Was ist Autismus?

2 Antworten

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Wir Autisten haben nicht alle die exakt gleiche Gehirnstruktur, genauso wie Neurotypisten und Allisten nicht die exakt gleiche Gehirnstruktur haben.

Aber das autistische Gehirn weicht trotzdem merklich von anderen Gehirntypen und insbesondere vom neurotypischen Gehirn ab.

Du musst dir das einfach so vorstellen, dass sich das autistische Gehirn - genau so wie jedes Gehirn - ja bereits im Mutterleib formt. Ein autistisches Gehirn schlägt sozusagen einen anderen Weg ein, als ein neurotypisches Gehirn.

Da Autismus eine neurologische Entwicklungsstörung ist - wichtig: keine Erkrankung! -, ist die Differenz nicht (nur) am Verhalten zu erkennen, sondern auch wortwörtlich im Gehirn. Es ist nicht leicht und es reicht nicht alleinig aus, um jemanden zu diagnostizieren, aber es gibt Unterschiede, auch wenn diese, auf den ersten Blick, eher klein sind. Doch auch kleine Abweichungen im Gehirn können große Wirkung hervorrufen.

Ich verlinke mal ganz vorsichtig diesen Artikel hier. Weshalb vorsichtig? Weil der erste Teil, in dem über die sichtbaren (in Gehirnscans) Unterschiede geschrieben wird, ziemlich interessant ist, doch das meiste was ab "The Connectivity Issue" (Überschrift) ist inkorrekt bzw. ... höchst fragwürdig. Sie schreiben von einem "unaffected" Gehirn, als wäre man von Autismus "affected" und spätestens als sie von "neurotoxins" geschrieben haben, war ich komplett raus, da Autismus genetisch bedingt ist und nichts mit irgendwelchen Giften zu tun hat.

Deshalb verlinke ich ihn ganz vorsichtig.

"Gesunden" Menschen

Autismus ist ja keine Krankheit, also sind wir Autisten gesund, bzw. wenn wir nicht gesund sind - gesundheitliche Komorbiditäten etc., die tatsächlich häufiger bei uns Autisten auftreten -, dann nicht aufgrund unseres Autismus.

Wieso haben einige Autisten schwierigkeiten Emotionen zu deuten

Weil unser Gehirn eben anders aufgebaut ist, sich anders entwickelt (hat), anders funktioniert. Darüber hinaus gibt es auch Autisten, die hyperaware sind, was die Emotionen um sie herum angeht und diese sehr gut deuten können, doch sie haben Schwierigkeiten damit, entsprechend darauf zu reagieren und es überwältigt sie zu sehr (Kann viel mit Hyperempathy zu tun haben).

Es ist schwer zu erklären, weshalb es einigen/manchen von uns schwer fällt. Ich denke, bei jedem Autisten sind die Gründe ein kleines bisschen anders. Ich wüsste noch nicht einmal, weshalb es mir schwer fällt, außer eben ... na ja, weil ich Autistin bin. Sicherlich hat es auch etwas mit dem (nicht selten nicht/kaum vorhandenen) Augenkontakt zu tun, aber das ist nicht der einzige Grund. Unser Gehirn ist eben so aufgebaut, dass es damit oft Probleme hat.

und wieso haben sie oftmals Begabungen?

Das sind in dem Sinne keine Begabungen - zumindest nicht, wenn du an Inselbegabungen denkst -, sondern Spezialinteressen. Die können, müssen aber keine Begabung von uns sein.

Ein kurzer Exkurs bezüglich Inselbegabungen und Autismus:

Inselbegabungen = Das, was Savants haben.

Savants gibt es nur circa 100-200. Weltweit.

Circa 50% der Savants sollen ebenfalls Autisten sein.

Heißt das nun, 50% aller Autisten sind Savants?

Moment! Nein, tut es nicht, denn: Es gibt viel, viel mehr Autisten auf der Welt, als Savants - Viele davon undiagnostiziert. Die Rechnung ginge also nicht auf. Somit ist nur ein sehr kleiner Prozentsatz von uns Autisten wirklich inselbegabt, obgleich unsere Spezialinteressen manchmal, für das ungeschulte Auge, wie Inselbegabungen aussehen können.

Tatsächlich gibt es einige wichtige Unterschiede zwischen Spezialinteressen und Inselbegabungen. Unter anderem:

  • Inselbegabungen sind angeboren, Spezialinteressen nicht
  • Spezialinteressen können sich im Laufe des Lebens mehrmals ändern, Inselbegabungen nicht
  • Inselbegabungen kommen sehr häufig mit einer geistigen Behinderung einher und Savants sind nicht selten dafür in so gut wie allen anderen Bereichen des Lebens eingeschränkt, bei Spezialinteressen ist dies nicht der Fall (Auch wenn wir Autisten komorbide eine geistige Behinderung haben können)
  • Spezialinteressen bedeuten ein Interesse an ein Thema/einem Hobby/einem Objekt, während Inselbegabungen eine Begabung bedeuten - Du kannst an etwas interessiert sein und trotzdem keine Begabung darin haben und du kannst eine Begabung in etwas haben, für das du dich null interessierst
  • uvm.

Und bezüglich Spezialinteressen, na ja, ... So ist unser Gehirn eben. Wir bekommen anscheinend mehr Glücksgefühle oder sowas, wenn wir uns richtig in unsere Spezialinteressen reinhängen. Für uns Autisten ist es erwiesenermaßen enorm wichtig und auch gesund, dass wir so viel mit unseren Spezialinteressen zu tun haben wie möglich. Für uns hat das eben einen sehr hohen Stellenwert. Ich verallgemeinere nun ein bisschen, aber ich gebe mal zwei Beispiele: Ein neurotypisches Gehirn hat viel weniger Probleme damit, für etwas zu lernen, für das es sich nicht brennend interessiert, als ein autistisches. Ein neurotypisches Gehirn wird ohne zu große Probleme für die Schule lernen können, wenn es sieht, dass die Noten und somit - vermeintlich - die berufliche Zukunft in Gefahr schwebt. (Wir gehen hier übrigens von einem gesunden, neurotypischen Gehirn aus.) Ein neurotypisches Gehirn hat weniger Schwierigkeiten damit, in einem Job zu arbeiten, der nichts mit den eigenen Interessen/Hobbys zu tun hat, insofern die Stelle gut bezahlt ist, die Mitarbeiter und der Chef in Ordnung sind, es alles in einem convenient ist. Ein neurotypisches Gehirn ist meistens zufrieden, wenn es vielleicht 2 Stunden täglich oder ein paar Stunden am Wochenende seinen Interessen/Hobbys nachgehen kann. Ein autistisches Gehirn jedoch muss viel, viel mehr Zeit mit den Spezialinteressen verbringen. Wir "können" - für eine gewisse Zeit und die Dauer ist bei jedem Autisten unterschiedlich - "auskommen", mit viel weniger freie Zeit für unsere Spezialinteressen, jedoch nicht ohne starke Einbuße unserer mentalen Gesundheit.

Infodumping wäre z.B. auch so ein Unterschied. Das neurotypische Gehirn mag vielleicht hier und da ein bisschen Infodumping betreiben, aber generell reicht einmal pro Interesse/Freundeskreis/Person und das neurotypische Gehirn erkennt auch ziemlich schnell, wenn es die anderen langweilt, wenn niemand anderes die eigene Passion teilt. Das autistische Gehirn hingegen ... Ich verallgemeinere hier nun auch ein wenig, aber ich rede mal von mir persönlich: Ich muss mehrmals über sehr viele Fakten und Gedanken und Ideen bezüglich meiner Spezialinteressen Infodumping betreiben. Ich kann es nicht abschalten, ich mache das mehrmals am Tag, ich kann das stundenlang machen (Case in point: diese Antwort hier - Wobei ich schätze, das hier ist "vom Empfänger gewolltes Infodumping", aber trotzdem Infodumping), ich p.l.a.t.z.e, wenn ich es nicht tue. Infodumping macht mich richtig hyper (mit Stimming und so), es setzt irgendetwas in meinem Gehirn frei, was wir Autisten dringend brauchen.

Wobei ich zugeben muss, dass es sich manchmal wie ein "Zwang" anfühlt. Ich fange an, total motiviert etwas zu erklären, in tausendfacher Ausführung etc. pp. und ab der Hälfte oder so werde ich total müde und verliere die Motivation und ... ja, aber ich kann trotzdem nicht aufhören. Mein Gehirn und mein Körper lassen mich nicht aufhören. Um mich herum können zwei, drei, vier, fünf Stunden vergehen, es kann dunkel draußen werden, mein Akku kann merklich runtergehen, ich kann Hunger haben und trotzdem kann ich nicht aufhören, ehe ich nicht fertig bin. Ich kann keine Routinen einhalten, weil (Beispiel: Heute will ich bis 22 Uhr im Bett sein und ich hab noch so viel zu tun, heile Scheiße, ich krieg' das doch gar nicht alles hin, ich muss aufhören, aber ich kann nicht) ich festsitze, wortwörtlich.

Ist das überhaupt eine Art Krankheit oder eine entwicklungs oder Verhaltensstörung?

Na gut, die Frage habe ich ja bereits beantwortet. Es ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Entwicklungsstörungen unterscheidet sich von Erkrankungen unter anderem darin, dass Entwicklungsstörungen sich meist im Mutterleib, manchmal auch in der frühen Kindheit, entwickeln. Wenn deine Entwicklung abgeschlossen ist, kann deine Entwicklung nicht mehr gestört werden. Ergo: Du kannst keine Entwicklungsstörung mehr entwickeln. (Du kannst erst dann diagnostiziert werden, doch nur weil du erst ab morgen eine Diagnose hast, heißt das nicht, dass du die Anzeichen nicht schon Heute, Gestern, Vorgestern ... hattest.) Eine Krankheit jedoch kann immer auftreten. Direkt bei der Geburt oder mit 100 Jahren erst. Eine Krankheit hat keinen geschlossenen Zeitrahmen, in welchem sie auftreten kann.

Darüber hinaus:

When it comes to diagnosis, one of the key distinguishing factors between developmental disabilities and mental disorders is thought processes and behavior, according to the Intellectual Disability Rights Service. In the case of pervasive developmental disorders, individuals lack the cognitive ability to understand certain thoughts. For some people, a developmental disorder can serve as an obstacle to learning. Similarly, intellectual disabilities, which fall under the category of developmental disabilities, are specific to cognitive processes, while developmental disabilities can involve cognitive processes, physical processes, or both.
In contrast, mental disorders do not directly affect cognitive abilities. Instead, they alter an individual’s perception and thought processes. While a child with anxiety may find it difficult to talk in social situations, a child with a developmental disorder may lack the cognitive ability to understand social communication or body language.

Quelle

Dass Autismus eine "neurologische Entwicklungsstörung" ist, ist die Definition vom DSM-5 sowie ICD-11.

Autismus ist aber auch eine Art der Neurodiversität. Neurodiversität (bzw. Neurodivergenz) ist genau das, wonach es sich anhört: Eine Bezeichnung für den Fakt, dass autistische Gehirn sehr unterschiedlich sind, funktionieren. Quasi neurologische (Neurologie = Gehirn) Diversität. Es ist eine "entpathologisierte" (keine Ahnung, wie ich es sonst nennen soll), jedoch trotzdem neutrale und faktisch korrekte Bezeichnung für den Begriff "neurologische Entwicklungsstörung". (Wobei ich persönlich den Begriff okay finde - Immer noch besser, als Autismus als Krankheit einzustufen. Nicht perfekt - wir Autisten sind nicht gestört -, aber ja, könnte schlimmer sein.)

Und Autismus kann auch eine Behinderung sein. Hier scheiden sich die Geister. Aber lass es mich so sagen: Ich selber habe viele Jahre gebraucht, bis ich meinen Autismus akzeptieren und insbesondere, bis ich ihn als eine Behinderung von mir akzeptieren konnte. Das heißt nicht, dass mich nur mein Autismus behindert - keineswegs, Ableismus und z.B. meine Sozialphobie sind auch dafür zuständig -, aber er behindert mich halt auch. Mal mehr, mal weniger. Deshalb will ich nicht geheilt werden o.Ä. (ist aktuell zum Glück eh nicht möglich). Und ich denke, du realisieren, dass Autismus eine Behinderung sein kann, bedeutet auch, zu realisieren, dass ... behindert zu sein an und für sich nichts Schlimmes ist und dass behinderte Menschen nicht weniger wert sind.

Zwei Punkte sind hier aber auch noch wichtig:

  1. Nein, ob der Autismus einen behindert oder nicht, hat absolut gar nichts damit zu tun, wie "schwach" oder "stark" der Autismus ausgeprägt ist, denn so funktioniert das Spektrum nicht
  2. Die einzige Person, die entscheiden darf, ob sie ihren Autismus (aktuell) als eine Behinderung ansieht oder nicht, ist ... genau: Die entsprechende Person selber.

Also ja, das ist alles etwas sehr komplex.

Ich werde mir nun meine Antwort erstmal nicht durchlesen, bevor ich sie abschicke, weil, äh, ja ... Zeit und so, you know. Was macht Tick Tack und wenn's runterfällt, ist die Uhr kaputt?

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin diagnostizierte Autistin (Keine Selbstdiagnose)👽

Moesiii 
Beitragsersteller
 16.10.2024, 22:03

Vielen Dank für deine ausführliche Erklärung!

moony1990  04.02.2025, 19:17

Sehr schön und ausführlich erklärt, wobei ich zugeben muss, dass ich als AuDHSLer irgendwann ausgestiegen bin, weil der Text so lang ist.

Autismus ist eine Entwicklungsstörung die sich auf soziale Interaktion Kommunikation und Verhaltensmuster auswirkt Das Gehirn von Autisten zeigt oft eine andere Vernetzung und Aktivität besonders in Bereichen die Emotionen soziale Interaktionen und sensorische Verarbeitung betreffen Schwierigkeiten Emotionen zu deuten resultieren aus Unterschieden in der Wahrnehmung und Interpretation sozialer Signale Einige Autisten haben besondere Begabungen sogenannte „Inselbegabungen“, weil ihr Gehirn in bestimmten Bereichen überdurchschnittlich stark vernetzt ist

Autismus wird heute eher als neurodivergente Variation nicht als Krankheit betrachtet

Alles gute dir


Moesiii 
Beitragsersteller
 15.10.2024, 21:52

Vielen Dank!