Ich entschuldige mich schon mal vorab, ich muss seeehr weit ausholen.
Folgende Situation: Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von Ausrastern meines Vaters und Gewalt von ihm gegenüber meiner Mutter. Er hat viele Tage, die eigentlich hätten schön werden können, kaputt gemacht – zum Beispiel Weihnachten oder Silvester, manchmal auch Geburtstage, oft Urlaube.
Er hat dann entweder mit niemandem geredet oder ist wegen Kleinigkeiten total laut und aggressiv geworden. Mich hat er nur einmal geschlagen, meine Mutter in meiner Kindheit öfter.
Unser Leben bestand meistens daraus, Rücksicht auf ihn zu nehmen. Rücksicht, wenn er betrunken war und dadurch noch unzurechenbarer. Rücksicht, wenn wir seine starken, krassen Meinungen eigentlich fehl am Platz fanden und gerne widersprechen wollten, uns aber nicht getraut haben. Rücksicht, wenn er den ganzen Mittag geschlafen hat und wir wie auf Eierschalen durch die Wohnung gehen mussten, weil er ausgerastet wäre, hätten wir ihn geweckt.
Er hatte schon immer sehr extreme Gefühle. Entweder er war sehr stolz auf uns, hat uns das auch gesagt und mit uns geprahlt – oder er war wütend und voller Hass und hat Sachen gesagt wie, er wünschte, wir wären nicht geboren.
Meine Mutter hat sich zweimal von ihm getrennt: einmal, als wir (meine zwei Brüder und ich) noch in der Grundschule waren, und einmal vor drei Jahren. Beide Male ist sie nach einem Jahr wieder zurück zu ihm.
Sie hängt sehr an ihrer Opferrolle. Sie war häufig krank und immer die Ehefrau eines Tyrannen. Manchmal habe ich das Gefühl, sie kann ohne diese Rolle gar nicht mehr leben.
Im Haus, in dem meine Eltern wohnen, leben auch noch die Geschwister meines Vaters. Mein Onkel, der sein Leben lang schon ledig ist und ein Alkoholproblem hat. Er arbeitet seit jeher in derselben Firma und führt ein sehr einfaches und irgendwie trauriges Leben. Und meine Tante, die zweifach geschieden ist und unter Panikattacken leidet. Sie verlässt das Haus kaum, ist aber eine sehr liebenswerte Frau mit zwei erwachsenen Kindern.
Das Leben in diesem Haus war einfach immer mit viel Trauer und vielen offenen Fragen verbunden. Ich wusste schon immer, dass ich so nie leben wollen würde. Also bin ich früh ausgezogen, habe ein Studium angefangen, eine Ausbildung gemacht und für mich selbst gesorgt. Anfangs hatte ich starkes Heimweh, weil ich das Gefühl hatte, all die verlorenen Seelen im Stich zu lassen.
Inzwischen bin ich selbst verheiratet und versuche, eine gute Ehe zu führen. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Ich habe mehrere Therapien gemacht und versuche einfach ein glückliches Leben zu führen.
Vor sechs Wochen hat sich meine Mutter mal wieder von meinem Vater getrennt und es mir natürlich mitgeteilt. Ich meinte zu ihr, dass ich dieses ewige Hin und Her nicht mehr aushalte und es erst glaube, wenn sie mal länger als ein Jahr weg ist von ihm.
Gestern waren sie mich dann besuchen: meine Mutter, mein Vater, mein Onkel und mein Bruder. Eigentlich war angedacht, dass nur mein Bruder und meine Mutter kommen. Weil wir meinen Vater nicht ausschließen wollten, haben wir ihm und meinem Onkel auch Bescheid gesagt – besser gesagt: ich.
Der Tag war angespannt, wurde aber immer schöner. Auf der Heimfahrt, als ich schon nicht mehr dabei war, ist mein Vater dann aber wieder komplett ausgerastet, weil er von einem anderen Auto auf der Autobahn Lichthupe bekommen hat.
Er ist nach rechts gefahren und dann immer wieder nach links zum anderen Auto ausgewichen. Dabei hat er um sich geschrien. Mein Bruder hat mir gesagt, er hatte Angst um sein Leben. Mein Vater hat geschrien, er wäre halt so, wie er ist, niemand würde das jemals ändern, es wäre sein Leben, und er will es so leben, wie er es für richtig hält.
Heute habe ich den Entschluss gefasst, dass es keinen Sinn mehr macht, Kontakt mit meinen Eltern zu haben. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Was, wenn mein Onkel irgendwann stirbt und ich nicht da war für ihn? Was, wenn ihnen was passiert – also meinen Eltern? Was, wenn sie sich einsam fühlen?
Sie sind auch das erste Mal auf dieser Welt, aber ich kann mit diesem Verhalten einfach nicht mehr umgehen.
Ich will mich von allem distanzieren, und gleichzeitig weiß ich, ich werde mich dann immer fragen, ob es die richtige Entscheidung war.
Wie würdet ihr vorgehen?