Können Kinder autistisches Verhalten erlernen?

4 Antworten

Ich bin in einer Familie aufgewachsen, wo ich inzwischen vermute, dass jeder von uns autistisch ist. Wenn ich überlege, wie uns die Eltern erzogen haben, habe ich den Eindruck, dass sie uns schon etliche autistische Verhaltensweisen anerzogen haben.

Natürlich ist jeder von uns aus sich heraus schon autistisch (wird ja vererbt und ist angeboren). Und jeder von uns ist auch ein bisschen anders mit seinen Autismus-Symptomen. Aber man kann das autistische Verhalten ja teilweise kompensieren, so dass es andere nicht merken. Umgekehrt wird das autistische Verhalten aber auch verstärkt durch bestimmte Verbote oder Forderungen von den Eltern.

Also es wird nicht der Autismus anerzogen, sondern die Erziehung bewirkt, dass sich die Symptome stärker oder schwächer zeigen. So erlebe ich das zumindest bei mir.

Beispiele:

1 Die Eltern wollen extrem viel Ordnung, Pünktlichkeit, Struktur. Und wenn das Kind das nicht einhält, meint es, die Eltern mögen es nicht mehr oder es bekommt Ärger. Also wird es auf Ordnung, Pünktlichkeit, Struktur ebenfalls sehr achten, und es später evtl. beibehalten.

2 Die Eltern hatten es schwer mit sozialen Kontakten. Sie konnten daher dem Kind auf dieser Ebene nicht viel beibringen oder hilfreiches Vorbild sein. Sie behalten das Kind auch viel zu Hause, so dass es wenig mit Gleichaltrigen zusammen kommt. Also kann das Kind im Sozialen wenig lernen, kann auch Kompensation und Masking wenig anwenden, und fühlt sich fremd unter Menschen.

Ich würde schon sagen, dass das möglich sein kann. Aber ich denke auch, dass es auf das individuelle Kind ankommt. Vielleicht hat es eine großen Einfluss, wie stark die Bindung zwischen dem Kind und dem autistischen Erwachsenen ist.

So oder so: Irgendwann ist Schluss. Ein Kind wird nicht so viele Anzeichen von dieser Neurodivergenz/Behinderung nachahmen, dass es für eine offizielle Diagnose reicht - Zumindest nicht, wenn man zu einem geschulten Facharzt - Neurologe oder Psychiater - geht, der tatsächlich auf Autismus spezialisiert ist. Kein Kind zieht sowas 24/7 durch. Kein Kind hat Lust darauf.

Spätestens, wenn das Kind dann die Schattenseiten zu spüren bekommt, hört es auf. Kinder haben sehr feine Antennen dafür, herauszupicken, wenn jemand "anders" ist. Sie mögen nicht wissen, wie dieses "Anderssein" heißt, aber sie spüren es und Kinder können brutal sein. Wenn es zu Mobbing, regelmäßigen Missverständnissen, sozialer Isolation, Ausgrenzung, Schikane uvm. kommt, will niemand mehr sich "anders" verhalten. (Für viele tatsächlich autistische Kinder beginnt hier das ungesunde und kräftezehrende Masking.)

Ein Kind, das kein Autist/keine Autistin ist, würde auch nicht freiwillig z.B. Meltdowns, Shutdowns oder eben Sensory Overloads nachmachen wollen oder können. Vielleicht sieht das Kind, dass der erwachsene Autist z.B. empfindlich gegenüber Licht ist, aber es fühlt den Schmerz nicht.

Das Kind würde höchstwahrscheinlich nur die äußeren, sichtbaren "Symptome" nachahmen, aber es wäre selber nicht in dem autistischen Gehirn, es würde nicht die autism experience™ haben, nicht so denken, wie eine autistische Person, nicht so fühlen, die Welt nicht so wahrnehmen wie eine autistische Person.

Das meiste, was für uns Autisten unser Autismus ausmacht, spielt sich innen ab und nicht außen. Nicht zuletzt deshalb ist die Liste von den Anzeichen für Autismus, die einige Leute in ihren Köpfen haben, auch sehr löchrig, fehlerhaft, klischeebehaftet und nicht im Ansatz tiefgründig genug.

Außerdem würde es auffallen, wenn das Kind exakt die gleichen Anzeichen hätte, wie z.B. der Vater. Das wäre sehr komisch, nicht? Klar, ein paar Gemeinsamkeiten kann es geben, aber letzten Endes sind das immer noch zwei komplett verschiedene Menschen. Ich bin Autistin, meine Mutter ist Autistin, aber unsere "Symptome" haben Überschneidungen und trotzdem gibt es auch genügend, die sich nicht überschneiden oder wo die eine mehr Probleme mit hat als die andere etc. Und früher war das genau so.

Ein Kind, das sowas nachmacht, wird früher oder später damit aufhören. Kinder sind von Natur aus sehr neugierig und probieren "alles" mal aus, aber es wird auch "alles" recht schnell langweilig.

Darüber hinaus: Autismus-Anzeichen können ab 3 Jahren und jünger auftreten (Es ist immer angeboren, die ersten "Symptome" zeigen sich aber meistens erst dann, auch wenn sie nicht immer vom Umfeld wahrgenommen werden) und welches 3-jährige Kind macht sowas? Spätestens, wenn dann während der Diagnostik die Eltern gefragt werden "So, welche auffälligen Anzeichen hatte die kleine Isabella denn in ihrer frühesten Kindheit?", müssen die eine Weile überlegen. Ja, die kleine Isabella wird wohl kaum Entwicklungsverzögerungen (oder das Gegenteil davon, also wenn man viel weiter ist als die anderen Kinder - Keine Ahnung, wie das heißt) nachspielen oder Dinge wie selektives Essverhalten, oder, oder.

Bei sowas wie Stimming kann man sagen, dass jeder stimmt, aber bei uns Autisten ist es meist deutlich auffälliger, intensiver, häufiger (außer wir maskieren uns erfolgreich) die Konsequenzen, wenn wir es unterdrücken, sind viel größer und unser Stimming kann bei manchen von uns als "sozial unangemessen" angesehen werden. Ich habe auch ein paar Stims, die ich nur Zuhause ausführe, weil das in der Öffentlichkeit ziemlich ... na ja wäre. Und für die Öffentlichkeit habe ich die "socially acceptable stims".

Jedoch: Du darfst nicht vergessen, dass Autismus vererbt wird. Genetik und so. Wenn es in der Familie/Verwandtschaft ist, besteht eine Chance, dass noch eine weitere Person oder mehrere Personen in der Familie/Verwandtschaft Autisten sind. Je näher man mit der Person verwandt ist, desto größer ist die Möglichkeit.

Anstatt also zu denken, das Kind ahmt nur nach, würde ich mich eher fragen: "Wait a moment, könnte er/sie einer von uns sein? Können wir ein neues Clubmitglied willkommenheißen?"

Vielleicht wurden die Autismus-Anzeichen in frühester Kindheit ignoriert, vielleicht hat das Kind Angst, sich so zu verhalten, wie es wirklich ist, weil es im Kindergarten oder in der Grundschule dafür gehänselt wird und vielleicht sieht es durch den Kontakt mit dem erwachsenen Autisten, dass es nicht die einzige Person mit diesen Problemen ist. Und der autistische Onkel Alfred wird ja auch von der Familie angenommen, also eventuell kann man selbst auch angenommen werden und sich mehr trauen, man selbst zu sein ...?

Ich bin mir absolut sicher, dass das oft genug passiert.

Während ich also denke, dass das passieren kann, denke ich nicht, dass das lange anhalten würde - außer wir reden hier von einem Kind, das wirklich Autismus hat -, dass es auf das jeweilige Kind ankommt, dass das alles relativ schnell "entlarvt" (Klingt etwas falsch - So als würde das Kind das machen, weil es böse ist. So meine ich das nicht) werden kann und so weiter und sofort.

(Einige meiner ehemaligen Klassenkameraden haben leichten Autismus)

Es gibt keinen "leichten" Autismus, genauso wie es keinen "starken" Autismus gibt: https://neuroclastic.com/its-a-spectrum-doesnt-mean-what-you-think/

Das wäre wie zu sagen, eine Frau sei "ein bisschen schwanger". So funktioniert das Autismus-Spektrum nicht. Ich sage es immer wieder (so und so ähnlich): Ein Grünspecht ist nicht mehr Specht als ein Helmspecht, eine Pleskemeise ist nicht mehr Meise als eine Haubenmeise, eine Geradschnabelkrähe ist nicht mehr Krähe als eine Nebelkrähe, ein Goldfisch ist nicht mehr Fisch als ein Schwertfisch, Rot ist nicht mehr Farbe als Grün, ein Gänseblümchen ist nicht mehr Blume als eine Sonnenblume ............. Gut, du verstehst sicherlich, was ich sagen will. Und Autist A ist nicht mehr Autist als Autist B.

und will keinesfalls dazu anregen, dass Menschen mit Autismus, Schizophrenie oder anderen Erkrankungen, welche zu "anormalem Verhalten" führen, verboten wird Kinder zu haben.

Autismus ist keine Erkrankung.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin diagnostizierte Autistin (Keine Selbstdiagnose)👽

Ja, einige Dinge können die Kinder übernehmen, zum Beispiel stimming, soziale Verhaltensweisen oder Angewohnheiten. Es gibt aber auch einige Dinge, die Kinder nicht übernehmen oder später nicht beibehalten und kein Kind kann "autistisch werden" wegen sowas.

Das könnte durchaus möglich sein.

Ich arbeite momentan im Kindergarten und mir fällt öfters auf wie Kinder gewisse Verhaltensweisen oder Rollen kopieren durch das Auftreten ihrer Eltern.

Das hängt, aber auch stark davon ab wie prägend es das Kind selbst empfindet und, ob es persönlich die Neigung verspürt es nachzuahmen oder dagegen zu rebellieren.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Umfeld/ Privates