Seid ihr froh darüber, dass das Wort "neurodivergent" erfunden wurde, um zu beschreiben, dass die Reizverarbeitung mancher Gehirne vom Durchschnitt abweicht?

nein 63%
ja 38%

16 Stimmen

6 Antworten

Bin zwiegespalten.

Ansich soll dadurch anerkannt werden, dass es entsprechend Gehirne gibt, die besondere Bedürfnisse haben. Es gibt eine Community mit gleichgesinnten, die sich sonst schnell unverstanden und allein fühlen.

Schwierig finde ich allerdings, dass es als „eine andere Art des Seins“ gesehen wird. Also, dass es nicht schlimm ist, sondern einfach anders. Der Leidensdruck der dahinter steht, rückt in meiner Wahrnehmung in den Hintergrund.

Der Begriff der Störung wird in dem Kontext oft abgelehnt. Und das finde ich gefährlich.

Mein ADHS ist definitiv eine Störung in der normalen Gehirnfunktion, die erheblichen Leidensdruck hervor ruft. Ich funktioniere nicht „einfach anders“, sondern aufgrund der Störung teilweise garnicht, wenn ich es sollte und möchte.

Der Begriff wird in meiner Wahrnehmung viel zu häufig missbraucht, um etwas „besonderes“ zu sein. Es gibt keine genaue Definition, weshalb viele selbst definieren, dass sie in diese Gruppe fallen.

Somit sorgt es eher dafür, dass Betroffene weniger ernst genommen werden.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Eigenerfahrung, Notfallsanitäterin

Ich verstehe die gute Absicht. Die Leute sollen nicht stigmatisiert werden. Aber es klingt einfach so geschraubt, dass es sich perfekt für eine Verballhornung ideal eignet:

"Bei seiner Neujahrsansprache wirkte Trump neurodivergent"

nein
Seid ihr froh darüber, dass das Wort "neurodivergent" erfunden wurde, um zu beschreiben, dass die Reizverarbeitung mancher Gehirne vom Durchschnitt abweicht?

Nein, es ist mir völlig egal, ob man das neurodivergent, hochsensibel oder wie auch immer nennt.

Alex


VitaminaC 
Beitragsersteller
 05.09.2025, 14:55

Hochsensible sind neurodivergent, aber nicht alle Neurodivergenten sind hochsensibel. Da gibt es schon einen Unterschied.

kiniro  06.09.2025, 11:52

Also ist es dir auch egal, dass es unzählige Barrieren gibt, auf die Autisten täglich treffen.

EinAlexander  06.09.2025, 11:53
@kiniro
Also ist es dir auch egal, dass es unzählige Barrieren gibt, auf die Autisten täglich treffen.

Nein. Das ändert aber nichts daran, dass es ist mir völlig egal.ist ob man das neurodivergenthochsensibel oder wie auch immer nennt.

nein

Wer sich so nennen möchte und sich damit besser fühlt, soll das gerne tun. Solche Begriffe helfen nur im Lebensalltag niemandem weiter – auch nicht den betroffenen Menschen selbst.

Ein Beispiel: Nachteilsausgleiche in der Schule oder am Arbeitsplatz bekommst du nicht, weil du „neurodivergent“ bist. Die bekommst du, weil du eine diagnostizierte Störung hast, eine anerkannte Behinderung und konkreten Unterstützungsbedarf.

Störungsbilder wie ADHS oder Autismus zu entstigmatisieren, ist richtig. Wer sie aber mit blumigen Worten verklärt, ausschließlich die positiven Seiten sehen will und die erhebliche Probleme negiert, die damit einhergehen, der leistet den Betroffenen den sprichwörtlichen Bärendienst.


VitaminaC 
Beitragsersteller
 05.09.2025, 20:18

Findest du das Wort "neurodivergent" blumig? Ich finde es eigentlich ziemlich neutral. Es sagt eigentlich nur, dass das Gehirn anders arbeitet, als bei dem Durchschnitt der Menschen, was in der Regel Nachteile mit sich bringt, aber eventuell auch Vorteile.

Jonathan45  05.09.2025, 22:23
@VitaminaC

Ich meine nicht unbedingt das Wort „neurodivergent“ an sich, sondern den Kontext, in dem es verwendet wird. Wenn von Neurodivergenz die Rede ist, dann verbirgt sich dahinter oft eine Sichtweise auf Autismus, die mir zur geschönt ist.

VitaminaC 
Beitragsersteller
 05.09.2025, 22:26
@Jonathan45

Nicht jede neurodivergente Person hat eine Störung. Hochsensibilität und Synästhesie zählen beispielsweise nicht als Störung, obwohl es neurodivergent ist.

Jonathan45  05.09.2025, 22:34
@VitaminaC

Das stimmt, aber dann weiß ich nicht, was der Begriff „neurodivergent“ an konkreten Verbesserungen überhaupt bringt. Nachteilsausgleiche, Therapien oder gar Gelder kannst du damit nicht beantragen. Medizinisch und sozialrechtlich ist „Neurodivergenz“ ohne jeden Belang.

VitaminaC 
Beitragsersteller
 06.09.2025, 10:52
@Jonathan45

Es geht erstmal nur darum zu kommunizieren, dass das Gehirn anders arbeitet, als beim Durchschnitt der Menschen, ohne gleich mit seiner Diagnose hausieren zu gehen.

VitaminaC 
Beitragsersteller
 06.09.2025, 11:51
@Jonathan45

Das ist korrekt. Es ist erstmal nur ein Hinweis für das Gegenüber.

Jonathan45  06.09.2025, 12:05
@VitaminaC

Genau da beginnt für mich die Inkonsistenz: Einerseits möchte man mit der Diagnose nicht hausieren gehen, andererseits sind die Probleme doch so groß, dass man dem Gegenüber einen Hinweis geben möchte. Warum dann das Problem nicht gleich „beim Namen“ nennen?

Ich glaube nicht, dass eine ausweichende Umschreibung (die außerhalb von Social Media kaum einer kennt) mehr Verständnis schafft als das ehrliche Offenlegen einer Diagnose. Mein Eindruck ist, die eigentliche Diagnose soll tabuisiert werden, weil man sich dafür schämt. Das schafft nicht mehr Verständnis, das schafft nur eine neue Mentalität des Tabuisierens.

VitaminaC 
Beitragsersteller
 06.09.2025, 12:20
@Jonathan45
Warum dann das Problem nicht gleich „beim Namen“ nennen?

Vermutlich weil die Leute mit Diagnosen wie Autismus oder ADHS bestimmte Stereotype verbinden, die im individuellen Fall gar nicht zutreffend sind. Man müsste sich dann erstmal darüber unterhalten, welche Klischees mit der Diagnose verbunden sind und dass diese vielleicht vollkommen falsch sind. Außerdem gibt es das Vorurteil, dass ADHS und Autismus nur "Modediagnosen" und keine realen Probleme seien, was ziemlich kränkend und abwertend ist.

Wenn man sagt, dass man neurodivergent ist und deshalb Probleme bei konkreten Aufgabenstellungen hat, dann weiß das Gegenüber mehr über das Individuum und hängt nicht bei abstrakten Stereotypen fest.

Jonathan45  06.09.2025, 12:34
@VitaminaC

Ich verstehe die Gründe durchaus. Die Vorurteile und Klischees findet man ja hier bei GF auch zuhauf. Ich glaube trotzdem nicht, dass Vorurteile und Klischees verschwinden, indem man einfach nur den Namen austauscht. Irgendwann werden sich die Vorurteile auf die neuen Begriffe (Neurodiversität, Neurodivergenz usw.) übertragen und dann stehen wir wieder dort, wo wir begonnen haben. Gegen Vorurteile und Klischees helfen nur Aufklärung und ehrliche Kommunikation, auch wenn das leider ein ganz mühsames Spiel ist.

Damit wird eine weitere Unterscheidung in "wir" und "die" vorgenommen, wodurch man diejenigen, die anders geheißen werden, unter dem Vorwand besten Willens so behandeln kann, dass sie den "normalen" Ablauf nicht stören, gar gefährden.

Wenn einer von ihnen fragt, was das soll und ob es wirklich so laufen muss, kann man sich auf die besten Absichten beziehen oder es - was noch billiger ist - als Beleg für die jeweilige Abweichung sehen, die eine - oder die - Einstufung rechtfertigt. Im Grunde ist es Selbstbeweihräucherung, da man Verständnis suggeriert, obwohl es im Wesentlichen bloß um eine Kennzeichnung geht.

Im Sinne der Vereinfachung, nach der "die Gesellschaft" lechzt, ist das hervorragend. Rational betrachtet ist es mehr eine Farce, geradezu stigmatisierend.

Da es, wie so oft, um die Mehrheit geht, ist das wohl eine tolle Sache... 🤷‍♂️.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Diagnostizierte Autismus-Spektrum-Störung