010, 08:38

Ja - e cool ^^

lilue  05.12.2010, 22:56

Wow! Klasse Antwort, hat richtig Spaß gemacht zu lesen und man kann nur zustimmen!

TimoiQ  04.12.2010, 23:59

Echt "excellente" Antwort ! DH

johnix  24.11.2010, 02:07

Ein deutsches Synonym für Familie; gibt es aber nicht. Sippe, Horde, Rotte; können den Begriff, nicht beschreiben. Sorry, ansonsten ist die Antwort ja meist sehr schön.

Draschomat  24.11.2010, 09:34
@johnix

Familie leitet sich vom lateinischen familia ab, was zumeist mit Hausgemeinschaft (oder eben mit Familie) übersetzt wird - ein sehr passender Ausdruck, wobei man heutzutage nicht mehr zwingend eine Hausgemeinschaft darunter versteht, da Familie einen spezifischeren Charakter erhalten hat (z.B. nur Eltern + Kinder).

johnix  24.11.2010, 13:20
@Draschomat

Wenn jemand ein Fremdwort nutzt und nicht sofort ein oder am besten mehrere Synonyme aufsagen kann, ist er sowieso nur ein-gebildet. ;-)

Bin ich jetzt eingebildet weil ich Familie nicht synonomisieren kann? Oder sind nicht eher die Deutschen eingebildet; Welche Isolierung sagen an Statt; Isolation?

Draschomat  24.11.2010, 14:32
@johnix

Achso, darauf sollte dein Kommentar abzielen. Ich meinte damit, dass man jederzeit so reden sollte, dass man von allen Zuhörern auch verstanden wird. Familie muss ja nicht zwingend erklärt werden, aber wer z.B. Wörter wie inkohärent oder fallieren benutzt, sollte sie auch selbst erklären bzw. umschreiben können.

punkrockboy 
Beitragsersteller
 24.11.2010, 22:00
@Draschomat

Eben. Nur Fremdwörter, zu denen einem wirklich nicht im geringsten ein Synonym einfiele(und wenn dann eines, das nicht albern ist), die kann man mal sagen.

Ansonsten bin ich auch contra eine zu hohe Präsenz heterogener Termini in Phrasen!

sockenfalter  01.12.2010, 14:09
@johnix

meine augen sind von diesen diamant und goldfraganten geblendet!

IRENEBOA  10.12.2010, 10:15
@johnix

@johnix: Isolation und Isolierung sind aber keine Synonyme, daher sind diese Worte nicht in allen Fällen austauschbar und sollten eben nicht gleichgesetzt werden.

johnix  10.12.2010, 10:44
@IRENEBOA

@IRENEBOA

Richtig Isolation ist ein griechisch-lateinischer Begriff. Isolierung ist der selbe Begriff mit deutscher Endung. Isolierung, dieser Begriff wurde von den Nazis benutzt, für Folterhaft.

tischbein  22.11.2010, 22:21

Lieber Drascho, schade, ich kann Dir nur ein K am Tag geben! Deine Antworten sind nicht zu toppen, pardon zu überbieten! ☺beinchen

punkrockboy 
Beitragsersteller
 23.11.2010, 21:08
@Draschomat

"nicht zu toppen, pardon zu überbieten! " <--- Wie genial(Verzeihung, ich meinte toll) ist das eigentlich? ;-)

Letztendlich kommt es doch darauf an, ob man den Inhalt versteht und ob der Mensch authentisch spricht!! Du jedem sollte die Sprechweise passen, dann merkt man das gar nicht so sehr, ob jemand Lateiner oder Engländer ist...;) Du verallgemeinerst sehr stark, bei mir wäre ein intellegenter Mensch, der mit mir fachchinesisch spricht eher unten durch, als ein "Normalo", weil man voraussetzt, dass der Fremdwörterbenutzer doch einschätzen sollte, ob sein Gegenüber ihn versteht oder nicht. Und dem ich dann einfach Arroganz unterstelle oder den Wusch, mich loswerden zu wollen. ABER: Latein ist irgendwie ursprünglicher, so dass manche Worte im Sprachgebrauch gebräuchlich und daher vertraut sind, wogegen Anglizismen aufgesetzt wirken. Ich habe gerade das Beispiel zuhause, meine Tochter kann ein paar Brocken Englisch und ich höre immer: Thanks. Das nervt. Warum, weiß ich nicht und ich selber habe das auch gemacht! Man fühlt sich irgendwie ""cool"", weil man etwas tut, was die Eltern nicht machen, vielleicht. Diese meine Tochter ist eh etwas rebellisch...die anderen machen das nicht.


punkrockboy 
Beitragsersteller
 15.12.2010, 19:39

Naja, praktisch alle Teenag... pardon, Adoleszen... pardon, Jugendlichen sagen Thanks, inklusive mir.

Im Normalfall und im Umgang mit Erwachsenen zwar Danke, aber unter Gleichaltrigen schon eher Thanks...

Vermutlich hast du schon recht: Wir Jugendlichen sondern uns gerne von den Erwachsenen ab und nachdem es im 21. Jahrhundert schon keine vernünftigen Jugendkulturen gibt müssen wir uns eben sprachlich abgrenzen von euch!

Weil Kritiker Anglizismen in der deutschen Sprache auch abwertend als Denglisch bezeichnen. Darüber hinaus, finde ich persönlich, warum englische Bezeichnungen nehmen, wenn es sie auch in Deutsch gibt? Wir leben in Deutschland und ich finde es nicht gut, wenn die deutsche Sprache immer weiter zurückgedrängt wird. Wenn sich bei mir jemand entschuldigt und sagt "sorry" empfinde ich es flapsig, das Wort "Entschuldigung" empfinde ich als ernsthafter gemeint.


punkrockboy 
Beitragsersteller
 20.11.2010, 14:19

Der Satz "Anglizismen zerstören die Deutsche Sprache" ist ja eigentlich ein Widerspruch. Diese Kritiker fühlen sich wahrscheinlich so pseudo-intelligent, wenn sie mal wieder in gehobenem "Deutsch"(wie sie ihr Latein nennen^^) über englische Fremdwörter meckern...

Ein wahrer Deutsch-Lieber müsste natürlich sagen "Englische Fremdwörter zerstören die Deutsche Sprache" :D

Gegen Anglizismen per se ist nichts einzuwenden, wenn sie helfen, Sachverhalte präziser auszudrücken.

Doch in der Werbung werden oft gerne Wörter und Formulierungen verwendet, die englisch aussehen, ohne dass die Präzision des Ausdrucks die Motivation ist. Es soll chic, modern und mondän wirken. Es soll beeindrucken, aber auch "unwissendes" Nachfragen abschrecken und so ist es oft nur Veneer für geistige Leere.

Häufig werden Anglizismen eher obfuskativ (lat./engl. ;-) gebraucht. Da lese ich z,B, "BACK FACTORY" für einen Backwarenverkauf. Das versteht kein Engländer! Denn "BACK" sieht aus wie ein englisches Wort, ist es aber hier nicht.

Handy sieht aus wie ein englisches Wort, ist aber keines, wenn ein Natel (schweizerisch) bzw. ein mobile phone gemeint ist.

Manche Anglizismen wirken nur doof, wenn man deren wörtliche Übersetzung sich vor Augen hielte: Mutterbrett (motherboard = Hauptplatine), Hahnennest (cockpit = Pilotenkanzel), Todeslinie (deadline = Termin), Auframpung (ramp-up = Produkteinführung), Ausrollung (roll-out = Auslieferung), Gesellschaftsidentität (corporate identity = Markenauftrittst), Kopfjäger (head hunter = Arbeitskräftevermittler).

So richtig zu Berge stehen dem Philologen die Haare bei gemischten Wortbildungen wie "gecancelt", "Incentive-Veranstaltung", "Fund-Raising-Aktion", ...

Latein und Englisch: Ausser den ganz einfachen Wörtern stammen unglaublich viele englische Wörter aus dem Lateinischen. Das Englische hat von überall her Wörter aufgesaugt und ist damit die wortreichste Sprache geworden.

Also noch einmal: Vorsichtig gebraucht, sind Anglizismen eine Bereicherung für die Deutsche Sprache. Inflationär gebraucht, leidet die Sprachpraxis und damit auch die damit einhergehende Denkpraxis.

Wenn man Texte aus zurückliegenden Jahrhunderten liest, dann sieht man darin teilweise auch eine Inflation lateinischer, später französischer Wörter. Die sind inzwischen entweder assimiliert oder vergessen. Wenn ein Karl Marx die "Expropriation der Expropriateure" gefordert hat, versteht das heute kaum einer. Und zu seiner Zeit?

Eine gewisse Gelassenheit scheint angebracht, denn allzu Unsinniges an Sprachkonstrukten wird einfach wieder verschwinden.


punkrockboy 
Beitragsersteller
 19.11.2010, 23:13

Danke! Auc heine gute Antwort!

ic hkann mich einfach nicht entscheiden, welche denn nun die beste ist :D

Nur eine Frage: Wie meinst du das hier: Manche Anglizismen wirken nur doof, wenn man deren wörtliche Übersetzung sich vor Augen hielte: Mutterbrett (motherboard = Hauptplatine), Hahnennest (cockpit = Pilotenkanzel), Todeslinie (deadline = Termin), Auframpung (ramp-up = Produkteinführung), Ausrollung (roll-out = Auslieferung), Gesellschaftsidentität (corporate identity = Markenauftrittst), Kopfjäger (head hunter = Arbeitskräftevermittler).

Entdeckung  22.11.2010, 20:39
@punkrockboy

Gute Beispiele ... nur head hunter (Kopfjäger) und deadline (Terminende) würde ich gelten lassen.

Die headhunter sind nicht so sehr Vermittler, die sind tatsächlich mehr Jäger !!! "Aufspürer" Überredungskünstler, Verführer ... im Sinne von gute "Arbeitskräfte" (Manager etc.) zu finden und dazu zu bringen, sich für ihre (der head hunter) Klienten zu entscheiden, sich anwerben zu lassen.

Und deadline ... das bedeutet grob gesprochen "das Ende der Fahnenstange" nach diesem Zeitpunkt geht nichts mehr ... die Sache ist tot, sie ist für den gestorben (gegessen), der den Termin überschritten, nicht rechtzeitig wahrgenommen hat.

Ganz einfach. Die Deutschen haben sich in Ihrer Geschichte schon immer als die kulturellen Nachfolger des "römischen Reichs" gesehen. Die Römer hatten Kultur und waren gebildet. Die Engländer waren auch nur "Barbaren". Da die ersten Anglizismen erst seit ca. 100 Jahrhundert entstanden sind, gelten diese als recht modern. Da die Engländer in Ihrer frühen Geschichte auch nicht gerade bekannt waren für Bildung und Kultur, sind Anglizismen halt "uncool". Sprachen mit romanischen Ursprung gelten dagegen als intellektuell. Französisch z.B. galt auch lange als die Sprache des Adels. Deutsch und Englisch, beides Sprachen mit germanischem Ursprung, eher die Sprache des einfachen Volks. Erst Martin Luther hat die deutsche Sprache als solche festgelegt und das ist ja noch nicht soooo lange her.