Ja, Liberale legen sich nun mal zur Rechtfertigung der kapitalistischen Verhältnisse eine utopische Fantasiewelt zurecht, in der alle Vertragspartner ihre Entscheidungen in völliger Freiheit und Gleichheit treffen und Zugang zu allen Informationen haben. In der Realität bestehen aber natürlich überall Zwänge und Abhängigkeiten, formale rechtliche Gleichheit garantiert noch keine reale Gleichheit, und ungleicher Tausch ist die Regel statt die Ausnahme.
Eine Wohnung mietet man nicht einfach aus Spaß, sondern weil man ein Dach über dem Kopf braucht, und das in der Regel dringend, und eine Arbeitsstelle tritt man an, um mit dem Lohn seine elementaren Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Auf der anderen Seite besitzt der Mieter Wohnraum, den er selbst nicht zum Leben braucht, sondern der als Ware Rendite abwerfen soll, und für den er hunderte verzweifelte Interessenten finden kann.
Aus dieser ungleichen Lage ergibt sich ein Machtverhältnis, denn es ist der Vermieter, der die Bedingungen weitgehend diktieren kann, und wer damit nicht einverstanden ist, dem droht die Obdachlosigkeit. Ein unter solchen Bedingungen abgeschlossener Vertrag kann ebenso wenig als freiwillig gelten wie einer, der unter Erpressung oder direkter Androhung von Gewalt abgeschlossen wurde. Der einzige Unterschied ist der, dass einem nicht vom Vermieter selbst ein Leid angetan wird, sondern dass die stummen, unpersönlichen Verhältnisse für ihn erledigen.
Der Vertrag im bürgerlichen Recht dient dann dazu, dieses Machtverhältnis zu legitimieren und zu zementieren. Vertragsbruch wird vom Staat, der ein bürgerlicher Klassenstaat ist, geahndet. Formal gilt das wieder sowohl für den Mieter als auch den Vermieter, aber real sieht es wieder ganz anders aus.
Wer hat wohl die höhere Motivation, einen Vertrag überhaupt zu verletzen? Der Mieter, der ihn unter stummem Zwang zu nachteiligen Bedingungen unterzeichnet hat? Oder der Vermieter, der den Vertrag zu seinem eigenen Vorteil ausgestalten konnte?
Wer hat die besseren Möglichkeiten, einen Rechtstreit zu gewinnen? Der Mieter, der immerhin so arm ist, dass er zur Miete wohnen und vermutlich Vollzeit arbeiten muss? Oder der Vermieter, der mit seinem Geld die besten Anwälte bezahlen kann, um ein Verfahren hinauszuzögern, bis der anderen Seite das Geld und die Kraft ausgeht?
Für wen ist die Ahndung eines Vertragsbruchs wohl existenzbedrohender? Für den Mieter, der im Zweifel von der Polizei in die Obdachlosigkeit geprügelt wird? Oder für den Vermieter, der schlimmstenfalls eine Minderung seines Profits hinnehmen muss?
Wer diese rechtliche Absicherung der Verträge als gerecht bezeichnet, wird wohl auch sagen, dass es völlig gerecht ist, wenn einem Obdachlosen und einem Milliardär gleichermaßen verboten ist, unter einer Brücke zu schlafen, Grundnahrungsmittel zu stehlen oder in der Fußgängerzone zu betteln, denn schließlich gilt das Verbot für beide gleichermaßen.