Ist Autismus eine Identität?
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Nein, es ist eine neuronale Entwicklungsstörung.
Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Es gibt für viele Autisten eine Phase in ihrem Leben, wo sie sich sehr stark mit ihrem Autismus identifizieren; meistens kurz nach der Diagnosestellung, die man erst mal für sich verarbeiten und in das Selbstbild integrieren muss. Auch ich hatte über einige Jahre so eine Phase.
Als Dauerzustand kann ich mir das heute jedoch nicht mehr für mich vorstellen, weil ich weit mehr bin als mein Autismus. Ich habe auch noch einen Beruf, ein Ehrenamt, eine Familie usw.
Das Thema Autismus ist immer noch wichtig für mich (schreibe ja auch gerne hier bei GF darüber), aber ich definiere meine Identität nicht mehr darüber. Die Identität eines Menschen sollte sich immer aus unterschiedlichsten Teilaspekten zusammensetzen, nur dann ist es für mein Dafürhalten eine gesunde und ausgewogene Identität.
Das hat mehrere Gründe. Zum kann ich überaus froh sein, dass ich nach einer wirklich beschissenen Jugend zumindest im Erwachsenenalter ein wenig mehr Glück hatte. Mit über 30 konnte ich eine Berufsausbildung nachholen (in einem Berufsförderungswerk) und schaffte sogar den Weg in den ersten Arbeitsmarkt. Ebenso dankbar bin ich, dass ich einen tollen Schachverein fand, wo ich mich im Großen und Ganzen so akzeptiert fühle, wie ich bin. Dass ich eine tolle und günstige kleine Wohnung fand, gehört auch noch dazu.
Solche Glücksfälle gaben mir immer wieder das Gefühl, dass man mit Autismus nicht aufgeben oder resignieren muss. Das war bei mir eine Mischung aus eigener Leistung und der richtigen, passgenauen Hilfe von außen.
Hätte mir sehr gewünscht, dass sich diese Hilfe schon als Kind und Jugendlicher bekommen hätte (statt mich ins Erziehungsheim zu stecken und mich dort zu brechen), aber umso mehr weiß ich es zu schätzen, was ich heute als Erwachsener erreicht habe.
Die Diagnose (ebenfalls erst im Erwachsenenalter) musste ich damals auch erst für mich verarbeiten. Aber irgendwann war dieser Verarbeitungsprozess abgeschlossen und ich habe mich dann wieder mehr auf alltägliche Dinge konzentriert. Ein Leben ausschließlich in identitätspolitischen Kreisen (das war die Frage dieses Threads) habe ich mir nie gewünscht, sondern eigentlich genau diesen bodenständigen Alltag, wie ich ihn heute (glücklicherweise) leben kann.
Autismus ist vieles. Keine Krankheit - Das sollte mittlerweile jeder wissen. (*hust*)
Aber kommen wir zur eigentlichen Frage: Ich denke, dass Autismus auch eine Identität ist, ja. Selbstverständlich.
Nur, weil es auch eine neurologische Entwicklungsstörung ist und auch eine (neuronale) Behinderung sein kann, heißt das noch lange nicht, dass es nicht auch eine Identität oder zumindest ein extrem großer Teil der eigenen Identität sein kann.
Denn wie bereits erwähnt, ist Autismus in erster Linie eine neurologische Entwicklungsstörung. (Für die Leute in der hintersten Reihe: Nein, Entwicklungsstörungen sind keine Krankheiten!) Und wo findet Autismus demnach statt?
Im Gehirn, ist doch logisch!
Und was steuert ebenfalls unsere Identität? ... Unser Gehirn, genau. Ohne Hirn hätten wir keine Identität. Wo soll die Identität sein? In der Niere?
Wir Autisten haben nun einmal eine andere Neurologie, unser Gehirn ist anders aufgebaut etc. Das ist längst bewiesen worden. Das sind physische Differenzen.
Ich will damit sagen, dass man sich zu 100% mit seinem Autismus identifizieren, damit im Reinen sein und es als Teil seiner eigenen Identität ansehen kann. Das geht. Und das ist valide.
Denn was sehr viele Leute noch immer nicht wissen - oder verstehen wollen -, ist der Fakt, dass Autismus deutlich mehr bedeutet als nur "Probleme in non-verbaler Kommunikation und stereotypisch, wiederholende Verhaltensweisen".
Es gibt vieles, was wir Autisten erleben o.Ä, was mit unserem Autismus zu tun hat, aber wir wissen das gar nicht oder andere Leute sagen, dass das nicht damit zusammenhängt.
Ich sage nicht, dass mein Autismus der Grund ist, weshalb z.B. meine Lieblingsfarbe Royalblau ist. Aber mein Autismus ist absolut der Grund dafür, weshalb ich dir nun sagen werde, dass ich ganz spezifisch das Royalblau von dem Hals eines Blauen Pfaus meine. Denn mein Autismus hasst es, wenn auch nur die Möglichkeit besteht, dass irgendjemand einen Blauton vor seinem geistigen Auge herumschweben haben könnte, der auch nur minimal von meinem Blauton abweicht. Ich weiß auch, dass Google Bilder einem bei "Royalblau" viele Blautöne ausspuckt, die nicht der Blauton sind, den ich meine. Das ist eine Form von Overexplaining und Overexplaining ist etwas, das viele (nicht alle) Autisten tun.
Was ist eine Identität?
Wikipedia meint:
Identität ist die Gesamtheit der Eigenschaften, Überzeugungen, Persönlichkeitsmerkmale und des Erscheinungsbildes, die eine Person oder eine Gruppe charakterisieren.
Die Gesamtheit von Eigenschaften also. Nun, Autismus kann die Charaktereigenschaften einer Person definitiv stark beeinflussen. Überzeugungen? Auch die können vom Autismus gelenkt werden. Und das Erscheinungsbild? Selbstverständlich ist das auch vom Autismus geprägt. Unsere Mimik und Gestik ist anders (außer, wir maskieren uns, uns selbst dann kommt es sehr darauf an, wie gut man darin ist usw.), unsere Sprechweise, Tonlage ist anders. Wir wir kommunizieren, mit der Welt interagieren und sie wahrnehmen ist anders. Wie wir lernen ist anders, wie wir Zuneigung zeigen ist anders uvm. Das ist alles nicht von der Hand zu weisen.
Ich kann behindert sein und meine Behinderung als meine Identität ansehen.
Denn das ist sie nun einmal. It is what it is. Und behindert zu sein ist nicht unbedingt etwas Schlimmes, gegen das man kämpfen sollte (ein sehr ableistisches Mindset). (Und nein, nicht jede Behinderung ist eine Krankheit bzw. resultierte aufgrund einer Krankheit.)
Ohne meinen Autismus wäre ich ein anderer Mensch. Ich hätte eine andere Identität. Denn was prägt die Identität? Korrekt: Erfahrungen. Erfahrungen prägen die Identität eines Individuums. Und niemand kann mir weismachen, die Erfahrungen - schon ab früher Kindheit - von uns Autisten wären nicht deutlich anders als die von den meisten neurotypischen Kindern/Menschen. (Überlappungen gibt es immer. Ich meine nur, dass es sich trotzdem deutlich unterscheidet.)
Es ist wortwörtlich in- Nein, es ist wortwörtlich mein Gehirn. Das Ding, das den Schuppen hier am Laufen hält. Der Grund, weshalb ich mein Smartphone halten, eine Antwort verfassen, atmen und währenddessen mit den Beinen wackeln kann. Autismus ist mein Gehirn. Mein Gehirn ist autistisch. Ich habe kein neurotypisches Gehirn mit (ein bisschen/viel) Autismus, sondern ich habe ein autistisches Gehirn.
Autismus ist eben nicht nur etwas, was sich lediglich zeigt, wenn man mit anderen interagiert oder wenn man einen Sensory Overload hat. Mein Autismus zeigt sich auch, wenn niemand guckt. In den kleinsten Dingen des Alltags.
Deshalb ist es auch so wichtig, dass Autismus von allen besser verstanden wird.
Ich sage nicht, dass man seinen Autismus lieben muss (Ich liebe meinen definitiv nicht, aber internalized ableism ist nun einmal nicht cute), doch wir sollten schon realisieren und akzeptieren, dass Autismus die eigene Identität stark beeinflusst.
"Wir" versuchen, Autismus und Identität zu trennen, da "wir" Autismus noch immer als etwas grundsätzlich Negatives wahrnehmen. Das muss schleunigst geändert werden, denn noch weniger cute als internalized ableism ist ableism (aka. Ableismus).
Aber na ja, belassen wir es dabei.
Autismus ist vieles. Keine Krankheit
Warum steht Autismus dann im medizinischen Handbuch unter neurologische Entwicklungsstörung?
(Für die Leute in der hintersten Reihe: Nein, Entwicklungsstörungen sind keine Krankheiten!)
Doch, eine chronische, unheilbare, neurologische Krankheit. *hust*
Sollte mich nicht wundern, wenn die trotzdem demnächst unter der Regenbogenflagge mitlaufen und Vorstandsposten in Konzernen fordern (oder haben die dort schon die Mehrheit).
Wie schaffst du das trotz Autismus?