Abknickende Vorfahrtsstraße folgen oder rechts verlassen, wen muss ich rüberlassen?
Szenario 1:
Ich verlasse die abknickende Vorfahrtsstraße nach RECHTS (Radfahrer will gerade aus fahren):
Szenario 2: Ich folge der abknickenden Vorfahrtsstraße (Fußgänger vorne):
Szenario 3: Ich folge der abknickenden Vorfahrtsstraße (Fußgänger hinten):
Quelle: Google Maps
In welchem Szenario muss ich den Fußgänger rüber lassen?
Nur bei Szenario 3 oder? Bei Szenario 2 bin ich ja noch nicht abgebogen? Oder bei Szenario 2 und 3?
4 Antworten
Szenario 1:
Du musst den Radfahrer durchfahren lassen. Das Verlassen der Vorfahrtstraße gilt als Abbiegen und daher gilt § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO:
Wer abbiegen will, muss entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen, Schienenfahrzeuge, Fahrräder mit Hilfsmotor, Fahrräder und Elektrokleinstfahrzeuge auch dann, wenn sie auf oder neben der Fahrbahn in der gleichen Richtung fahren.
Szenario 3:
Der Fußgänger hat Vorrang (Anlage 3, lfd. Nr. 2.1 StVO):
Auf den Fußgängerverkehr ist besondere Rücksicht zu nehmen. Wenn nötig, muss gewartet werden.
Szenario 2:
Man kann darüber diskutieren, ob die Regelung aus Szenario 3 auch schon am Beginn der abknickenden Vorfahrt Anwendung findet.
Ich persönlich sehe das nicht so, weil ich das analog zu einer "normalen" Einmündung bewerte. Auch dort muss der Fußgänger, der "meine" Fahrbahn vor mir überquert (also vor dem Abbiegen) warten. Nur die Fußgänger, die am Ende meines Abbiegevorgangs die Fahrbahn überqueren (also auf der Fahrbahn, in die ich einbiege) haben Vorrang.
Außerdem würde die Anwendung von Szenario 3 dazu führen, dass für diejenigen, die der Vorfahrtstreße folgen, eine Wartepflicht entsteht, für diejenigen, die nach rechts abbiegen wollen aber nicht.
Ich sehe hier daher einen Vorrang des Autofahrers.
So, wie ich das erkennen kann, in keinem.
Du hast den falschen Fall abgebildet. Sinngemäß zu DEINEM Film müsste das Auto von rechts kommen - und dann müssten die Fußgänger warten.
In Szenario 1 hat der Radfahrer Vorrang, weil er der Hauptstraße folgt und du abbiegst, § 9 Abs. 3 S. 1 StVO.
In Szenario 2 und 3 hast du Vorrang, weil du der Hauptstraße folgst.. Darfst den Fußgänger aber selbstverständlich nicht überfahren, wenn der losläuft.
Urteile:
BayObLG (Beschluss vom 08.03.1972 - RReg 6 St 662/71 OWi): "Wer dem abknickenden Verlauf der Vorfahrtstraße folgt, ändert zwar seine Fahrtrichtung, biegt aber nicht ab im rechtstechnischen Sinn"
BayObLG (Beschluss vom 30.12.1985 - 2 Ob OWi 291/85): "Da der dem bekannt gegebenen Verlauf der Vorfahrtstraße folgende Verkehrsteilnehmer nicht abbiegt"
OLG Oldenburg (Beschluss vom 14.01.1999 - Ss 506/98): "Will ein Verkehrsteilnehmer die nach links abknickende Vorfahrtstraße geradeausfahrend verlassen, ändert sich zwar nicht seine Fahrtrichtung, er biegt aber im Rechtssinne ab"
In Szenario 3 haben die Fußgänger Vorrang aufgrund von Anlage 3 lfd. Nr. 2.1 StVO
Auf den Fußgängerverkehr ist besondere Rücksicht zu nehmen. Wenn nötig, muss gewartet werden.
Auf den Fußgängerverkehr ist besondere Rücksicht zu nehmen. Wenn nötig, muss gewartet werden.
Rücksichtnahme ≠ Vorrang.
Das mit der Rücksichtnahme ist das, was ich schon schrieb:
Darfst den Fußgänger aber selbstverständlich nicht überfahren, wenn der losläuft.
Würde Rücksichtnahme bedeuten, dass man denen Vorrang einräumen muss, würde § 1 Abs. 1 StVO:
Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
bedeuten: "Alle anderen haben Vorrang vor mir."
In Satz 1 geht es um andere Fahrzeuge, nicht um Fußgänger. Woraus ergibt sich für dich die Vorrang-Regelung beim Abbiegen, wenn nicht durch Satz 3?
Du hast scheinbar noch nie die Bedeutung von i.V.m. im juristischen Sinne gehört oder verstanden. Das war nicht umsonst fett markiert. Du musst beide Sätze in Verbindung bringen und dann die Erst-Recht Methode nutzen.
Da Satz 1 besagt, dass andere Fahrzeuge durchgelassen werden müssen und gleichzeitig Satz 3 sagt, dass auf Fußgänger beim Abbiegen besonders zu achten ist, erschließt sich in der gemeinsamen Verbindung dieser Sätze, dass auf Fußgänger als schwächerer Verkehrsteilnehmer erst recht Vorrang haben beim Abbiegen, wenn schon auf Fahrzeuge Vorrang haben und man auf diese somit achten muss. (Argumentum a maiore ad minus)
https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_a_maiore_ad_minus#Juristische_Beispiele
Wenn schon das gesamte Testament gemäß § 2255 BGB durch Vernichtung oder Veränderung widerrufen werden kann, dann ist das erst recht auch für Teile davon möglich.
Auch hier steht nicht explizit in § 2255 BGB dass Teile eines Testaments widerrufen werden können, sondern es ist vom Testament an sich die Rede.
Rücksichtnahme ≠ Vorrang
Der Vorrang in § 9 und Anlage 3 ergibt sich insbesondere aus dem Teil "wenn nötig, ist zu warten".
Der Wortlaut in Anlage 3 ist nahezu identisch mit § 9 Abs. 3 StVO und das OLG Hamm spricht dabei durchaus von Vorrang, mindestens aber von vorrangähnlicher Stellung.
Würde Rücksichtnahme bedeuten, dass man denen Vorrang einräumen muss, ...
In § 1 fehlt der Teil mit dem "wenn nötig, ist zu warten".
Du hast scheinbar noch nie die Bedeutung von i.V.m. im juristischen Sinne gehört oder verstanden.
Natürlich habe ich das schon mal gehört, aber in diesem Fall konnte ich keine sinnvolle Verbindung erkennen.
Deine Erklärung ist grammatikalisch ausbaufähig, aber ich glaube, ich habe deine Kernaussage herauslesen können (leichte Übertreibung).
Ich verstehe jetzt aber immer noch nicht, wie du den Unterschied zur abknickenden Vorfahrt begründest.
Ich verstehe jetzt aber immer noch nicht, wie du den Unterschied zur abknickenden Vorfahrt begründest.
Die "erst recht" Rechtsanwendung geht beim Abbiegen wegen § 9 Abs. 3 S. 1 StVO. Nach diesem muss man den Gegenverkehr durchlassen. Bei der abknickenden Vorfahrtsstraße muss man aber gerade nicht den Gegenverkehr durchlassen. Da dieser Teil wegfällt, entfällt zutreffenderweise auch die "erst recht"-abgeleitete Vorrangregel (die Verbindung bei "in Verbindung mit").
Der Wortlaut in Anlage 3 ist nahezu identisch mit § 9 Abs. 3 StVO und das OLG Hamm spricht dabei durchaus von Vorrang, mindestens aber von vorrangähnlicher Stellung.
Du hast korrekterweise von § 9 Abs. 3 StVO insgesamt gesprochen und nicht nur von § 9 Abs. 3 S. 3 StVO alleine. Der Vorrang aus S. 3 erfolgt nur aufgrund der Verbindung mit S. 1. Dazu habe ich aber schon ausführlich in den folgenden Kommentaren Stellung bezogen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und zur Vermeidung von Redundanzen verzichte ich auf eine Wiederholung des selben Textes.
Ohne den S. 1, den es bei der Anlage 3 nicht gibt, ergibt sich auch in Ermangelung an der "erst recht" Folge kein Vorrang. Genau deswegen kann man das Urteil des OLG Hamm, welches sich auf § 9 Abs. 3 S. 3 bezieht nicht losgelöst auf die Anlage 3 anwenden, da bei der abknickenden Vorfahrtsstraße § 9 Abs. 3 S. 1 StVO als Ableitungsgrundlage fehlt.
Du hast korrekterweise von § 9 Abs. 3 StVO insgesamt gesprochen und nicht nur von § 9 Abs. 3 S. 3 StVO alleine.
Das Urteil leitet den Vorrang ausschließlich aus Satz 3 her, ohne Verbindung mit Satz 1.
Du ignorierts die Bedeutung der Phrase "wenn nötig, ist zu warten". Das ist eine Muss-Vorschrift ("ist") und verpflichtet den Autofahrer zum Anhalten, wenn ein Fußgänger die Fahrbahn überqueren möchte.
Der Erst-recht-Schluss wird häufig jedoch auch zur Täuschung eingesetzt: Er überzeugt formal, aber nicht inhaltlich. Voraussetzung für einen Erst-recht-Schluss ist immer,
- dass die zu vergleichenden Fälle tatsächlich in einem Größenverhältnis und nicht in einem aliud-Verhältnis stehen
- und außerdem eine Regelungslücke besteht, die vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt wurde.
- Fußgänger sind nicht "kleiner" als der Fahrverkehr. Beides sind vollwertige aber eben andersartige Verkehrsteilnehmer mit unterschiedlichen Regeln. Da sie anders (aliud) sind, verbietet sich die Erst-recht-Methode.
- Es besteht auch keine Regelungslücke, denn durch die Formulierung "wenn nötig, ist zu warten" ist eine Regelung getroffen worden. Auch aus diesem Grund verbietet sich also die Erst-recht-Methode.
Im Übrigen ist es auch egal, ob man es Vorrang, vorrangähnlich oder gar nicht benennt. Jedenfalls muss der Autofahrer in Szenario 3 warten, wenn ein Fußgänger die Fahrbahn überquert. Nicht umsonst sieht es nahezu das gesamte Internet auch so.
https://youtu.be/96xJyx5Bb-0?si=Zj_lVa-xOe88vcAk
ist das video falsch erklärt?
Das gilt auch bei einer abknickenden Vorfahrtstraße. Überquert diese ein Fußgänger, so hat dieser dort ebenfalls Vorrang vor dem dem Straßenverlauf folgenden Verkehr. Ein Hinweis den man hier ruhig hätte anbringen können - die meisten Fahrzeugführer haben davon keinen Schimmer." was ist mit diesem kommentar?
Keine Ahnung woher der Kommentartor seine Quelle bezieht. Ich habe dir nachlesbare Gerichtsurteile aus dem Verkehrsrecht genannt.
ist das video falsch erklärt?
Ja offensichtlich. Alleine dass er da vom Abbiegen spricht, obwohl das Folgen der abknickenden Vorfahrtstraße kein Abbiegen ist (BayObLG (Beschluss vom 08.03.1972 - RReg 6 St 662/71 OWi) und Beschluss vom 30.12.1985 - 2 Ob OWi 291/85). Außerdem spricht er am Anfang von den normalen Vorrangregeln. Seit wann haben normalerweise Fußgänger Vorrang, wenn sie die Hauptstraße queren wollen angenommen die würde keinen Bogen machen?
"Das gilt auch bei einer abknickenden Vorfahrtstraße. Überquert diese ein Fußgänger, so hat dieser dort ebenfalls Vorrang vor dem dem Straßenverlauf folgenden Verkehr. Ein Hinweis den man hier ruhig hätte anbringen können - die meisten Fahrzeugführer haben davon keinen Schimmer." was ist mit diesem kommentar?
Beim Szenario 1 musst Du dem Radfahren Vorfahrt gewähren, weil er ja auf der Vorrangstraße bleibt und deren Richtung beibehält, während Du im Begriff bist, diese (nach rechts) zu verlassen.
Bei den beiden anderen Szenarien (2+3) hat Du Vorfahrt.
Einerseits bleibst Du auf der Vorrangstraße, andererseits haben die Fußgänger (egal ob hinten oder vorne befindlich) auf dieser Kreuzung keinen Schutzweg bzw. Zebrastreifen zur Verfügung und müssen daher auf sich annähernde Fahrzeuge achten, bevor sie die Fahrbahn überqueren.
https://youtu.be/96xJyx5Bb-0?si=Zj_lVa-xOe88vcAk