Stand ein niedriger Geistlicher über hohen Adeligen in der Ständegesellschaft?

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Denkfehler aus der Moderne

Du machst eigentlich einen typischen Denkfehler vieler heutiger Menschen in der Moderne. Man überträgt unbewusst heutige Denkweisen und Herangehensweisen auf vergangene Epochen. In diesem Fall machst du zum einen den Fehler die Ordnung der Stände mit konkreter politischer Macht zu verwechseln. Die Ordnung erster und zweiter Stand lässt uns sofort an eine Abstufung von Macht denken. Doch das war überhaupt nicht so. Außerdem ist unser modernes Denken von eindeutigen Zuständigkeitsbereichen, klaren Befehlsstrukturen oder Machtbefugnissen (meist von oben nach unten) klar in deiner Frage zu erkennen. Doch im Mittelalter haben die Menschen völlig anders gedacht und auch politische Macht ging keineswegs nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben oder innerhalb der Ebene vonstatten.

Denn das Mittelalter und der Feudalismus insbesondere ist eine gesellschaftliche Vereinbarung gegenseitiger Verpflichtungen und Abhängigkeiten und weniger eine Hierarchie, wie wir sie begreifen würden. Ein Graf stand nicht automatisch über einen kleinen Abt in einem Kloster - und umgekehrt eben auch nicht. Daher ist die Feudalpyramide auch so irreführend, weil sie eine klare Befehlsstruktur von oben nach unten impliziert, die es so nicht gab.

Der erste Stand war der erste, weil die Angehörigen ihr Leben Gott geweiht haben und dem Dienst an Gott innerhalb der Kirche. Das heißt nicht, dass sie über dem Adel gestanden hätten.

Übrigens gehörten auch alle Studenten dem Klerus an und ein Medikus hatte auch die niederen Weihen empfangen. Darum durfte er als Angehöriger des ersten Standes auch kein Blut vergießen und deshalb nicht operieren. Dies war dann die Aufgabe der Chirurgen, die eben nicht an einer Universität oder woanders studiert hatten.


Miniaturwelt  29.05.2024, 00:36

Uhhh wie schön, jemand mit Expertise.

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Ein Dorfpfarrer hatte nicht viel zu sagen und keine große Bedeutung. Der sollte sich auch nicht mit dem Adel anlegen, insbesondere nicht mit dem höheren Adel. Wirklich Macht und Privilegien hatte nur der höhere Klerus und der wiederum war stark vom Adel durchsetzt. Ganz grob galt die Regel im Adel: der erste Sohn erbt die Güter und den Titel, der zweite Sohn wird Offizier und der dritte Sohn macht Karriere in der Kirche.


ntechde  26.05.2024, 22:42

De erschde krieht de Hof, der zwedde werd Parre un die annere werre Soldate.

So isses in de Palz! :-)

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Die Gesellschaftspyramide, die man aus dem Geschichtsunterricht kennt, darf komplett verworfen werden. Die lässt mehr Fragen aufkommen, als sie beantwortet.

Eigentlich war der Klerus ja über dem Adel und auch ein niedriger Geistlicher wie ein Dorfpfarrer war Angehöriger des Klerus.

Und hatte damit trotzdem keinen besonderen Einfluss auf irdisches Recht und Politik. Der Adelige schon.

Davon abgesehen gibt es quasi keine Dorfpfarrer. Die meisten Dörfer hatten allenfalls eine Kapelle, die zu besonderen Anlässen von Klerikern mit einem Kirchensitz außerhalb der Dorfgemeinschaft, genutzt wurde. Die dörflichen Regionen wurden also einer Kirchengemeinschaft zugeordnet und mussten das bekannte Kirchenzehnt leisten.

Aber stand dieser Dorfpfarrer wirklich in der Ständegesellschaft über einem Kurfrüsten, der ja "nur" Adeliger war?

Nein. So überhaupt nicht. Selbst der Papst wird überschätzt, weil er letzlich begrenztere weltliche Macht hat. Was möchte der Papst denn machen, wenn ein beliebter Kurfürst oder Grad sagt "nix da"? - und solche Geschichten gibt es nicht zu knapp in der Historie.

Nein, der niedere Klerus hatte nichts zu sagen. Ein Bischof war schon eher eine Instanz. Und auch ein Abt eines wichtigen Klosters konnte den Adel beeinflussen!

Seit Luthers Reformation stand die Geistlichkeit in den protestantischen Ländern stets in Diensten des Adels, das war ihr großes Erfolgsmodell.

Ich nehme an, dass sich auch die katholischen Fürsten irgendwann nicht mehr vom Vatikan was sagen lassen wollten.