Typisch deutsche Debatte?
Darf man in Deutschland nicht mehr mit Staunen auf Dinge blicken, die Deutschen nicht nur als selbstverständlich erscheinen, sondern als selbstverständlich selbstverständlich?
Typisch deutschDenn nichts anderes hat Mohamad Alkhalaf gemacht, der 2015 vor der Terrormiliz Islamischer Staat aus Raqqa floh und seit längerem für die Regionalausgabe der SZ eine Kolumne namens „Typisch Deutsch“ schreibt. Sie handelt fast immer von Dingen, die für ihn hier gewöhnungsbedürftig waren:
Mal geht es um harmlose Dinge wie den Inhalt des Kofferraums, mal um brisante Dinge wie Käse.
Man kann beim Lesen regelmäßig selbst etwas lernen, zum Beispiel warum in Syrien fast jeder Wasserkanister, Holzknüppel, Taschenlampe, Batterien, Schaufel und Fotokamera im Auto hat.
Und man kann auch dem Kolumnisten beim Lernen zusehen, zum Beispiel wie er es schaffte, sich über kleine Probierhappen auf dem Viktualienmarkt an den Geruch und Geschmack hiesiger Käsesorten heranzutasten, die ihm vorher ungenießbar erschienen.
Es sind, wenn man so will, kleine, amüsante, lehrreiche Geschichten über Integration und was sie ganz praktisch bedeutet.
Zum Beispiel bedeutet sie, keinen schamesroten Kopf mehr zu bekommen, wenn zwei junge Frauen vor einem ein Eis essen. Alkhalaf schildert, dass es noch nicht lange her gewesen sei, dass ihm diese Situation „erhebliche Schwierigkeiten“ bereitet hätte:
„In vielen konservativen Gesellschaften, dazu zählt Syrien in gewissem Sinn definitiv, wird – speziell von Frauen – erwartet, dass sie in der Öffentlichkeit eine zurückhaltende und respektvolle Haltung zeigen. Das Verspeisen von Speiseeis und anderen Mahlzeiten, die als phallisch geformt angesehen werden könnten, würden als provokant oder anstößig empfunden werden.“
Heute scheint er sich daran gewöhnt zu haben – ganz anders als sein „neu angekommener Kumpane“ Ibrahim, dessen Kopf bei dem Anblick der beiden Frauen „zum Erdbeereis“ geworden sei.
Der kleine, leichte, humorvolle Text tut nichts mehr, als zu beschreiben, wie den Autor die Reaktion des Neuankömmlings daran erinnert hat, wie sehr er selbst sich in seiner Zeit in Deutschland verändert hat. „Manchmal nimmt man die Dinge des Alltags fälschlicherweise als selbstverständlich hin.“
Um sich über diesen Text extrem aufregen zu können, um in ihm einen drohenden Rückfall in talibaneske Steinzeitkultur lesen zu können, muss man ihm Dinge unterstellen, die er nicht tut, und seit dem Wochenende machen zahlreiche Protagonisten aus dem rechten, rechtsextremen und brutalliberalen Spektrum dafür Überstunden.
Einer unterstellt, dass man sich anscheinend „jetzt schämen soll“, wenn Frauen am Eis lecken. Ein anderer schreibt, „dass Menschen mit solchen Denkweisen hier einfach nicht hergehören“.
Ist die Debatte "typisch Deutsch"?
Das Ergebnis basiert auf 14 Abstimmungen
6 Antworten
Ich würde eher sagen die Debatte die um den betreffenden Artikel entstanden ist ist typisch für eine spezielle Klasse von empörten Wutbürgern, die sich auch über angeblich "schwule" Kindergärten oder über Restaurants mit ausländischer Küche aufregen. Denen ist halt nichts zu peinlich und es mangelt ihnen auch an der Fähigkeit des verstehenden Lesens (bzw. einige dieser Menschen nutzen die mangelnde Fähigkeit der anderen schamlos aus).
Typisch deutsch daran ist, dass Sätze oft aus dem Zusammenhang gerissen- und für die eigene dumpfe Ideologie vewendet werden.
In diesem Fall geht es um das Narrativ der Rechten zur angeblichen Überfremdung: Die vielen moslemischen Einwanderer würden uns eines Tages vorschreiben wie wir zu leben hätten - nämlich nach islamischen Moralvorstellungen.
Ist die Debatte "typisch Deutsch"?
Gut das du fragst und nicht behauptest, dass sie es ist.
Denn sonst hättest du gegen Gassner’s Law verstoßen:
Jemand, der gewisse Grundsätze und Prinzipien als „typisch deutsch!“ bezeichnet, hat automatisch verloren. „Typisch deutsch“ kommt nur von Argumentationslosen. Sie haben nichts mehr zu sagen.
Diese Debatte ist typisch für Leute die unter Verfolgungswahn und außerdem noch an Xenophobie leiden.
Wenn die dann noch zu dumm sind, mehr als die Überschrift eines Artikels zu lesen, dann kommt sowas dabei raus.
Tolle Frage!
Was du ansprichst, ist der Kultur-Clash, der jemanden aus einer anderen Kultur kommend ereilt, wenn er die auffälligen Abweichungen für sich erstmal bloß registriert und sie sich bewusst macht.
An diesem Punkt ist schon der besondere Blick, verbunden mit dem Wissenwollen, dafür entscheidend, wie es weitergeht. Es erfordert sicher Stil, Bildung und Toleranz, kulturell ungewöhnliche Dinge erstmal neugierig für sich zu hinterfragen, ohne gleich nach eigenen herkömmlichen Erklärungsmustern zu reagieren. Je nach Grad vorhandener Indoktrination durch Glauben, Klischees und konservative Werte ist es Sache der Persönlichkeit, wie jemand damit umgeht und ob er bereit ist, Augenhöhe (Subjekt-Subjekt- Kommunikation) herzustellen, indem er wertfrei anerkennt, was ist und woher es kommt. Ein bisschen setzt das den Forscherblick voraus. Und dies alles zu reflektieren, öffentlich!, natürlich auch ein ordentliches Maß an Intelligenz !
Wenn da sich im Unverständnis all der Gegebenheiten dieses Hintergrundes nun darüber hergemacht und der Autor missverstanden wird, wirft das nur ein Licht auf die eindimensionale, bewusst auf ein Bias zusteuernde Interpretation der erwähnten 'Protagonisten aus dem rechten, rechtsextremen und brutalliberalen Spektrum' - die sich mit ihrer eindimensionalen Sichtweise schon quasi als Schergen und Steigbügelhalter einer neuen ? Art outen.
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Ich bin so froh, dass ich schon in jungen Jahren Gelegenheit hatte, ein paar Jahre in Frankreich zu leben und zu arbeiten. Dadurch eröffnete sich mir der Blick von außen auf Deutschland.
Bei so manchen Eigenheiten, die abgewertet wurden, konnte ich durch Vergleiche und aufgrund von wertschätzenden Äußerungen anderer und deren Sichtweise wieder aufwerten und auf Augenhöhe neu beurteilen.
Diese Möglichkeit, typisch Deutsches von außen quasi mit anderen Augen zu sehen, fand und finde ich sehr wertvoll, und ich kann Jüngeren nur zuraten, solch ein Experiment mal anzugehen. Ich war oft erstaunt, was alles dazugehörte! Jedenfalls hat mich diese Erfahrung geprägt.
Schön, hier auf den Namen Mohamad Alkhalaf zu stoßen. Wie er sich äußert, werde ich mir auf jeden Fall anschauen. Auf einer Ebene, wo Erkenntnisse willkommen sind, lässt sich gut miteinander kommunizieren.
Wenn das ein gefundenes Fressen für Rechtsextreme ist, ist das wieder ein Beleg für meine These, dass jeder von ihnen mindestens ein Jahr im Ausland verbringen müsste - dort, so er selbst Ausländer ist. Sehr heilsam!
Schade um die nun verpasste Gelegenheit, in dieser Frage einen deutlich größeren Bezugsrahmen zu setzen als nur den der mit 🌟 ausgezeichneten Antwort, wo sofort wieder einfach nur dumpf geframt wird - nicht ohne schnell noch ein spaltendes und hier völlig irrelevantes Unterthema ('Kindergarten/'Schwule') einzubringen, das sehr wohl, aber in einem anderen Rahmen diskutiert gehört (und vor allem differenzierter).
Ich bin jetzt durcheinander und weiss nicht welche Debatte du meinst :)
Alkhalafs Kolumne scheint sehr interessant zu sein, und den rechtsextremistischen Wutbuergern wird er es nie recht machen koennen. Was er als Kompliment sehen sollte...
Es geht um die Debatte die wie im Uebermedien.de Artikel beschrieben um die letzte Kolumne von Alkhalaf entstanden hast.