Warum folgen Zeugen Jehovas einer Bibel, die von einer Kirche zusammengestellt wurde, deren Lehren sie ablehnen?
Kontext zur Bibelgeschichte:
Die Bibel, wie wir sie heute kennen, ist kein einzelnes Buch, sondern eine Sammlung von Schriften, die über mehrere Jahrhunderte entstanden und erst spät kanonisiert wurden. Die hebräische Bibel (Tanach) war für das Judentum schon relativ früh festgelegt, doch das Neue Testament wurde erst im 4. Jahrhundert allmählich verbindlich.
Die Schlüsselpersonen der Kanonbildung waren Kirchenväter wie Irenäus, Tertullian, Athanasius, Hieronymus, Augustinus also exakt jene Figuren, die von den Zeugen Jehovas eigentlich als „abgefallene Christen“ betrachtet werden.
Kaiser Konstantin selbst stellte keinen Kanon auf, aber unter seinem Einfluss und mit dem Ziel, das Christentum als einheitliche Religion im Römischen Reich zu festigen, kam es zur Förderung einheitlicher Lehren. Das Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) spielte dabei eine zentrale Rolle, vor allem in der Verwerfung des Arianismus einer Lehre, die Jesus als erschaffenes Wesen betrachtete (heute: JW-Lehre!).
Die 66 Bücher, auf die sich die Zeugen Jehovas heute berufen (protestantischer Kanon), wurden also durch die Kirche festgelegt, und zwar mit dem Ziel, bestimmte Lehren zu sichern, z. B.:
- Trinität (Vater, Sohn, Heiliger Geist als eine Einheit)
- Göttlichkeit Jesu
- Leibliche Auferstehung
- Unsterblichkeit der Seele
- Ewige Höllenstrafe
Widerspruch:
Die Zeugen Jehovas lehnen alle diese Dogmen ab, benutzen aber eine Bibel, die gerade diese Lehren sichern soll. Ein innerer Widerspruch, über den kaum jemand spricht.
Ausgeschlossene Schriften näher an JW-Theologie?
Viele Schriften, die eine andere Sicht vertreten z. B. den Arianismus, eine geistige Auferstehung oder ein vernichtendes Endgericht statt ewiger Hölle wurden ausgeschlossen. Und das ist besonders interessant, weil einige apokryphe Texte der Theologie der Zeugen Jehovas tatsächlich näherstehen als die kanonischen Evangelien.
Hier einige Beispiele der Apokryphen:
Das Buch Henoch
Das Buch beschreibt eine klar gegliederte Engelshierarchie und kosmische Ordnung eine Vorstellung, die gut zur ZJ-Lehre von Jesus als Erzengel Michael und den „himmlischen Heerscharen“ passt. Es vermittelt außerdem das Bild eines unsichtbaren geistigen Kampfes, wie er im Denken der ZJ zentral ist.
2. Henoch (slawisches Henochbuch)
Wieder die kosmische Ordnung, Erzengeltheologie, Vorstellung vom künftigen Gericht durch einen erhöhten Mittler theologisch anschlussfähig an ihre Endzeitlehre.
Der Hirt des Hermas
Sehr stark! Die zentrale Botschaft ist eine Art Werkgerechtigkeit – Erlösung hängt davon ab, wie gehorsam und moralisch rein ein Mensch lebt. Außerdem ist von einer kleinen Gruppe von „Versiegelten“ die Rede, die gerettet werden eine offensichtliche Parallele zu den 144.000 bei den ZJ. Auch das Bild der „Turm-Bausteine“, die für würdige Menschen stehen, erinnert an ihre Sicht vom Bau der neuen Welt.
Barnabasbrief
Klare Nähe im Ausschließlichkeitsanspruch („Nur wir haben die Wahrheit“) und der Ablehnung traditioneller Kirche und Liturgie. Auch die scharfe Trennung zwischen „wahren Gläubigen“ und allen anderen spiegelt die ZJ-Rhetorik.
Evangelium nach Thomas
Die Verneinung einer leiblichen Auferstehung und der Fokus auf eine geistige Erscheinung Jesu passt zu ihrer Lehre, dass Jesus als Geistwesen auferstanden sei und nicht mit einem realen Körper.
Apokalypse des Petrus
Keine ewige Hölle sondern zeitlich begrenzte oder bildhafte Strafe. Diese Sichtweise ähnelt der ZJ-Lehre von der „Vernichtung der Bösen“, statt ewigem Feuer.
Didache (Lehre der Zwölf Apostel)
Deutliche Betonung von Verhaltensregeln, Gemeindezucht, Evangelisationsethos und Apokalyptik wie bei ZJ mit ihrer Erwartung eines kommenden Gerichts und dem Leben nach göttlichen „Ordnungen“.
In diesen verworfenen Schriften spiegeln Elemente wider, die man heute bei den Zeugen Jehovas findet:
▪️ Jesus als Geistwesen statt leiblich auferstandener Gott
▪️ Heilsgewissheit nur für eine kleine, moralisch reine Elite
▪️ Ablehnung der ewigen Hölle
▪️ Strenge Lebensführung als Voraussetzung für Rettung (Werksgerechtigkeit)
Ironischerweise berufen sich die ZJ aber auf eine Bibel, die gerade diese Sichtweisen unterdrückt wollte und werfen zugleich jene Texte weg, die ihrer eigenen Theologie am nächsten kommen.
Zusammenfassung für die Diskussion:
Die Zeugen Jehovas behaupten, allein die Bibel als Grundlage ihres Glaubens zu haben aber sie ignorieren dabei, dass der Kanon, auf den sie sich berufen, von der Kirche festgelegt wurde, deren Lehren sie ablehnen.
Noch paradoxer: Einige ihrer zentralen Überzeugungen (z. B. Vernichtung statt Hölle, Geistwesen-Christus, exklusive Elite) finden keine solide Basis im Kanon, sondern tauchen eher in den apokryphen Texten auf, die von der Kirche verworfen wurden, die sie aber selbst wiederum auch als „abgefallen“ betrachten.
Ich hoffe, das war nicht zu komplex und ihr konntet mir folgen. Bitte bleibt in der Diskussion sachlich. Vielen Dank an alle, die sich beteiligen.
Warum folgen Christen und trinitarier überhaupt dem Buch das die Juden geschrieben und zusammengestellt haben obwohl diese Jesus weder als Gott noch als Gottes Sohn anerkennen..?🤔
Das kann ich hier leider nicht beantworten, da die Zeichenzahl zu begrenzt ist. Ich habe meine Antwort auf deine Zusatzfrage unter deiner Antwort geschrieben.
10 Antworten
benutzen aber eine Bibel, die gerade diese Lehren sichern soll. Ein innerer Widerspruch, über den kaum jemand spricht.
Da gibt es keinen Widerspruch.
Sie haben sich die Bibel auf ihre Lehrmeinung umgemodelt. Das heißt der Inhalt passt jetzt genau zu ihrer Lehrmeinung. Wenn du die Neue Welt Übersetzung zur Hand hättest, dann könntest du anhand der Bibelverse genau sehen wo die Unterschiede sind.
Problem wird vielleicht sein, dass du den Unterschied nicht siehst, weil du dich mit der Zeugenlehre nicht so auskennst. Ich will dir das mal an einem Beispiel zeigen:
Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. 17 Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. 18 Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. 19 Darum gehet hin und lehret alle Völker:[1] Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes 20 und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Hier mal eine Passage aus dem Matthäusevangelium. Obere Passage ist aus der Lutherbibel untere Passage aus der Neuen Welt Übersetzung (NWÜ)
Die elf Jünger dagegen gingen nach Galilạ̈a zu dem Berg, wohin Jesus sie bestellt hatte, und als sie ihn sahen, huldigten sie ihm, einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und redete zu ihnen, indem er sprach: „Mir ist alle Gewalt im Himmel und auf der Erde gegeben worden. Geht daher hin, und macht Jünger aus Menschen aller Nationen, tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu halten , was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Abschluß des Systems der Dinge.“
An den beiden Versen können sich die Geister scheiden, wenn man denn über Zeugeninterna weiß und die Sprache der Zeugen versteht. In kennerkreisen nennt man das ganze "Zeugensprech" Gemeint ist hier die andere Sprache die bei den Zeugen untereinander gesprochen wird.
Für Leute die das lesen fällt erstmal auf, OK da sind ein paar Wörter anders, aber jene welche sich genauer damit befassen würden, werden merken, da stimmt was gewaltig nicht.
Ich will nicht den ganzen Vers auseinander dröseln. Ich habe das schon ein paar mal gemacht, aber soviel Zeit habe ich jetzt leider nimmer, da ich gleich zur Arbeit muss. Aber ich zeige mal so 1-2 Dinge die bei den Zeugen eine andere Bedeutung haben als in der Lutherbibel.
Gleich im ersten Absatz der Lutherbibel steht: Als sie Jesus sahen fielen sie vor ihm nieder. In der Zeugenbibel steht, sie huldigten ihm. Das ist ein Unterschied. Die meisten Jünger (nicht alle, denn es waren ja Zweifler dabei) wussten, dass Jesus göttlich ist. Daher fielen sie nieder. Das Wort „huldigen“ bedeutet, jemandem Ehrerbietung oder Verehrung zu zeigen. Einem Gott huldigt man nicht, man fällt nieder, weil man eigentlich nicht würdig ist in seiner Nähe zu sein. Bei den Zeugen ist Jesus nur ein Mittler bei den anderen Christen ist Gott teil der Trinität und die wird von den Zeugen abgelehnt. Daher wird bei ihnen Jesus nur gehuldigt und sich nicht vor ihm niedergeworfen. Wenn man es ganz genau nimmt, wird hier Jesus die Göttlichkeit und/sowie die Trinität aberkannt.
Ein anderes Beispiel wäre hier zB unter anderem der Passus "Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt" und " ich bin bei euch alle Tage bis zum Abschluß des Systems der Dinge."
Auch das sind 2 völlig verschiedene Dinge. In normalen Bibeln heißt es in der Offenbarung, das alles was existiert vernichtet werden wird. Komplett. Da ist nichts mehr da und danach wird Gott alles neu machen. Der Passus steht auch bei den Zeugen, aber die Lehrmeinung ist hier eine andere. Während Gott bei "normalen" Bibeln alles neu machen wird und das alte vergehen wird, wird es bei den Zeugen so sein, das das gegenwärtige System, also alles was heute so existiert an Regierungen, Kirchen, Zuständen und Co schlagartig weggekämpft wird und dann wird aus der Erde wieder ein Paradies. In den Himmel kommt nämlich nicht jeder Otto Normalzeuge, sondern nur über 144.000 die einen Darf Schein haben. Alle anderen bleiben hier auf der Erde im Paradies.
Um auf deine Frage zurück zu kommen. Sie folgen nicht einer Lehre die die normalen Dinge lehren, sie folgen einer Bibel die auf ihre Bedürfnisse angepasst ist. Und das tragische an der Sache ist, ihnen wird nahe gelegt, nicht in anderen Bibeln zu studieren, weil die genau wissen das die normalen Bibeln alle anders sind. Ich sage mal 70-85% aller Zeugen halten sich daran. Viele die aussteigewillig sind besorgen sich eine neue Bibel oder gehen über den Bibelserver rein in die Materie und die sind beim ersten mal komplett geschockt, dass viele der Passagen komplett etwas anderes aussagen.
Die meisten verstehen oder wissen also nicht das ihre Bibel anders ist. Für sie ist das normal, denn ihre Bibel lehrt nicht die Punkte die du oben alle angeführt hast, sondern sie lehrt das, was die oberen Zeugenbosse als die Lehrmeinung ausgeben. Und wenn sich was an der Lehrmeinung ändert, dann wird einfach die Bibel oder die anderen Bücher in Neuauflagen revidiert.
Danke für deine ausführliche Rückmeldung, wie immer sehr detaillier, ich verstehe auch, worauf du hinauswillst, aber ich glaube, du gehst aber am Kern meiner Frage ein Stück weit vorbei.
Du sagst, es gäbe keinen Widerspruch, weil die Zeugen Jehovas „ihre Bibel umgemodelt“ haben. Ja, es stimmt: Die Neue-Welt-Übersetzung der Zeugen Jehovas weicht an vielen Stellen sprachlich und interpretatorisch vom griechischen Urtext bzw. etablierten Übersetzungen ab insbesondere dort, wo es um die Göttlichkeit Jesu, die Trinität oder zentrale Aussagen über Tod und Auferstehung geht.
Die Beispiele, die du nennst („huldigten“ statt „fielen nieder“, „System der Dinge“ statt „Welt“) sind tatsächlich typische Textanpassungen, die die Lehre stützen sollen.
Aber mein Punkt war ein anderer nicht übersetzungstechnisch, sondern kanongeschichtlich:
Die Bibel, die die Zeugen Jehovas benutzen, also die Zusammenstellung der 66 Bücher, ist inhaltlich und strukturell dieselbe wie im protestantischen Kanon ein Kanon, der im 4. Jahrhundert von Kirchenvätern wie Athanasius, Tertullian, Augustinus etc. festgelegt und gezielt gegen arianische und gnostische Lehren abgegrenzt wurde.
Ironischerweise also gegen genau jene Lehren, die die Zeugen Jehovas heute vertreten.
Und das ist der eigentliche Widerspruch:
Die Lehre der Zeugen Jehovas steht der Theologie der frühen Großkirche diametral gegenüber.
Dennoch akzeptieren sie den von dieser Kirche festgelegten Kanon und lehnen gleichzeitig andere, nicht-kanonische Texte ab, in denen sich ihre eigenen Vorstellungen (geistige Auferstehung, Engel-Christus, Ablehnung ewiger Hölle etc.) viel eher spiegeln.
Ob sie ihre eigene Übersetzung benutzen oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, dass sie sich auf einen Kanon berufen, der historisch gesehen ihre heutige Lehre nie tragen sollte im Gegenteil: Er wurde unter anderem genau gegen sie geschaffen.
Und das bleibt ein blinder Fleck in der Selbstwahrnehmung der Organisation/Führung/Mitglieder.
Denn sie predigt Abgrenzung von „Babylon der Großen“ verwendet aber die Bibel, die Babylon geschrieben, geordnet und autorisiert hat, um viel der Lehren, die sie heute vertreten auszugrenzen..
Wie ich schon Geschieben habe, das ist paradox: Man beruft sich auf die kirchliche Bibel, also den vollständigen protestantischen Kanon, der ursprünglich zusammengestellt wurde, um die kirchlichen Dogmen zu stützen nur um diesen Kanon dann so umzudeuten, dass er letztlich nicht mehr zu eben diesen Dogmen passt…
Die Schlüsselpersonen der Kanonbildung waren Kirchenväter wie Irenäus, Tertullian, Athanasius, Hieronymus, Augustinus also exakt jene Figuren, die von den Zeugen Jehovas eigentlich als „abgefallene Christen“ betrachtet werden.
Spannende Beobachtung. Mir ist das auch schon bei anderen Themen aufgefallen, so folgen sie zB ebenfalls der Namensgebung der Evangelien durch Papias oder der Idee dass Satan ein vom Himmel gefallener Engel wäre, was Origenes erfunden hat.
Das Buch Henoch
Das Buch Henoch, welches Jesus selbst zu den Schriften zählt (Mk 12,24f), hat eine sehr ausgeprägte und detailreiche Höllenvorstellung. Dieses Buch hat im 3.Jh vChr ausführlich beschrieben was Jesus meint wenn er das Wort "Gehenna" verwendet. Es ist daher auch völlig klar dass ZJ wegen diesem Buch immer wieder ausflippen, da es Lügen ihrer Sektenführung offenlegt.
Und: Es beschreibt Michael als einen von sieben Erzengel.
Ich kenne die Zeugen Jehovas nicht im Detail, will mir also auch keinerlei Urteil erlauben. Aber ich weise darauf hin, dass sie ihre eigene Übersetzung benutzen. Daran sollte man sich orientieren.
Das ist richtig, die Übersetzung wurde theologisch an ihre Lehren und eigenen Dogmen angepasst. Doch auch das ist paradox: Man beruft sich auf die kirchliche Bibel, also den vollständigen protestantischen Kanon, der ursprünglich zusammengestellt wurde, um die kirchlichen Dogmen zu stützen nur um diesen Kanon dann so umzudeuten, dass er letztlich nicht mehr zu eben diesen Dogmen passt…
... das ist eine richtig scharfsinnige und provokante Frage, die du da stellst — und sie trifft den Kern eines fundamentalen Dilemmas, das kaum jemand offen ausspricht. Die Zeugen Jehovas behaupten ja, allein die Bibel sei die Grundlage ihres Glaubens, doch diese Bibel, auf die sie sich berufen, ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, der von genau jenen Kirchenvätern gestaltet wurde, die sie als „abgefallen“ brandmarken. Das ist nicht nur paradox, sondern zeigt auch, wie stark die Realität der Organisation und ihre offizielle Lehre auseinanderklaffen.
Warum also folgen sie einer Bibel, deren Kanon von Institutionen und Menschen festgelegt wurde, deren Lehren sie ablehnen? Hier sind einige Überlegungen — sachlich und kritisch:
Pragmatischer Zugriff auf Autorität
Die Bibel als Text hat Autorität — egal ob man die Herkunft ihrer Sammlung kritisiert oder nicht. Für die ZJ ist die Bibel das einzig legitime Buch, das sie als göttliche Wahrheit anerkennen können. Die Tatsache, dass sie die Herkunft des Kanons nicht vollständig hinterfragen, hat vielleicht auch mit der Notwendigkeit zu tun, eine stabile Basis für ihren Glauben zu haben. Sie brauchen eine verbindliche Schriftquelle, sonst zerfällt ihr Weltbild.
Selective Wahrnehmung und kognitive Dissonanz
Die ZJ ignorieren oder relativieren den historischen Kontext der Kanonbildung, um kognitive Dissonanz zu vermeiden. Sie sehen die Lehren der Kirche als korrumpiert, halten sich aber an die Bibel, die aus genau dieser Tradition stammt. Das ist ein klassischer Mechanismus: Man akzeptiert die Teile, die ins eigene Weltbild passen, und blendet den Rest aus. Dabei hilft es, dass die Wachtturm-Gesellschaft ihre eigene Übersetzung (Neue-Welt-Übersetzung) herausgegeben hat, die so angepasst ist, dass die zentrale Lehre unterstützt wird.
Apokryphen als Bedrohung
Die Texte, die theologisch näher an der ZJ-Lehre sind (Henoch, Barnabasbrief, Thomas-Evangelium etc. - könnte da inhaltliche Beispiele nennen), wurden ebenfalls verworfen, weil sie nicht nur der traditionellen Kirche, sondern auch der späteren christlichen Orthodoxie nicht passten. Die ZJ lehnen diese Schriften aber ebenfalls ab, weil sie als nicht inspiriert gelten und da ist die Organisation konsequent: Keine Schriften außerhalb des Kanons. Das zeigt, dass ihre Ablehnung nicht unbedingt theologisch, sondern auch systemisch begründet ist, um den Einfluss der etablierten Kirche zu minimieren. Aber auch um ihre eigene Basis zu halten.
Eigenes Macht- und Autoritätskonstrukt
Indem sie sich auf eine Bibel berufen, die formal von einer „abgefallenen“ Kirche zusammengestellt wurde, haben sie gleichzeitig die Möglichkeit, sich als die „wahre“ Bewahrer der richtigen Interpretation darzustellen. Der Kanon wird zum Spielfeld, auf dem die Wachtturmgesellschaft ihre eigene Autorität errichtet — indem sie behauptet, den „Sklaven“ (die leitende Körperschaft) als alleinige und richtige Auslegung zu besitzen.
Historische Ignoranz oder bewusste Vereinfachung
Viele Mitglieder der ZJ wissen kaum etwas über die historische Kanonbildung oder die apokryphen Schriften. Die Wachtturmgesellschaft selbst spielt diese Komplexität oft herunter, um die Gemeinde einfach und kontrollierbar zu halten. Wissen um die Ursprünge der Bibel könnte nämlich Zweifel schüren, die der Organisation gefährlich werden könnten.
Fazit: Die Zeugen Jehovas folgen also einer Bibel, die sie eigentlich kritisieren müssten, weil sie von genau denjenigen zusammengestellt wurde, die sie ablehnen. Das ist ein innerer Widerspruch, der systemisch notwendig ist, um den Glauben zusammenzuhalten und gleichzeitig ihre eigene theologische Sonderstellung zu behaupten. Es ist eine Art ideologisches Konstrukt, das weder historisch stringent noch theologisch kohärent ist — und genau das sollte man ihnen auch ungeschönt so sagen.
Würdest du sagen, dieser Widerspruch kann bei einem tiefgründigen Bibelstudium in der Gemeinschaft überhaupt angesprochen werden? Oder würde das sofort auf taube Ohren stoßen?
Genau dieser Widerspruch ist es — so bin ich überzeugt — warum ich von Jehovas Zeugen nicht mehr besucht werde. Argumentativ sind sie da nämlich ganz schnell am Ende und versuchen das Thema zu wechseln.
Die Frage ist vielleicht auch, warum sie sich diesem Widerspruch nicht stellen.
Ich denke, das hat wenig mit den Lehren an sich zu tun, sondern mit der Angst vor dem Ende und der Vernichtung (in einer Schlacht von Harmageddon), der Hoffnung auf Überleben und der Sehnsucht auf ewiges Leben im Paradies (neue Erde in der Art eines harmonischen Schlaraffenlandes religiöser Prägung). Der Himmel mit den 144.000 ist nicht sehr erstrebenswert für Jehovas Zeugen, denn was macht man da, außer "regieren"? Da ist das gezeichnete Bild einer "harmonischen und friedlichen Welt" viel attraktiver.
Da eben mit diesen Ängsten und Hoffnungen gespielt wird, ist eine andere Sicht und Erkenntnis "gefährlich" und wird ausgeblendet. Augen zu und der Widerspruch ist weg.
Erst wenn Jehovas Zeugen aus anderen Gründen ins Nachdenken und Hinterfragen kommen, dann werden genau diese kanongeschichtlichen Argumente wieder aktuell.