Wenn Du eine NaCl-Lösung elektrolysierst, dann entsteht gewöhnlich an der Anode Cl₂ und an der Kathode H₂+NaOH.
- Die Oxidation an der Anode ist 2 Cl⁻ ⟶ Cl₂ + 2 e⁻. Das ist ein bißchen gegen die Erwartung, weil das Reduktionspotential von Chlor +1.36 V beträgt und das von Sauerstoff nur +0.82 V (bei pH=7). Man würde also eigentlich mit der Bildung von O₂ gemäß 6 H₂O ⟶ O₂ + 4 H₃O⁺ + 4 e⁻ rechnen, aber in der Praxis hat der Sauerstoff an fast allen Anodenmaterialien so viel Überspannung, daß sich lieber Chlor bildet.
- Die Reduktion an der Kathode liefert Wasserstoff. Daran ist aber kein Natrium beteiligt, sondern das Wasser wird direkt elektrolysiert: 2 H₂O + 2 e⁻ ⟶ H₂ + 2 OH⁻ (bei pH=7 beträgt das Reduktionspotential −0.41 V). Eine Bildung von metallischem Natrium, auch als Intermediat, ist ausgeschlossen, weil dessen Reduktionspotential mit −2.71 V viel weiter von Null entfernt liegt.
- Man braucht also eine Elektrolysespannung von mindestens 1.36+0.41 = 1.77 V für diese Elektrolyse, in der Praxis wohl eher 2–2.5 V, um diverse Dreckeffekte (Innenwiderstand, Überspannung) auszugleichen.
Damit ist die Frage hoffentlich vollständig beantwortet. Spaßeshalber habe ich aber Google Gemini gefragt:
I want to produce chlorine by electrolysis of a sodium chloride solution. What is the necessary voltage?
Und ich bekam einen Wust von Antwort, in der wie üblich viel Richtiges steht, aber gemischt mit genug Murks, daß es insgesamt nicht weiterhilft. Teilweise mußte ich nacheditieren, um die Formatierung hier auf GF zu verbessern.
To produce chlorine by the electrolysis of a sodium chloride solution (brine), the theoretical minimum voltage required can be estimated from the standard electrode potentials of the relevant half-reactions.
Gute Einleitung.
In an aqueous solution of sodium chloride, the following reactions are possible:
At the anode (oxidation):
2 Cl⁻ (aq) → Cl₂ (g) + 2 e⁻ E∘=+1.36V
2 H₂O(l) → O₂ (g) + 4 H⁺ (aq) + 4 e⁻ E∘=+1.23V
Soweit richtig, aber Gemini weiß nicht, daß eine NaCl-Lösung pH-neutral ist und vergißt, daß das relevante Potential nicht das hier einfach aus der Tabelle abgeschriebene Standardpotential ist, sondern daß man das noch mit der Nernst-Gleichung auf pH=7 umrechnen muß. Statt 1.23 V beträgt es dann nur noch 0.82 V.
At the cathode (reduction):
2 H₂O (l) + 2 e⁻ → H₂ (g) + 2 OH⁻ (aq) E∘=−0.83 V
Na⁺ (aq) + e⁻ → Na (s) E∘=−2.71 V
Hier gilt dasselbe: Das H₂-Potential muß von pH=14 auf auf pH=7 korrigiert werden. Statt −0.83 V beträgt es dann nur noch −0.41 V.
Under standard conditions (1 M solutions, 1 atm pressure, 25 °C), the theoretical voltage required for a non-spontaneous electrolytic process is the difference between the cathode and anode potentials.
Ja, so steht es in jedem Lehrbuch. Aus der Angabe geht aber hervor, daß wir eben nicht Standardbedingungen haben, sondern c(H₃O⁺)=c(OH⁻)=10⁻⁷ mol/l.
To produce chlorine gas, we want reaction 1 to occur at the anode.
Die Frage ist aber: Kriegen wir das auch, und warum? Hier schwindelt sich Gemini drüber, weil er nicht sagen will, welche Reaktion abläuft und warum, sondern nur die Frage wiederholt. Manche Studenten verwenden ähnliche Taktiken bei mündlicher Prüfungen, wenn sie nämlich nicht genug gelernt haben.
At the cathode, the reduction of water (reaction 3) is kinetically favored over the reduction of sodium ions (reaction 4) in aqueous solutions.
Falsch: Das ist ein thermodynamischer, kein kinetischer Effekt. Wenn wir nicht mit absurd hoher Spannung arbeiten, dann reicht die Energie der Elektronen nicht aus, das Na⁺ zu reduzieren.
Therefore, the overall reaction for the electrolysis of brine to produce chlorine and hydrogen gas is:
2 NaCl (aq) + 2 H₂O (l) → Cl₂ (g) + H₂ (g) + 2 NaOH (aq)
Ja, aber warum, und wie hängt das mit der Spannung zusammen.
The theoretical minimum voltage (Ecell∘) can be calculated as:
Ecell∘ = Ecathode∘ − Eanode∘
Ecell∘ = (−0.83 V) − (+1.36 V) = −2.19 V
Das stimmt abgesehen davon daß die 0.83 V der falsche Zahlenwert sind.
The negative sign indicates that the reaction is non-spontaneous, and a minimum of 2.19 V must be applied to drive this electrolysis under standard conditions.
Ja, das ist die richtige Erklärung zum falschen Zahlenwert.
Wie jeder gute Winkeladvokat erklärt Gemini im einem kurzen Anhang, das nicht vom Gesagten relevant, verbindlich oder belastungsfähig ist. Unter anderem steht da:
The standard electrode potentials are based on 1 M concentrations. The voltage required will change with the concentration of the sodium chloride solution (brine). Higher chloride concentrations favor the oxidation of chloride ions to chlorine gas.
Dᴜ Nᴜᴅᴇʟᴀᴜɢ! Fasel nicht über den sehr kleinen Effekt der Cl⁻-Konzentration, wenn Du über den riesigen Effekt des pH-Wertes schweigst.
Dann habe ich Gemini mit einer Nachfrage unter Druck gesetzt:
Did you consider in this answer that a sodium chloride solution has pH=7?
und bekam eine Entschuldigung — wie bei einem mindervorbereiteten Studenten, den man bei einem Blödsinn erwischt hat:
You are absolutely right to point that out! My apologies for not explicitly addressing the pH of the sodium chloride solution and its implications in the initial calculation.
Nach ein bißchen weiterem Geschwafel versuchte Gemini dann, das Sauerstoffpotential um den pH zu korrigieren. Ich mach das jetzt als Screenshot:
Hier wurden zwei tödliche Fehler gemacht:
- 8.314⋅298/(4⋅96485) ist 0.00642 und nicht wie von Gemini behauptet 0.0148. Mit ein bißchen Gegrübel kann ich erraten, daß da irgendwie ein Faktor ln(10)≈2.3 hineingeschustert wurde — das wird oft gemacht, um den Logarithmus im hinteren Teil von natürlich auf dekadisch zu wechseln, aber Gemini bleibt beim ln.
- Der zweite Fehler ist subtiler: Die Reaktionsgleichung ist als Oxidation formuliert, aber wir berechnen ein Reduktionspotential. Deshalb ist das Vorzeichen des Korrekturterms falsch, oder anders gesagt, der Konzentrationsquotient müßte durch seinen Kehrwert ersetzt werden.
- Statt 1.23 − 0.0148 ⋅ (−64.4) = 2.18 müßte es also lauten 1.23 − 0.00642 ⋅ (+64.4) = 0.82
- Knapp daneben ist auch vorbei
At pH 7, the potential for oxygen evolution is significantly higher than its standard potential, making chlorine evolution more favorable at the anode, provided the chloride concentration is sufficiently high.
Ahh, Fehlerkompensation! Auch das kenne ich von unfähigen Studenten: Man erzählt so lange Blödsinn, bis sich die Fehler wegeheben. Ja, es bildet sich wirklich Chlor. Aber nicht deswegen, weil der Sauerstoff dieses hohe Phantasiepotential von 2.18 V hätte, sondern weil zum niedrigen Sauerstoffpotentials von nur 0.82 V noch eine riesige Überspannung dazukommt.
Bizarrerweise wird das um den pH-Wert korrigierte Wasserstoffpotential richtig berechnet; den Fehler mit der Reaktionsgleichung (Oxidation vs, Reduktion) macht er diesmal naturgemäß nicht, weil es sich ja um eine Reduktion handelt, und aus unverständlichen Gründen schusselt er auch kein ln(10) in den Vorfaktor:
Considering the potentials at approximately pH 7:
Anode (Chlorine Evolution): ≈ +1.36 V (primarily dependent on chloride concentration)
Cathode (Hydrogen Evolution): ≈ −0.41 V
The theoretical minimum voltage would then be:
Ecell=Ecathode−Eanode=(−0.41V)−(+1.36V)=−1.77 V
So, das ist jetzt richtig, weil das falsch berechnete Sauerstoffpotential ohnehin nirgendwo in die Rechnung eingeht. Aber im nächsten Satz gibt es wieder einen Schlag in die Magengrube:
So, considering a neutral starting pH, the theoretical minimum voltage appears to be lower than the 2.19 V calculated using standard potentials where the oxygen evolution reaction was implicitly favored at the anode under standard conditions.
Er hat also seine falschen 2.19 V aus der ersten Frage zu den richtigen 1.77 V korrigiert. Aber beides wurde als Differenz des Chlorpotentials und des Wasserstoffpotentials berechnet; der Sauerstoff ging in keine der beiden Zahlen ein. Der Unterschied kommt nur dadurch zustande, daß das Wasserstoffpotential beim ersten mal bei pH=14 und beim zweiten mal bei pH=7 genommen wurde.
Conclusio: Kompetenter Chemiker ≫ Google Gemini