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--- Leserbrief Anfang ---
Wer gendert, geht einer „fehlerhaften Deutung des Genus-Systems“ auf den Leim, unterstellt Ehegartner. Er hat damit insofern Recht, als, wer Wörter wie Salzstreuer gendern wollte, dem Irrtum unterläge, die grammatische Kategorie Genus hätte immer etwas mit Geschlecht zu tun. Einem vollkommen anderen, aber ebenso reduktionistischen Irrtum sitzt auf, wer annimmt, Genus hätte nie etwas mit Geschlecht zu tun. In der Linguistik wird das Phänomen als Genus-Sexus-Korrelation beschrieben: Bei Personenbezeichnungen korreliert das maskuline Genus meist mit Männlichkeit (Opa), das feminine mit Weiblichkeit (Oma). Dieses Prinzip hat sich über Jahrtausende herausgebildet und ist heute im Deutschen bei Menschen so zuverlässig, dass Genus zum Ausdruck von Geschlecht genutzt werden kann: Dass die Alte eine Frau ist, wird allein am Genus deutlich. Eine der ersten Fragen, denen sich die Linguistik diesbezüglich seit den Siebzigerjahren gewidmet hat, ist die, ob sich unser unbewusstes Wissen um diese Regelmäßigkeit aushebeln lässt – oder ob auch dann, wenn jemand mit einem maskulinen Substantiv alle Geschlechter meint, eine Bedeutungskomponente ‚männlich‘ vorhanden ist. Hier ist es angebracht, den dritten Irrtum zu vermeiden: Eine Linguistin kann sich auch als Aktivistin betätigen, Empfehlungen geben und appellieren – als Wissenschaft arbeitet die Genderlinguistik jedoch deskriptiv, empirisch und methodisch vielfältig. Die bisherigen Ergebnisse sind komplex und können hier nur angedeutet werden: In unserem Denken führt die Korrelation von personenbezeichnenden Maskulina mit ‚Männlichkeit‘ zu einem Verzerrungseffekt - dem Male Bias. Das zeigen zahlreiche Studien und Experimente. Die Bedeutungskomponente ‚männlich‘ wird dabei umso relevanter, je konkreter über eine bestimmte Person gesprochen wird. Auch unser Weltwissen trägt dazu bei, wie stark die Verzerrung ist. Mit diesen Befunden mögen die kompetenten Sprachnutzer nun anfangen, was sie möchten. Wir – wissenschaftliche Mitarbeitende in der Linguistik – werden es ihnen nicht vorschreiben.
Dr. Dominic Schmitz, Englische Sprachwissenschaft, Universität Düsseldorf
Dr. Aline Siegenthaler, Germanistische Linguistik und Fremdsprachendidaktik, Universität Genf und Freiburg
Jakob Böhm, Sprachgeschichte des Deutschen, Universität Leipzig
Hanna Bruns, Englische Sprachwissenschaft, Universität Bonn
Mx Gaul, Anthropologische Linguistik, Universität Bremen
Carlos Hartmann, Englische Sprachwissenschaft, Universität Zürich
Paul Meuleneers, Germanistische Linguistik, Freiburg
Samira Ochs, Empirische Genderlinguistik, Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Mannheim
Anne Rosar, Germanistische Linguistik, Mainz
Hannah Sawall, Linguistik, EUV Frankfurt (Oder)
Carla Sökefeld, Germanistische Linguistik, Universität Hamburg
Tanja Stevanovic, Germanistische Linguistik, Universität Hamburg
Lena Völkening, Germanistische Linguistik, Universität Oldenburg
--- Leserbrief Ende ---