Marxismus und gesellschaftliche Entwicklung?
Hallo,
ich tue mir schwer, zu verstehen, wie Marxisten das mit dem historischen und dialektischen Materialismus meinen.
Auf mich wirkt das wie Determinismus, da sie ja sagen, dass durch den Gegensatz von Mann und Frau und der Akkumulation von Eigentum vorherbestimmt ist, dass überall, wo dieser auftritt (also über all auf der Erde) es zwangsläufig zu Klassenkampf kommen wird und durch die weitere Steigerung der Produktionsweise und so die Stufen der Gesellschaft universell sind und überall anwendbar. (Ich gehe mal nicht von einer gesonderten chinesischen Produktionsweise aus, aber darüber lässt sich debattieren).
Aber diese Suche nach einer objektiven Wahrheit scheint mir irgendwie seltsam, fast schon religiös. Was ist denn das Maß dieser objektiven Wahrheit, wenn 8 Milliarden Subjekte sie alle anders wahrnehmen. Dafür braucht es doch ein höheres Wesen, oder irgendwas das diese Objektivität definiert. Aber das verneinen Marxisten ja auch, sie sind schließlich evolutionär. Aber die Evolution hat doch kein Ziel, macht was sie will, wie es passt. Ist nicht vorbestimmt.
Zu denken, dass die ganze Welt mit einer Methode erklärt werden kann und dass alles auf den Kommunismus hinausläuft, scheint mir waghalsig und fast wie eine religiöse Erlösung.
Kann es mir jemand erklären?
3 Antworten
Marx Historizistischer Determinismus ist auch unter Sozialist:innen stark umstritten nur nicht das Problem der Akkumulation (nur kann das auch zu anderen Entwicklungen führen wie z.B. Faschismus, als sich selbst Kannibalisierender Kapitalismus etc.) - aber bereits die Tektologie usw. wich vom Historizistischen Ansatz ab - oder um es mit sinngemäß Popper zu sagen "Marx Bedeutung für die Ökonomie ist nicht hoch genug einzuschätzen allerdings hat er die Bedeutung der Ökonomie für die Gesellschaft etwas überschätzt".
Das macht Marx nicht unwichtiger und die von ihm herausgearbeitete Problematik nicht vernachlässigbarer (wenn die Alternative zum Kommunismus z.B. Faschismus sein kann wird es sogar noch dringlicher), aber der Historizismus ist. in meinen Augen eben nicht Marx Stärke...
Mir scheint, du liegst hier einigen leider weit verbreiteten Missverständnissen auf.
Auf mich wirkt das wie Determinismus, da sie ja sagen, dass durch den Gegensatz von Mann und Frau und der Akkumulation von Eigentum vorherbestimmt ist, dass überall, wo dieser auftritt (also über all auf der Erde) es zwangsläufig zu Klassenkampf kommen wird und durch die weitere Steigerung der Produktionsweise und so die Stufen der Gesellschaft universell sind und überall anwendbar.
Der Marxismus ist nicht deterministisch. Er beschreibt die Geschichte nicht als automatisch, sondern als das Ergebnis der objektiven materiellen Bedingungen und des menschlichen Handelns. Das menschliche Handeln ist dabei nicht komplett frei, sondern bewegt sich in einem gewissen Rahmen, der durch die objektiven Bedingungen gesteckt wird. Der Marxismus will dabei durch die Analyse dieser Bedingungen Möglichkeiten und Grenzen des Handelns ausloten, um einen erfolgreichen Kampf im Interesse der Arbeiterklasse zu führen.
Der Kommunismus ist im Marxismus nicht das zwangsläufige Ziel der Geschichte, sondern eine Antwort auf die Widersprüche des Kapitalismus und jeder Klassengesellschaft. Die Vorstellung, dass sich die Geschichte automatisch auf den Sozialismus zubewegt, wurde von der Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende geprägt, die damit ihre rein reformistische Politik rechtfertigen wollte.
Daraus folgt auch, dass die Geschichte nicht überall auf der Welt gleich abläuft. Marx hat die konkrete Entwicklung und Geschichte Westeuropas und insbesondere Englands eingehend untersucht und versucht, davon allgemeine Prinzipien abzuleiten, die die Geschichte bestimmen. Das bedeutet nicht, dass auf anderen Kontinenten die gleiche Abfolge von Sklaverei, Feudalismus und Kapitalismus wie in Europa erfolgen muss. Im Gegenteil waren es gerade Marxisten der späteren Generationen, wie Lenin, Mao, Cabral etc., die darum bemüht waren, die Besonderheiten des globalen Südens zu verstehen, der durch Kolonialismus und Imperialismus zwangsweise und unter ganz anderen Bedingungen als Europa in den globalen Kapitalismus integriert wurde.
Aber diese Suche nach einer objektiven Wahrheit scheint mir irgendwie seltsam, fast schon religiös. Was ist denn das Maß dieser objektiven Wahrheit, wenn 8 Milliarden Subjekte sie alle anders wahrnehmen. Dafür braucht es doch ein höheres Wesen, oder irgendwas das diese Objektivität definiert. Aber das verneinen Marxisten ja auch, sie sind schließlich evolutionär. Aber die Evolution hat doch kein Ziel, macht was sie will, wie es passt. Ist nicht vorbestimmt.
Mit Objektivität sind im Marxismus Dinge gemeint, die unabhängig vom menschlichen Denken real existieren. Menschen mögen unterschiedliche Moral- und Wertvorstellungen haben, aber sie teilen sich eine objektive Realität, z.B. indem sie in das System der Lohnarbeit eingebunden sind. Der Marxismus will diese objektive Realität zur Grundlage seiner Analyse nehmen und sich nicht auf Sichtweisen oder Moralvorstellungen beschränken, weil diese eben subjektiv sind.
Die anderen Sozialisten, die zur Zeit von Marx lebten, begründeten ihre Überzeugung beispielsweise gerne mit einer christlichen Moral - die natürlich nur für diejenigen überhaupt etwas gilt, die einen christlichen Hintergrund haben. So etwas lehnte Marx ausdrücklich ab und wollte die Notwendigkeit des Sozialismus auf eine Weise begründen, die unabhängig von solchen subjektiven Moralvorstellungen und Werturteilen ist. Die objektiven Widersprüche des Kapitalismus und das grundlegende Klasseninteresse des Proletariats - die Aufhebung der Ausbeutung - gelten überall auf der Welt und sind darum die Basis für die marxistische Argumentation.
Zu denken, dass die ganze Welt mit einer Methode erklärt werden kann und dass alles auf den Kommunismus hinausläuft, scheint mir waghalsig und fast wie eine religiöse Erlösung.
Der Marxismus ist eben auch kein Dogma, sondern hat einen wissenschaftlichen Anspruch, und wie jede Wissenschaft ist er kein abgeschlossenes System, sondern gibt uns bestimmte Werkzeuge für die Analyse der Welt an die Hand. Auch die gesamte Naturwissenschaft basiert nur auf einer Handvoll Prinzipien der Erkenntnisgewinnung, und damit lässt sich die gesamte Bandbreite der Naturphänomene vom Atomkern bis zur Biodiversität im Dschungel erforschen. Analog umfasst der Marxismus einige Prinzipien und Methoden, mit denen sich die konkreten Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft in aller ihren Facetten und ihrer Diversität erforschen lassen.
Erst einmal freut es mich, wenn ich dir weiterhelfen konnte.
Ja, ich bin Marxist, möchte mich aber im Moment nicht strikt einer bestimmten Strömung zuordnen.
Aber mich würde interessieren, mit was für Marxisten du geredet hast? Dass die Entwicklung nicht überall gleich abgelaufen ist, ist schließlich eine historische Tatsache, allein durch die Kolonialherrschaft. Den Vorwurf, dass Marxismus eurozentrisch wäre, lehne ich aus den Gründen ab, die ich in meiner ursprünglichen Antwort geschrieben habe. Marx hat seine Analyse und seine Kategorien anhand der europäischen Verhältnisse entwickelt, aber das bedeutet nicht, dass sie schablonenhaft überall angewendet werden können, sondern es ist immer eine Analyse der konkreten Bedingungen notwendig. Wie sollte der Marxismus eurozentrisch sein, wenn er wie keine zweite politische Bewegung den Befreiungskampf in den Kolonien befeuert hat?
Was ich kenne, ist eine Art Stufenschema, wonach in einem kolonialen Land erst eine demokratische Revolution durchgeführt werden müsse, wie sie in Europa im 19. Jahrhundert stattfand, bevor man zur sozialistischen Revolution weiterschreiten kann. So etwas wurde z.B. von Mao mit seiner "neudemokratischen" Revolution vertreten, aber meines Erachtens widerlegt gerade der Verlauf der chinesischen Revolution dieses Stufenschema.
Das Geschwätz vom "Gegensatz von Mann und Frau", der zum Klassenkampf führen soll, ist keinesfalls Bestandteil des klassischen Histomat (historischer Materialismus). Das verbreiteten in den 70-er Jahren so ähnlich obskure feministische Sekten.
Tatsächlich trägt der sog. Diamat (dialektischer Materialismus) dem Materialimus voll entgegengesetzte idealistische bis metaphysische Züge. Die Suche nach der Wahrheit wird nicht von den Erkenntnisgegenständen, stattdessen von methodischen Vorschriften geleitet ("Wahrheitskriterium").
Unglücklicherweise ist es den Apologeten dieses ganzen ideologischen Schweinkrams gelungen, ihr wirres Geschwafel den Leuten als geistiges Produkt des gelehrten Karl Marx zu verkaufen. Hast Du etwa im "Kapital" von Marx einen einzigen (echt original wörtlich belegten) Satz gefunden, der zu kritisieren wäre? Das wäre schier sensationell! Warum bringt das keiner?
Beispiel: Marx soll angeblich dem Bewusstsein das Sein als Primat untergejubelt haben, gewissermaßen als anthropologische Naturkonstante: "Das Sein bestimmt das Bewusstsein". Solcher Nonsens ist aber bei Marx so gar nicht auffindbar, dagegen in Schulbüchern der ehemaligen DDR.
Tatsächlich schrieb Marx einmal (Die Quelle habe ich gerade nicht zur Hand): „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ Dabei kritisiert er den beklagenswerten Zustand der bürgerlichen Gesellschaft, dass die Leute ihre Lebensbedingungen nicht mit Bewusstsein gestalten, sondern stattdessen sich blind den vorgefundenen Gegebenheiten unterwerfen.
Ich bin relativ sicher, dass Engels die Unterdrückung der Frau und das Entstehen von Eigentum miteinander in Verbindung bringt und dass er sogar sagt, dass der Widerspruch zwischen Mann und Frau der erste Klassengegensatz war.
Aber der Rest der Antwort war sehr hilfreich, danke!
Von Engels habe ich wenig gelesen. Ich erinnere mich an "Dialektik der Natur" und stückweise an "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats". In letzterem Werk könnte der genannte Gegensatz auftauchen, aber dann in einem urgeschichtlichem Bezug und keinesfalls, wie in den von mir oben genannten Kreisen, als Grundwiderspruch des Kapitalismus. Das ist hanebüchener Unsinn.
Ja, das klingt auch eher nach einer sehr feministisch beeinflussten Idee. Es kam in dem von dir erwähnten Werk vor, ist aber länger her, dass ich es gelesen hab. Ich glaube, dass er beschreibt, dass die Unterdrückung der Frau ein direktes Produkt des Privateigentums ist, und die Eigentumsverhältnisse gleichzeitig auf diese Unterschiede zurückzuführen sind, insofern dass die damalige Arbeitsteilung dazu geführt hat, dass nur Männer Eigentum besaßen. Muss es aber nochmal nachlesen.
danke :)
Das könnte durchaus bei Engels so ähnlich stehen, dagegen wäre nichts einzuwenden. In urgesellschaftlichen Verhältnissen war die männliche Anatomie gegenüber der weiblichen ja im Vorteil beim Erwerb und der Verteidigung von Privateigentum. Diese Komplementarität begünstigte die Entwicklung der Familie.
Von reichen Frauen haben wir selbst noch aus der Antike wenig gehört, wenn wir einmal absehen von der ägyptischen Kleopatra und Maria Magdalena, der Sünderin im Neuen Testament der christlichen Bibel.
Was du sagst erscheint mir sehr sinnvoll - allerdings habe ich mit vielen Marxisten geredet, die mir alle erklärt haben, dass diese Entwicklung der Gesellschaft über all auf der Erde gleich ablaufen würde und Marx dementsprechend auch nicht eurozentrisch gewesen wäre.
Danke für deine Perspektive. Darf ich fragen, ob du Marxist bist? ML? Neomarxist?