Weil die Bibel kein einfaches Buch ist und weil Auslegung nie neutral ist.
Die Bibel ist keine systematische Offenbarung, sondern ein vielschichtiger Textkomplex, der über viele Jahrhunderte hinweg in unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und historischen Situationen entstanden ist. Manche Texte stehen nebeneinander, andere bauen aufeinander auf wieder andere widersprechen sich implizit oder sprechen aus völlig unterschiedlichen Perspektiven.
Wer versucht, aus dieser Sammlung eine klare, einheitliche Theologie abzuleiten, muss interpretieren und genau hier scheiden sich die Geister.
Denn die Art, wie man die Bibel liest, sagt oft mehr über den Leser aus als über den Text selbst.
Hier eine kurze Übersicht über die fünf wichtigsten „Zugänge“ zur Bibel es gibt natürlich noch mehr, aber diese helfen, die Unterschiede zu verstehen:
1. Exegese (wissenschaftlich-kontextuelle Auslegung)- Ziel: den ursprünglichen Sinn eines Textes erfassen im sprachlichen, historischen und kulturellen Kontext
- Methode: Quellenkritik, Archäologie, Vergleich antiker Texte
- Vertreter: theologische Fakultäten, Bibelwissenschaftler, viele evangelische Kirchen
- Ergebnis: differenziert, mehrdimensional, manchmal offen für Mehrdeutigkeiten
- Ziel: die Bibel als wörtlich inspiriertes und fehlerfreies Lehrbuch lesen
- Methode: einzelne Verse werden isoliert herausgegriffen und verabsolutiert
- Vertreter: Evangelikale, Zeugen Jehovas, konservative Freikirchen
- Ergebnis: klar und geschlossen aber oft theologisch und logisch problematisch
- Ziel: die Bibel im Licht kirchlicher Lehren verstehen
- Methode: Auslegungstradition hat Vorrang vor historischem Kontext
- Vertreter: Katholische Kirche, Orthodoxie, viele Alt-Konfessionelle
- Ergebnis: stabil, traditionsorientiert, aber selten offen für neue Erkenntnisse
- Ziel: innere, persönliche oder symbolische Bedeutungen erschließen
- Methode: Allegorien, „geistliche“ Lesarten, subjektive Deutung
- Vertreter: Mystiker, Esoterik-nahe Gruppen, charismatische Bewegungen
- Ergebnis: inspirierend, aber schwer überprüfbar
- Ziel: den Text für den Alltag „brauchbar“ machen
- Methode: Auswahl einzelner Verse mit moralischer oder psychologischer Anwendung
- Vertreter: Laien, Gemeindepraxis, Alltagsfrömmigkeit
- Ergebnis: lebensnah, aber oft kontextlos und selektiv
Die Idee, dass man aus ihr eine lückenlose Theologie ableiten kann, ist eine spätere Erfindung. Die Bibel ist kein dogmatisches Handbuch, sondern ein vielstimmiger Kanon. Themen wie Dreieinigkeit, Hölle, Auferstehung oder Erbsünde sind nicht eindeutig geregelt und werden je nach Schule ganz unterschiedlich interpretiert.
2. Weil Auslegung oft nicht dem Verstehen dient, sondern der Kontrolle.Wer behauptet, nur wir haben die richtige Auslegung, erhebt einen Anspruch auf Autorität. Besonders Gruppen mit einem starken Wahrheitsanspruch nutzen Bibelauslegung nicht zur Offenheit sondern zur Abgrenzung. Wer „die Wahrheit hat“, braucht keine Diskussion mehr.
3. Weil Exklusivität Loyalität erzeugt.Je exklusiver eine Auslegung, desto stärker die Bindung an die Gruppe. Die Lehre der Zeugen Jehovas z. B. ist fast vollständig darauf ausgerichtet, die eigene Sonderstellung zu beweisen mit Hilfe einer sehr selektiven, organisationsgesteuerten Bibelauslegung.
4. Weil Tradition oft stärker ist als Logik.Viele Christen glauben nicht, weil sie überzeugt wurden sondern weil sie so aufgewachsen sind. Wer von Kind an in einem System lernt, dass z. B. die Dreieinigkeit biblisch sei, wird sie „sehen“, auch wenn der Begriff nie vorkommt. Andere, wie die Zeugen Jehovas, „sehen“ das genaue Gegenteil mit denselben Texten.
5. Weil Auslegung auch vom Zeitgeist abhängt.Viele Themen, die heute als biblisch gelten, wurden historisch angepasst: z. B. die Rolle der Frau, Sexualethik, Höllenvorstellungen, Sklaverei. Die Bibel wird dabei selten im Original gelesen sondern durch die Brille dessen, was gerade gesellschaftlich erwartet oder gebraucht wird.
Die Bibel ist kein Diktat, sondern ein Dialog. Und wer so tut, als gäbe es nur die eine wörtlich richtige Auslegung, verfolgt meist keine theologische, sondern eine ideologische Absicht.
„Gott sagt“ ist oft nur die fromme Verpackung für: „Wir wollen, dass du gehorchst.“