Ab wann gilt eine Sprache als eigene Sprache?

5 Antworten

Von Experte OlliBjoern bestätigt
אַ שפּראַך איז אַ דיאַלעקט מיט אַן אַרמיי און פֿלאָט
a shprakh iz a dialekt mit an armey un flot

Dieses berühmte Zitat ist in einer Sprache, die manchen nur als ein Dialekt des Deut­schen gelten würde (Jiddisch). Und es beschreibt genau das, was Du meinst: Ein „Dia­lekt“ wird zur „Sprache“, wenn die Sprecher über genug reale Macht verfügen, diese Ansicht zum Standard zu machen (und natürlich nur dann, wenn sie daran überhaupt Interesse haben).

Ich bin Österreicher und war einmal in Pforzheim. Das Programm umfaßte eine Bus-Rundreise durch verschiedene Sehenswürdigkeiten der Umgebung. Der Busfahrer sprach etwas, was für mich so verständlich wie Xhosa war. Ich hatte nie auch nur den Schatten einer Ahnung, wovon der Kerl gerade dahinschwäbelte.

Trotzdem gilt Schwäbisch nicht als eigene Sprache. Das hat mehrere Gründe, aber alle hängen mit „fehlende Armee und Flotte“ zusammen, also daß BW kein Staat mit eigener Verwaltung und eigenen Strukturen ist. Die wichtigsten Kriterien sind:

  • Fehlende Schriftform, daher kein Schulunterricht, keine offiziellen Dokumente, keine Softwareunterstützung, keine Normierung
  • Fehlendes Prestige, daher kein Studium „Schwäbische Literatur“, keine Sprach­kurse, kein Interesse im „Ausland“, keine eigenen Druckerzeugnisse
  • Fehlende Verankerung in der Verwaltung, keine separaten Formulare, keine Verwendung nichttraditionellen Situationen, daher auch kein bürokratisches, technisches, juristisches, wissenschaftliches etc. Vokabular.
  • Gleichzeitig besteht weitgehend Diglossie, denn abgesehen von dem δεινότατος Bus­fahrer konnten alle Leute etwas sprechen, was zwar Lokalkolorit ausströmte, aber gewöhnlich gut verständlich war.

All das kann sich natürlich ändern. Vor ein paar Jahrzehnten gab es eine italieni­sche Spra­che mit vielen „Dialekten“, heute hat Italien -zig Regionalsprachen, die alle ir­gend­eine Form von staatlicher Förderung bekommen. Sizilianisch, Neapolitanisch, Vene­tisch und ich weiß nicht wieviele andere werden in normierter Form in der Schu­le ge­lehrt und haben sogar teilweise eine eigene Wikipedia. Es fehlt zwar noch an Armee und Flot­te, aber zu­mindest ist genug gesellschaftliche Kraft da, daß die Sprachen ak­tiv ent­wickelt und den modernen Erfordernissen angepaßt werden.

Woher ich das weiß:Hobby – Angelesenes Wissen über Sprach­geschich­te und Grammatik
Dontlikeputin  25.11.2023, 22:57

nein eine Dialekt wird erst dann zur Sprache aus lingustischer Sicht,wenn sich eigene klar von der Standartsprache zu unterscheidende Grammatikstrukturen bilden.Auch muss sich das Vokabular stark in seiner Semantik nicht Aussprachweise verändern.

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Dontlikeputin  26.11.2023, 01:33
@indiachinacook

Hier hat man es mit einer Standardvarietät aus 3 Sprachen zu tun die eine gemeinsame Markosprache haben.

Es sind Dialekte und Sprachen zu gleich

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Es wurde ja schon gesagt: ob ein Dialekt als Sprache gilt, ist oft auch eine politische Entscheidung. Das ist z. B. bei den skandinavischen Sprachen so. Auch moldauisch galt zu Sowjetzeiten und eine Weile danach noch als eigene Sprache.

Eigentlich variieren Dialekte von Dorf zu Dorf. Die Bewohner zweier benachbarter Dörfer sprechen im Prinzip gleich, nur einzelne Wörter unterscheiden sich, meistens nur geringfügig. Hier spricht man von Dialekten.

Wenn man von einem Dorf zum anderen kommt, und sich nicht nur einzelne Wörter geringfügig unterscheiden, dann hat man eine Sprachgrenze überschritten.

Matermace  13.08.2023, 11:56

Schwierig. Mein Dorf lag zum Beispiel direkt an der Schweizer Grenze, die Sprachbarriere war durchaus vorhanden. Trotzdem wird Schweizerdeutsch als Dialekt geführt.

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Helefant  13.08.2023, 12:48
@Matermace

Ja, das stimmt, die Schweizer sprechen Schwyzerdütsch, sobald man über die Grenze kommt. Trotzdem ist es natürlich eindeutig ein alemannischer Dialekt. Der große Unterschied ergibt sich vor allem daraus, dass der Dialekt in Baden-Württemberg stark zurückgedrängt wurde. Vielleicht gibt es ja dort trotzdem noch Leute, die den urspünglichen Dialekt sprechen, so wie ich auch hier in Franken welche kenne, die ein 'richtiges' Fränkisch sprechen, wie ich es fast nicht verstehen kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Schweizer auch bewusst vom standardsprachlichen Deutsch abgegrenzt. Dieser Trend ist jetzt eher wieder rückläufig. Schwer zu sagen, wie weit der Dialekt dann dort verschwinden wird.

Aber ansonsten sind die Beziehungen zum Alemannischen natürlich recht eindeutig.

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Matermace  13.08.2023, 12:51
@Helefant

Absolut, die Ü70-Fraktion im Dorf war auch nicht eben leicht verständlich. Heute finde ich es ein schönes Beispiel für den fließenden Übergang von Sprache und Dialekt.

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Ramon6134  18.08.2023, 15:15
@Helefant

I Dieser Trend ist jetzt eher wieder rückläufig. Schwer zu sagen, wie weit der Dialekt dann dort verschwinden wird.

Das bezweifle ich. Ich persönlich kenne in der Schweiz (Bin selbst Schweizer) keine Person ohne Migrationshintergrund, die im Alltag Hochdeutsch spricht. So schnell werden die Deutschschweizer Dialekte nicht verschwinden.

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Helefant  18.08.2023, 17:26
@Ramon6134

Im Wikipedia-Artikel heißt es dazu:

Durch die Entwicklung der audiovisuellen Medien und durch die erhöhte Mobilität der Bevölkerung werden die Dialekte ausgehend von den städtischen Gebieten immer mehr von Ausdrücken der standarddeutschen Schriftsprache und auch des Englischen durchzogen. Dazu kommt, dass praktisch der gesamte Wortschatz des modernen Lebens über jeweils einheitliche hochdeutsche Formen ins Schweizerdeutsche gelangt. So gelten die meisten Anglizismen aus der deutschen Sprache auch für Schweizerdeutsch, z. B. sori (von englisch «sorry») statt Äxgüsi, schoppe (von englisch «to shop») oder iichauffe (von deutsch «einkaufen») statt Komissioone mache oder (übrigens auch erst jüngerem) poschte

Ok, möglicherweise sind da vor allem spezifische Begriffe betroffen, allerdings teilweise auch die Grammatik.

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Gottestrost  18.08.2023, 17:43
@Helefant

Aber im whatup schreiben die jungen auf schweizerdeutsch. Was ein vorteil ist für die, die eine leseschreibschwäche haben, weil man schreiben kann wie man es auspricht.

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Ramon6134  18.08.2023, 17:46
@Helefant

Ja, das stimmt, aber ich sehe darin keine Gefahr für das Schweizerdeutsche im Allgemeinen. Das Grundgerüst wird bleiben.

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Helefant  18.08.2023, 17:46
@Gottestrost

Ok. Das kenn ich nicht (oder ist das schweizerisch für WhatsApp? :D). Und es ist ja auch nichts gegen Schwyzerdütsch zu sagen.

Es gibt auch in Bayern Gegenden, in denen noch viel Dialekt gesprochen wird, und es gibt Initiativen, die den Dialekt pflegen. Aber im Allgemeinen ist er seit vielen Jahrzehnten stark zurückgegangen.

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Sächsisch und Österreichsisch

Was soll denn "Österreichisch" sein? Es gibt eine österreichische Standardsprache, die sich nur in wenigen Details von der bundesdeutschen Standardsprache unterscheidet. Du wirst hoffentlich nicht ernsthaft behaupten, dass du die nicht verstehst.

Und es gibt eine ganze Reihe verschiedener Dialekte vom Bodensee bis zum Neusiedlersee. So wie es diverse Dialekte in Deutschland gibt. Welcher davon ist nun "Österreichisch"?

Wie dem auch sei: Österreich hatte keine Motivation, seine Variante der deutschen Sprache als separate Sprache zu definieren; wozu auch. Österreichisches Deutsch gilt daher weiterhin als eine der Standardvarietäten der deutschen "Dachsprache", wenn man dem gängigen plurizentrischen Sprachmodell folgt.

Von Experte indiachinacook bestätigt

Das hat eben auch politische Gründe. Portugal und Spanien sind zwei Staaten. Dasselbe gilt auch für Norwegen und Schweden, beide Sprachen sind sich so ähnlich, dass man in Norwegen ohne größere Probleme um die Runden kommt, wenn man gut Schwedisch kann (oder umgekehrt).

Dagegen würde kaum ein Osloer oder Stockholmer Älvdalisch verstehen (in Dalarna/Schweden von einer winzigen Minderheit gesprochen). Offiziell ist es ein schwedischer Dialekt, allerdings linguistisch eine andere Sprache (weder Norwegisch noch Schwedisch), selbst der Elch, der normalerweise "älgen" heißt, heißt dort in Dalarna "brindan".

Auch Kroatisch, Bosnisch und Serbisch (und selbst z.T. Bulgarisch) sind untereinander gut verständlich. Aus politischen und sozialen Gründen (auch Religion: Kroaten sind katholisch, Serben orthodox und Bosniaken oft muslimisch) legt man aber sehr viel Wert darauf, dass dies verschiedene Sprachen sind.

Luxemburgisch ist eigentlich ein moselfränkischer (und damit im weitesten Sinne "deutscher") Dialekt. Aber er hat einen einen eigenen Staat und eine eigene, offizielle Orthografie (was auf andere deutsche Dialekte nicht zutrifft, es gibt kein "Standardschwäbisch", was man auf eine bestimmte Art und Weise schreiben müsste).

Das ist eine politische bzw. gesellschaftliche Entscheidung. Sprachwissenschaftlich sind das oft fließende Übergänge und es gibt in der Linguistik an sich keinen Unterschied zwischen Sprache und Dialekt.

Das Letzeburgische zum Beispiel wurde 1984 per Parlamentsbeschluß aus dem Status eines Dialekts zur Landes- bzw. Nationalsprache erhoben.