Kann ein Staat funktionieren, in dem Judikative und Legislative verschmolzen sind?
TL;DR: Der von mir vorgestellte Staat kennt nur ein Grundgesetz, das grundlegende Richtlinien der Staatlichkeit und des Zusammenlebens definiert. Alle anderen Gesetze werden nicht von einem Parlament beschlossen, sondern gehen implizit aus vergangenen Gerichtsurteilen (Präzedenzfällen) hervor.
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Ein "Gesetz" wird vorgeschlagen, indem eine Anzeige gegen einen Sachverhalt erstattet wird. Daraufhin fällt ein Richter ein Urteil, das sich am Grundgesetz orientiert. Es gilt auch für alle folgenden Fälle der Art und wirkt somit wie ein Gesetz.
Das Gericht darf in späteren Fällen der selben Art nur in begründeten Ausnahmen ein neues Urteil fällen. Das neue Urteil wirkt dabei wie eine Gesetzesänderung. Es muss begründet werden, inwiefern das neue Urteil eine bessere Verwirklichung des Grundgesetzes darstellt.
Um sicherzustellen, dass auch für noch nicht eingetretene Sachverhalte Präzedenzfälle geschaffen werden können, wird die Möglichkeit hinzugefügt, einen potenziell auftretenden Fall anzuziegen. Die Anzeige richtet sich dann nicht gegen eine Person / Unternehmen, sondern zielt auf die Schärfung der (aus den vergangenen Urteilen hervorgehenden) Rechtslage ab.
Es gibt in meinem Staat keine Legislative, sondern nur eine Judikative. Zur möglichst demokratischen Gestaltung des Systems schlage ich allerdings vor, dass die Richter vom Volk direkt gewählt werden. Die (durch Präzedenzfälle erfolgende) "Gesetzgebung" orientiert sich somit am Willen des Volkes, ähnlich wie bei einer repräsentativen Demokratie.
Ein solcher Staat hätte einige Vorteile:
- Viel flexibler
- Praxisorientierte Rechtsprechung: Dies sorgt dafür, dass es anders als in einem klassischen Staat keine theoretischen, abstrakten Regelungen gibt, die die Lebensrealität verfehlen.
- Demokratisierung der Justiz durch direkte Wahl der Richter: Dies erschwert eine Machtergreifung über die Justiz
- Weniger Bürokratie durch Verschmelzung von Legislative und Judikative bei gleichzeitiger Wahrung demokratischer Legitimation
- Die Illusion einer gegenseitigen Kontrolle von Legislative und Judikative wird beendet: Da in einem klassischen Staat die Richter von der Legislative eingesetzt werden, ist die Idee einer Unabhängigkeit dieser beiden Gewalten sowieso Wunschdenken. Wer beißt schon in die fütternde Hand? Durch die Verschmelzung von Legislative und Judikative wird dem Volk wenigstens die vollständige, direkte Kontrolle über den entstehenden Apparat zurückgegeben.
- Stärkung der Partizipation des Volks: Wenn diese Verschmelzung aus Legis- und Judikative dann grundgesetzfeindlich handelt, dann kann das Volk ganz einfach neue Vertreter wählen! In meinem Staat wird die Legis- bzw. Judikative also vom Volk, von der kollektiven Intelligenz, kontrolliert (und nicht die Legislative von einer - mit eigenen Leuten besetzten - Judikative), was den Staat resilienter machen sollte. Natürlich bedeutet das, dass die Menschen dazu in der Lage sind, den eigenen Staat problemlos abzuschaffen. Dazu muss aber gesagt sein, dass das auch in von einer Judikative überwachten Gesetzgebung so ist: Denn wenn das Volk diese Judikative mehrheitlich ablehnt, dann haben die Beschlüsse der Judikative sowieso keinen Wert mehr. Die wehrhafte Demokratie ist nur so lange wehrhaft, wie es die Mehrheit der Menschen ist. Eine Demokratie rettet man nicht durch Gerichtsbeschlüsse, sondern durch Bildung und Präventionsarbeit - und die funktioniert auch in meinem Staat wunderbar (solange die Mehrheit der Menschen es will).
- Vermeidung von Lobbyismus durch mehr Transparenz: Da Vertreter direkt vom Volk gewählt (und jederzeit abgewählt) werden können und alle Gesetze in Hinblick auf die Grundgesezkompatibilität begründet werden müssen, kann Lobbyismus besser verhindert werden.
- Positives Menschenbild der Linken wird auf die Probe gestellt: Kommunisten gehen davon aus, dass der Mensch nicht andere ausnutzen, sondern nur die Grundlagen für ein eigenes, erfüllendes Leben schaffen will. Das ist schließlich die Grundvoraussetzung für das Funktionieren von kommunistischen Zielen. Mein Staat stellt dieses Menschenbild auf die Probe, indem er die Gefahr einer Dikatur der Mehrheit birgt.
12 Stimmen
5 Antworten
Sämtliche Vorteile die Du aufführst passen nicht.
Ein solcher Staat versinkt im Chaos.
Während es theoretisch denkbar ist, dass ein Staat auch ohne strikte Gewaltenteilung funktioniert, sind die Risiken einer solchen Konstellation erheblich. Die klare Trennung der Gewalten ist ein zentraler Baustein einer demokratischen Ordnung und schützt die Bürger vor Willkür und Machtmissbrauch.
LG aus Tel Aviv
Der von mir vorgestellte Staat kennt nur ein Grundgesetz, das grundlegende Richtlinien der Staatlichkeit und des Zusammenlebens definiert. Alle anderen Gesetze werden nicht von einem Parlament beschlossen, sondern gehen implizit aus vergangenen Gerichtsurteilen (Präzedenzfällen) hervor.
Dann müsste man entweder ein sehr umfangreiches Grundgesetz schaffen oder sehr viele Rechtsbereiche blieben bis zum Präzidenzurteil in dieser Sache ungeregelt was sicherlich zu großer Rechtsunsicherheit führt.
Das Gericht darf in späteren Fällen der selben Art nur in begründeten Ausnahmen ein neues Urteil fällen.
Das klingt mir so als würdest du die Unabhängigkeit der Richter massiv einschränken wollen. "Der Richter ist frei in der Rechtsfindung" Schon mal gehört?
Um sicherzustellen, dass auch für noch nicht eingetretene Sachverhalte Präzedenzfälle geschaffen werden können, wird die Möglichkeit hinzugefügt, einen potenziell auftretenden Fall anzuziegen. Die Anzeige richtet sich dann nicht gegen eine Person / Unternehmen, sondern zielt auf die Schärfung der (aus den vergangenen Urteilen hervorgehenden) Rechtslage ab.
Tolle Idee. Da werden sicherlich sehr viele Menschen alle möglichen und unmöglichen Situationen geregelt sehen wollen. Das Rechtssystem dürfte kollabieren.
Viel flexibler
Kaum. Wenn erst mal die ganzen Präzidenzurteile gesprochen sind dürfte der Umfang der derzeitgen Gesetzestexte auch erreicht werden. Zudem düften dann Urteile deutlich aufwändiger zu erarbeiten sein, denn es fallen ja auch neben den Gesetzen die Verordnungen weg. Und es gäbe keine Rechtssystematik mehr in der Form das jeder Richter weiss das Fragen zum Straßenverkehrsrecht sich vorwiegend aus dem Straßenverkehrsgesetz und den dazu gehörigen Verordnungen geben. Das Auffinden der "Präzidenzurteile" dürfte schwieriger sein als den Gesetzestext im einschlägigen Buch.
Zudem wird durch deine Äusserung oben, das nur bedingt vom Präzidenzurteil abgewichen werden darf das ganze eher noch starrer als flexibler.
Dies sorgt dafür, dass es anders als in einem klassischen Staat keine theoretischen, abstrakten Regelungen gibt, die die Lebensrealität verfehlen.
Kann ich mir nichts drunter vorstellen. Hast du da ein konkretes Beispiel aus der Praxis?
Vermeidung von Lobbyismus durch mehr Transparenz: Da Vertreter direkt vom Volk gewählt (und jederzeit abgewählt) werden können und alle Gesetze in Hinblick auf die Grundgesezkompatibilität begründet werden müssen, kann Lobbyismus besser verhindert werden.
Das dürfte sicher dazu führen das Richter um wiedergewählt zu werden eher Gefälligkeitsurteile fällen. Das macht mir Bauchschmerzen.
Kurzum: Schnappsidee.
Das Auffinden der "Präzidenzurteile" dürfte schwieriger sein als den Gesetzestext im einschlägigen Buch.
Auch die Präzedenzurteile würden wahrscheinlich sehr bald von Verlegern in Büchern organisiert und kategorisiert werden. Man könnte sie auch von vornerein kategorisieren und durchnummieren.
Zudem wird durch deine Äusserung oben, das nur bedingt vom Präzidenzurteil abgewichen werden darf das ganze eher noch starrer als flexibler.
Nein. Das Abweichen von bzw. Ändern eines Präzedenzurteils wäre nicht starrer als das Ändern eines Gesetzes.
Das dürfte sicher dazu führen das Richter um wiedergewählt zu werden eher Gefälligkeitsurteile fällen ...
Ich dachte, das demokratische Prinzip fußt auf einem Vertrauen in die kollektive Intelligenz der Menschen?
Wenn ja, dann geht aus dem Prinzip doch hervor, dass die kollektive Intelligenz des Volks, also die wählenden Menschen, diese Ungerechtigkeit erkennen und entsprechende Richter nicht wiederwählen.
Wer der Meinung ist, dass die Menschen dazu nicht fähig sind und ihnen so die Kompetenz zur sinnvollen Entscheidungsfindung abspricht, der positioniert sich also auch gegen die Demokratie an sich!
Nein, da die Präzidenzurteile schon zu Stunde Null gefällt werden können.
Da braucht man aber ein kleines bisschen Vorlaufzeit. So 50-100 Jahre schätze ich.
Man könnte bei Einführung des Staats die Bürger darauf hinweisen, dass sie bitte alle Unklarheiten, die sie betreffen, jetzt als potenziell eintretende Sachverhalte anzeigen sollen.
Da fielen mir schon für meinen privaten Bereich einige Hundert Sachverhalte ein die ich geklärt haben müsste. Vertragsrecht, Verkehrsrecht, Versicherungsrecht, Steuerrecht, Arbeitsrecht, Mietrecht und so weiter.
Mit "begründete Einzelfälle" will ich ganz einfach ausdrücken, dass der Richter keine willkürlichen Urteile fällen darf, sondern seine Urteile immer am Gesetz (also bei mir am Grundgesetz) begründen muss. Das ist auch bei uns in DE schon heute so.
Dann sehe ich den angeblichen Vorteil ja noch weniger.
Man könnte zum Verhindern eines Kollabierens einrichten, dass nur eingetragene Vereine solche Anzeigen gegen einen potenziellen Sachverhalt einreichen dürfen, und eine Obergrenze für die Anzahl solcher Anzeigen einführen.
Das würde dann wohl dazu führen das viele Rechtsfragen unklar bleiben. Weniger Rechtssicherheit für die Bürger.
Aktuell gibt es viele unnötige Gesetze
Welche zum Beispiel?
Das würde dann wohl dazu führen das viele Rechtsfragen unklar bleiben
Nein, denn eine wirklich relevante Rechtsfrage wird definitiv mehr als 10.000 Menschen interessieren. In meinem Staat können diese Menschen - anders als in der BRD - eine Klärung dieser Rechtsfrage erzwingen. Das sorgt für mehr Klarheit
Dann sehe ich den angeblichen Vorteil ja noch weniger.
In meinem Staat dürfte aber anders als in DE nur das Grundgesetz, also ein Leitbuch mit grundlegenden Prinzipien, zur Urteilsfindung bzw. indirekten Gesetzgebung herangezogen werden.
Der Vorteil meines Staats besteht darin, dass die explizite Gesetzgebung der Legislative mit der impliziten Gesetzgebung der Judikative auf demokratische Art und Weise vereint wird. Die dabei entstehende Instanz nutzt als Richtlinien die Schnittmenge der Richtlinien, an die sich Judikative und Legislative beide zu halten haben - nämlich das Grundgesetz.
Da fielen mir schon für meinen privaten Bereich einige Hundert Sachverhalte ein die ich geklärt haben müsste
Das kann ja alles geschehen, noch bevor die neue Staatsorganisation tatsächlich in Kraft tritt. Man könnte einen einjährigen Übergangszeitraum einrichten
Ich finde es ja spannend zu sehen dass du behauptest es gäbe viele unnötige Gesetze aber du kannst kein einziges konkretes Beispiel nennen.
Nein, eine strikte Gewaltenteilung in die Gesetzgebung, Rechtsprechung und in die vollziehende Gewalt, ist absolut richtig und wichtig. Sie sorgt dafür, dass keine Institutionen zu viel Macht im Staat erhält, indem diese sich gegenseitig überwachen und kontrollieren. In Deutschland, besteht eine solche Gewaltenteilung und dafür, gibt es auch sehr gute Gründe!. Allerdings, könnte man durchaus sagen, dass ein Teil von deiner Vorstellung bereits so existiert, denn die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE) mit Sitz in Karlsruhe, haben durchaus Gesetzeskraft. Sie binden die Gesetzgebung, die anderen Gerichte, auch die fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes und auch die vollziehende Gewalt. Das Bundesverfassungsgericht, kann auch dem Gesetzgeber Vorschriften für den Übergangszeitraum bis zum Erlass eines neuen, verfassungskonformen Gesetzes machen. Sein Maßstab, ist das Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland (BRD). Was es entscheidet, das gilt. Ja, der Gesetzgeber kann das Grundgesetz mit einer Mehrheit von zwei Dritteln im deutschen Bundestag und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates weitestgehend abändern, mit Ausnahme von den in Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätzen, das kann er jedoch auch nicht in einem unbegrenzten Maße tun. Es gibt nämlich auch noch das sogenannte "verfassungswidrige Verfassungsrecht", ein in juristischer Hinsicht enorm kompliziertes Thema das im Kern allerdings bedeutet, dass der Gesetzgeber die Verfassung, das Grundgesetz nicht nach belieben einfach abändern kann, weil auch bestimmte Verfassungsänderungen verfassungswidrig sein können.
Mfg
Aha, und die Judikative ist ja auch richtig unabhängig, wenn die Richter von der Legislative eingesetzt werden ...
Wenn ein Großteil der Menschen möchte, dass Art. 1 bis 20 abgeändert werden, dann wird das auch geschehen, egal was im GG steht. Ein Staat hat schließlich keinen Wert mehr, wenn die Menschen nicht mehr hinter ihm stehen. Von daher kann man die Judikative auch gleich demokratisch organisieren bzw. mit der Legislative vereinen, und so die implizite Gesetzgebung durch Präzedenzfälle mit der expliziten Gesetzgebung der Legislative verschmelzen
Ja, funktionieren würde er sicher. Das wäre dann aber keine Demokratie...
Doch, da die gesetzgebende Gewalt demokratisch legitimiert ist
Nein, da die Präzidenzurteile schon zu Stunde Null gefällt werden können. Es gibt ja schließlich in meinem Staat die Möglichkeit, auch potentiell eintretende Sachverhalte anzuklagen, um ein Urteil zu erzeugen und so Rechtssicherheit zu schaffen. Man könnte bei Einführung des Staats die Bürger darauf hinweisen, dass sie bitte alle Unklarheiten, die sie betreffen, jetzt als potenziell eintretende Sachverhalte anzeigen sollen.
Mit "begründete Einzelfälle" will ich ganz einfach ausdrücken, dass der Richter keine willkürlichen Urteile fällen darf, sondern seine Urteile immer am Gesetz (also bei mir am Grundgesetz) begründen muss. Das ist auch bei uns in DE schon heute so.
Man könnte zum Verhindern eines Kollabierens einrichten, dass nur eingetragene Vereine solche Anzeigen gegen einen potenziellen Sachverhalt einreichen dürfen, dass eine solche Anzeige eine Mindestanzahl an Teilnehmern (z.B. 10.000 Teilnehmer) haben muss, und eine Obergrenze für die Anzahl solcher Anzeigen einführen.
Ja, aber die Präzedenzurteile bilden dann nur Fälle ab, bei denen es auch tatsächlich Menschen gibt, die diese Situation betrifft und somit notwendig sind. Aktuell gibt es viele unnötige Gesetze