Ich bin auf einen Artikel der Zeugen Jehovas gestoßen („Wann wurde Jerusalem in alter Zeit zerstört?“ – Wachtturm 1.11.2011), in dem sie ausführlich darlegen, warum sie das Jahr 607 v. Chr. als Zeitpunkt der Zerstörung Jerusalems durch Babylon annehmen. Laut gängiger Geschichtsschreibung fand dieses Ereignis aber 587/586 v. Chr. statt. Das ist ein Unterschied von 20 Jahren – und kein kleines Detail, denn bei den Zeugen Jehovas hängt davon die Lehre vom Jahr 1914 und der „unsichtbaren Wiederkunft Christi“ ab.
Die Zeugen Jehovas argumentieren im Wesentlichen so:
Die Bibel spricht von 70 Jahren Exil (z. B. Jeremia 25:11, Daniel 9:2), also müsse die Zerstörung 70 Jahre vor dem Ende des Exils (537 v. Chr.) stattgefunden haben – also 607.
Die weltliche Geschichtsschreibung basiere auf unvollständigen oder unzuverlässigen Quellen (Ptolemäus, babylonische Tafeln etc.).
Es gäbe astronomische Hinweise (z. B. auf der Tafel VAT 4956), die auch mit einem früheren Jahr (588 v. Chr.) übereinstimmen könnten – was 607 stützen würde.
Daher solle man der Bibel mehr vertrauen als weltlichen Historikern.
Dem gegenüber steht die historische Forschung, die auf folgenden Grundlagen beruht:
Zeitgenössische Keilschrifttexte aus Babylon, inklusive Geschäftstafeln und astronomischer Aufzeichnungen
Ein gut rekonstruierter neubabylonischer Königskalender
Chronologische Übereinstimmungen mit ägyptischen, persischen und griechischen Quellen
Archäologische Funde und Synchronismen mit anderen bekannten Ereignissen
VAT 4956 z. B. passt exakt ins Jahr 568/567 v. Chr. – das 37. Jahr Nebukadnezars – was das 18. Jahr (Zerstörung Jerusalems) auf 587/586 datiert.
Die Wissenschaft geht also von einer breiten Quellengrundlage aus – unabhängig von religiösen Interessen. Die Zeugen Jehovas hingegen leiten ihr Datum aus der Annahme von genau 70 Jahren Exil ab und passen dann alle Daten entsprechend an – was unter Historikern als Zirkelschluss gilt.
Hinzu kommt: Die „70 Jahre“ könnten biblisch betrachtet auch symbolisch oder gerundet gemeint sein – oder sich nicht nur auf das Exil selbst, sondern auf die gesamte Zeit babylonischer Vorherrschaft beziehen. Dafür gibt es im Bibeltext Hinweise.