Wie findet ihr den heutigen Ansatz Erkrankungen/Störungen als normale Abweichung von der Norm/Diversität zu definieren, selbst wenn sie zu Leidensdruck führen?
27 Stimmen
Wie kommst du zu der Behauptung, dass es der heutige Ansatz sei Erkrankungen/Störungen als normale Abweichung von der Norm zu definieren?
Das erlebe ich so.
9 Antworten
Kommt halt auf die Erkrankung und den Leidensdruck drauf an.
Ich selber betrachte mein Tourette Syndrom einfach als einen Teil von mir und finde es verletzend, wenn es jemand „wegmachen“ will (was ja eh nicht geht) wie eine Infektion oder so.
(Wobei mir aber natürlich weiterhin bewusst ist, dass es eine Störung ist)
Ja. Tourette zum Beispiel. Was ich da mit „wegmachen“ meine, sind so tolle „Ratschläge“, dass ich mir die Tics ja mal wieder „abgewöhnen“ könnte.
Es gibt Erkrankungen, die nicht heilbar, aber glücklicherweise gut zu therapieren sind, z.b. RLS, Psoriasis, Diabetes Mellitus Typ I, paranoide Schizophrenie ...... etc. Bei einer paranoiden Schizophrenie müssen die entsprechenden Medikamente auf Dauer und regelmäßig genommen werden, um ein Rezidiv zu verhindern.
Thematik Krebs!
Die Heilungraten von Krebs hängen von differenzierten Faktoren ab > Art des Krebses, Stadium, ob der Primärtumor schon metastasiert hat etc.
Es stehen relevante Therapien zur Verfügung:
OP,
differenzierte Chemotherapien. Mit einem sogenannten Down Staging > kombinierte Radio/Chemotherapie kann man ein großes Karzinom so verkleinern, dass eine Operabilität gegeben ist,
punktgenaue Strahlentherapie. Auf Grund dessen wird das umliegende Gewebe geschont,
Immuntherapien mit den entsprechenden Medikamenten, wie monoklonale Antikörper.
Fakt > ein Cacinoma in Situ ist immer besser zu heilen/zu therapieren, wie ein metastasiertes Karzinom.
Beispiel! Die Heilungsrate bei Kindern mit akuter lymphatischer Leukämie liegt heutzutage bei über 95 Prozent. Davon hat man in früheren Zeiten geträumt.
Das Konzept von Neurodiversität oder Neurodivergenz kann einerseits eine Entstigmatisierung und damit eine große Entlastung sein. Von daher ist es zu begrüßen.
Mann muss dennoch aufpassen, dass bestimmte Störungsbilder (zum Beispiel Autismus, nur für den kann ich sprechen) damit nicht banalisiert und trivialisiert werden, so dass der reale Leidensdruck nicht mehr mehr gesehen wird.
Und was ich als größte Gefahr sehe: Nur für eine Diagnose bzw einen Zustand, der als „Störung“ definiert ist, gibt es Therapien, Nachteilsausgleiche oder Schwerbehindertenausweise. Auf diese Hilfen wiederum sind viele Betroffene dringend angewiesen. Wenn ich argumentieren würde, Autismus wäre keine Störung und keine Behinderung, dann würde ich – bildlich gesprochen – an dem Ast sägen, auf dem ich selber sitze.
Von daher muss man aufpassen, dass gut gemeinte Begriff für Neurodiversität oder Neurodivergenz nicht zur starren Ideologie werden, die sich am Ende gegen diejenigen richtet, denen man damit eigentlich etwas Gutes tun möchte. Hört sich vielleicht hart an, aber vielleicht verstehst du, was ich damit sagen will.
Zusammenfassend kann ich sagen: Ein klares schwarz oder weiß gibt es für mich in dieser Frage nicht. Es kommt immer darauf an, in welchem Zusammenhang und mit welcher Absicht man bestimmte Begriffe verwendet.
Wegen deiner bisherigen Fragen nehme ich an, dass du dich auf Autismus beziehst.
Autismus führt in der Regel nicht zu Leidensdruck, wenn autistische Menschen akzeptiert und nicht diskriminiert werden. Autistische Menschen werden jedoch oft gemobbt und haben oft eine Traumastörung. Viele leiden an Depressionen. Einige entwickeln eine Essstörung. Einige haben eine Zwangsstörung. Das alles sind Krankheiten, und diese können behandelt werden.
Manche autistische Menschen sind außerdem geistig behindert. Auch das ist eine Krankheit, sie kann aber nicht behandelt werden. Es gibt kein Mittel, das eine geistige Behinderung heilt. Genauso ist es ja auch bei Blinden, Gehörlosen oder Gehbehinderten. Wir können diese Behinderungen in der Regel nicht heilen, aber wir können den Betroffenen helfen, im Alltag zurecht zu kommen, z.B. durch barrierefreie Architektur.
Autismus führt in der Regel nicht zu Leidensdruck
Das ist falsch.
Wenn z.B. Hypersensibilität vorliegt, dann kann bereits ein "schöner sonniger Tag mit Vogelgesang" zu erheblichem Leidensdruck führen, weil das grelle Sonnenlicht in den Augen schmerzt und einem die Vögel viel zu laut sind.
Hypersensibilität betrifft aber längst nicht alle autistischen Menschen, und Autismus ist nicht die einzige mögliche Ursache.
Schätzungen zufolge sind 15-20% der Bevölkerung hochsensibel.
Autismus und Hypersensibilität sind also als zwei separate Diagnosen zu betrachten, die häufig miteinander auftreten. Genauso wie z.B. Übergewicht und Diabetes: Nicht jeder Mensch mit Übergewicht hat Diabetes, und nicht jeder Diabetiker ist übergewichtig. Das sind zwei völlig verschiedene Erkrankungen.
Abgesehen davon kannst du, wenn dir die Sonne in den Augen schmerzt, eine Sonnenbrille tragen.
Hypersensibilität betrifft aber längst nicht alle autistischen Menschen, und Autismus ist nicht die einzige mögliche Ursache.
Die meisten Autisten sind entweder hyper- oder hyposensibel.
Schätzungen zufolge sind 15-20% der Bevölkerung hochsensibel.
Nach der neuen Definition von Autismus sind Hochsensible vermutlich autistisch.
Außerdem war es nur ein Beispiel für Leidensdruck bei Autisten ohne Diskriminierung und Mobbing durch andere.
Wennn du so argumentierst, sind aber alle Menschen krank, weil sie im Sommer unter der Hitze leiden.
Was tun wir, wenn es uns im Sommer zu heiß ist? Wir gehen in den Schatten oder in ein kühles Gebäude, wir essen Eis, gehen Schwimmen, etc.
Jemand, der hypersensibel ist, kann ebenso unangenehme Reize vermeiden, z.B. durch Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung.
Autisten haben andere Stärken und Schwächen als nicht-Autisten. Wenn du nur die Schwächen betrachtest und die Stärken komplett ignorierst, kannst du schon zu dem Schluss kommen, dass es eine Krankheit ist. Das ist ja auch das Problem in der Medizin.
Wenn du nur die Schwächen betrachtest und die Stärken komplett ignorierst,
Tue ich ja gar nicht. Nur der Leidensdruck von Autisten kann eben erheblich sein (z.B. häufige Kopfschmerzen, Migräne, Magen-Darm-Beschwerden, Ein- und Durchschlafprobleme, Neigung zu Autoimmunerkrankungen, Hautprobleme, dazu noch alles auf der sozialen Ebene). Und ohne Behinderung im Alltag in bestimmten Bereichen des Lebens bekommt man auch gar keine Autismusdiagnose!
häufige Kopfschmerzen, Migräne, Magen-Darm-Beschwerden, Ein- und Durchschlafprobleme, Neigung zu Autoimmunerkrankungen, Hautprobleme,
Und Menschen, die nicht autistisch sind, können auch alle diese Erkrankungen haben.
Was du beschreibst, nennt sich Komorbidität. Aber nur, weil Autismus häufig mit verschiedenen Krankheiten auftritt, ist Autismus nicht unbedingt eine Krankheit.
Ich bin autistisch. Ich habe Hautprobleme, eine Schlafstörung, ich war lange schwer depressiv und habe laut meiner Therapeutin eine soziale Phobie. Ich weiß also, wovon ich rede. Zufällig kenne ich auch andere autistische Menschen, die vergleichbare gesundheitliche Probleme haben oder hatten. Aber auch Leute, die nicht autistisch sind, haben oft verschiedene Probleme. Du kannst nicht einfach sagen, dass Autismus an allen meinen Problemen Schuld ist.
Dass Autisten häufiger Schlafprobleme o.ä. haben, ist bloß eine Korrelation.
Ich bin vermutlich selbst autistisch (bislang nicht diagnostiziert) und es stört mich nicht, wenn man es als Erkrankung bezeichnet, denn das ist es für mich und ich leide deswegen.
Ich habe ehrlich gesagt den Eindruck, du willst dir Autismus auf Teufel komm raus schönreden, was ich recht dämlich finde.
Wegen deiner bisherigen Fragen nehme ich an, dass du dich auf Autismus beziehst.
Könnte man meinen, stimmt so aber nicht. Tatsächlich ist die Frage generell gemeint.
Die Antwort ist aber je nach Diagnose unterschiedlich. Zum Beispiel würde niemand auf die Idee kommen, eine Borderline-Persönlichkeitsstörung als "normal" hinzunehmen und zu akzeptieren. Menschen mit BPS brauchen in der Regel Therapie und Medikation.
Es gibt aber auch Dinge, die unnötig stigmatisiert werden oder wurden.
Früher wurde zum Beispiel Homosexualität als Störung betrachtet. Es wurde versucht, diese zu "heilen". Heute wissen wir, dass das nicht möglich ist, und dass Homosexualität nichts Ungewöhnliches ist.
Genauso ist es bei Transgeschlechtlichkeit. Viele Transpersonen haben zwar Geschlechtsdysphorie, und diese ist als Krankheit anerkannt, deswegen werden geschlechtsangleichende Maßnahmen auch von Krankenkassen bezahlt. Transgeschlechtlichkeit allein ist aber keine Krankheit oder Störung.
Es ist auch eine "Abweichung von der Norm", mehr als 10 Zehen zu haben (Polydaktylie). Und das kann auch zu Leidensdruck führen, wenn man keine geeigneten Schuhe trägt. Abgesehen davon ist es aber völlig unproblematisch. Sollte man Polydaktylie als Krankheit einstufen, nur weil Schuhe typischerweise nicht dafür ausgelegt sind? Das ist – wie so vieles – ein gesellschaftliches Problem, kein medizinisches.
ADHS ist insofern besonders, dass es dafür Medikamente gibt, z.B. Methylphenidat. Diese helfen auch bei 75% der Menschen mit ADHS. Bei Menschen, die sowohl ADHS als auch Autismus haben, helfen sie nur in 49% der Fälle. Es spricht aber nichts dagegen, sie auszuprobieren. Wenn man feststellt, dass es einem damit besser geht, ist es gut. Ansonsten setzt man sie wieder ab.
Ob etwas behandelbar ist oder nicht, ist ein ganz wichtiger Unterschied. Wenn es nicht behandelbar ist, muss ich es akzeptieren. So ist es bei Autismus – sogenannte Konversionstherapien, die versuchen, Autismus zu heilen, richten viel Schaden an und helfen nicht wirklich. Wer hingegen an etwas leidet, das sich behandeln lässt, muss es nicht akzeptieren.
Autismus kann in bestimmten Fällen durch psychotherapeutische Begleitung, eine soziale Betreuung oder auch durch Logopädie und Physiotherapie verbessert werden. Es bleibt aber eine lebenslange neurologische Störung.
Übrigens sind Personen, die sich selbst als Transgender bezeichnen, überdurchschnittlich häufig autistisch.
Autismus kann in bestimmten Fällen durch psychotherapeutische Begleitung, eine soziale Betreuung oder auch durch Logopädie und Physiotherapie verbessert werden
Autisten können spezielle Hilfe (z.B. Logopädie) benötigen, um bestimmte Fähigkeiten zu erwerben. Dabei wird aber nicht Autismus geheilt.
Psychotherapie, die Autismus heilen oder "verbessern" will, führt nur dazu, dass die Patienten ihre autistischen Symptome besser verbergen. Sie kann gegen Mobbing helfen, aber medizinisch gesehen ist sie völlig ineffektiv. Sie hilft nicht gegen Hypersensibilität, sie sorgt nicht dafür, dass Autisten schneller oder "normaler" denken und verbessert auch nicht exekutive Funktionen. Sie erreicht nur, dass sich die Eltern freuen, weil ihr Kind normaler wirkt.
Psychotherapie kann bei psychischen Erkrankungen hilfreich sein – solange es nicht das Ziel ist, Autismus zu bekämpfen. Für die psychische Gesundheit ist es am besten, seinen Autismus zu akzeptieren.
Psychotherapie, vor allem die Verhaltenstherapie, kann helfen mit den eigenen Emotionen besser umzugehen (wahrnehmen, benennen, ausdrücken, regulieren) und auch die Sozialkompetenz und das Selbstwertgefühl zu verbessern. Dadurch können zudem Ängste und depressive Symptome, die bei Autisten häufig vorkommen, gemindert werden. Auch Traumata können behandelt werden.
Natürlich dient eine Psychotherapie bei Autisten nicht dazu den Autismus "wegzumachen"...
Autismus oder ADHS führt nicht zwangsläufig zu Leidensdruck. Es kann sein und ist bei vielen so, aber das ist nicht zwangsläufig der Fall.
Autismus oder ADHS führt nicht zwangsläufig zu Leidensdruck
Erblich bedingte schwere Hirnschäden auch nicht. Fehlender Leidensdruck ist kein Ausschlusskriterium bei der Einschätzung eines Zustands als pathologisch oder physiologisch.
Wie ist ADHS denn ohne Medikamente oder ohne helfende Psychotherapie?
Hängt von der Ausprägung ab und davon ob die Betroffenen einen Beruf und ein Umfeld haben, das zu ihnen passt oder nicht.
Die Welt ist auch für Personen ohne Neurodivergenz laut, aggressiv und stressig. Der Leidensdruck wird bei Neurodivergenten dementsprechend stärker, es muss aber nicht bedeuten, dass diese Menschen von Grund auf leiden. Sie fühlen sich in ruhigeren Umgebungen durchaus wohl, weil das Gehirn da weniger Reizen ausgesetzt ist. Es trägt auch zu einer Destigmatisierung bei; nicht jede andere kognitive Verarbeitungsweise muss krankhaft sein.
Das andere Extrem, also Neurodivergenz als nicht beachtenswert zu beurteilen, ist auch falsch. Es stimmt, dass die Bedürfnisse betroffener Menschen so gut wie möglich berücksichtigt werden sollten, z.B. in Form von Nachteilsausgleichen.
Es gibt auch chronische und unheilbare Erkrankungen. Die kann man generell nicht "wegmachen".