Heute wie die Jahre vor dem 1. Weltkrieg?
Man sieht heute immer mehr Kriege, Grenzen verschieben sich wieder und die Rechten haben wieder einen großen Zulauf. Wir haben letztens an der Universität diskutiert, inwieweit die heutige Situation vor dem 1. Weltkrieg zu vergleichen ist, wie seht ihr das?
Natürlich ist es nicht 1:1 Gleich, aber ob es sich so anfühlt wer Geschichtsinteressiert ist
15 Stimmen
8 Antworten
Die Unterschiede sind gewaltig, wenn man genau hinsieht. Die Zeit heute ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte. Wir leben in der mit Abstand friedlichsten Zeit der Geschichte.
Du sagst:
Man sieht heute immer mehr Kriege, Grenzen verschieben sich wieder und die Rechten haben wieder einen großen Zulauf.
Die ersten beiden Dinge sind nicht wahr und das dritte hat nichts mit dem ersten Weltkrieg zu tun.
Immer mehr Kriege? Nein.
Der Krieg russlands gegen die Ukraine ist der erste Krieg im Sinne von Kriegen des "langen 19. Jahrhunderts" seit 1945. (Fast) alle anderen Kriege seit 1945 wären von den Menschen vor dem 1. Weltkrieg nicht oder kaum als Kriege angesehen worden. Hättest du Wilhelm II gesagt: "2003 werden die USA im Irak einmarschieren."
Er so: "Um das Land zu erobern?"
"Nein. Wir wissen nicht genau warum, manche sagen für die Ressourcen, sie sagen wegen Terroristen."
"Terr-ro-was? Also wollen sie den Irak zu ihrer Kolonie machen."
"Nein... Das kann man so nicht sagen."
"Also wollen sie im Irak einen befreundeten König installieren?"
"Nein, eigentlich wollen sie am liebsten eine Demokratie nach westlichem Vorbild."
"Was ist mit westlich gemeint...?"
undsoweiter: Wir leben heute in einer völlig anderen Welt. Einer Welt der Normen, der Gesetze, internationaler Abkommen: All das gab es vor dem Ersten Weltkrieg nicht. Eine der wenigen anerkannten internationalen Verträge war die Genfer Konvention die 1914 gerade Mal 50 Jahre alt war. Sowas wie die UN war ein ferner Traum utopischer Spinner, und der erste Versuch mit dem Völkerbund, scheiterte ja auch.
Die Welt im Jahr 1914 lebte unter der Annahme, dass zwei beliebige Nationen binnen eines Jahres im Krieg sein könnten. 1914 lagen folgende Kriege IN EUROPA im lebenden Gedächtnis der Deutschen: Deutsch-Französischer Krieg 1871, Deutsch-Deutscher-Krieg 1866, Deutsch-Dänischer Krieg 1864...
Ich könnte weiter schreiben. Der Punkt ist: Man sieht heute NICHT immer mehr Kriege. Die Diktatoren dieser Welt würden das gern aufbrechen, sie wünschen sich immer mehr Kriege: Das ist aber zum Glück nicht die Situation in der wir sind, und lasst uns alle hoffen, dass es nicht die Situation ist in die wir kommen.
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Verschobene Grenzen? Nein.
Grenzen werden nicht mehr verschoben. Das ist seit 1945 sehr selten passiert und bis auf sehr wenige kleine Ausnahmen waren das Dinge wie Wiedervereinigungen oder Abspaltungen. Grenzverschiebungen durch Eroberungskriege gab es seit 1945 fast nie. Es mag hier und da ein paar Ausnahmen geben, doch wie erwähnt: 1914 gab es in lebender Erinnerung drei Kriege mit territorialen Veränderungen an den Grenzen Deutschlands!
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Immer mehr Rechte: Leider ja, hat aber nichts mit dem Ersten Weltkrieg zu tun
Im Ersten Weltkrieg ging es weniger um Ideologien. Es ging um Imperien. Als der Krieg ausbrauch, kämpften auf der Seite der Entente (vereinfacht) UK (konstitutionelle Monarchie), Frankreich (parlamentarische Republik), Russisches Zarenreich (autokratische Monarchie) auf Seiten der Mittelmächte waren es Deutschland (konstitutionelle Monarchie) und Österreich-Ungarn (konstitutionelle Monarchie). Das war alles, bevor es Nazis gab. Die Ideologie war bestenfalls "monarchistisch". Ja, Monarchien sind irgendwie Rechts- doch hier wirfst du Zweiten und Ersten Weltkrieg durcheinander. Die Entwicklung von Rechten im Sinne von Faschisten und Nazis begann erst nach dem Ersten Weltkrieg und als Folge davon.
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Bündnissysteme
Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Bündnissysteme 1914. Diese führten automatisch zu gegenseitigen Kriegserklärungen. Österreich-Ungarn erklärte Serbien den Krieg, darauf erklärte Deutschland Serbien den Krieg, darauf erklärte Russland Deutschland und Ö-U den Krieg, darauf erklärte Frankreich und dann UK... Und es ist gut möglich, dass ich die Reihenfolgen hier durcheinander bringe.
Auf der Welt gibt es heute nur ein mächtiges Militärbündnis: Die NATO. Die CSTO (die russische NATO) kannst du vergessen. Als neulich Aserbaidschan Armenien angriff (beide damals in der CSTO), hat russland tatenlos zugesehen.
Die russen und die Chinesen sind nicht militärisch verbündet, der Iran und russland sind es nicht. russland und Nordkorea sind es: Aber das kann man kaum mit den komplexen Bündnissystemen von 1914 vergleichen.
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Dritter Weltkrieg- Wer gegen Wen?
Noch nie haben zwei moderne Demokratien gegeneinander Krieg geführt. Ist noch nie passiert. Wenn wir Weltfrieden wollen, ist die universelle Verbreitung der Demokratie der richtige Weg dahin.
Wenn wir davon ausgehen, dass Demokratien sich tendenziell gegenseitig beistehen werden, dann sind über die Hälfte des weltweiten BIP auf der Seite des demokratischen Bündnisses in einem Dritten Weltkrieg.
Wenn wir bei einem Weltkrieg also von einem symmetrischen Krieg von einigermaßen gleichwertigen Parteien ausgehen (wie es der Erste Weltkrieg war), wäre es nötig, dass sich sämtliche Nicht-Demokratien der Welt gegen die Demokratien verbünden. Das ist nicht mal in der Nähe von realistisch.
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Man könnte über die Frage wortwörtlich ein dickes Buch schreiben. Ich belasse es bei diesen paar Zeilen.
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Ich hoffe ich habe ausreichend begründet, warum ein Vergleich von heute zu 1914 falsch ist.
Es lassen sich bestimmte Parallelen ziehen nur kann man darüber schlecht auf die Zukunft urteilen.
Vor dem ersten Weltkrieg wusste auch niemand ob es zu diesem kommt oder nicht und genau so unklar ist es heute.
Ein bisschen vielleicht.. Wenn man bedenkt dass es damals viele viele kleinere Konflikte gab die dann in einem explosionsartigem Krieg endeten. Heute sieht es zwar auch so aus, aber die geographischen, politischen und wirtschaftlichen und sogar Religiösen Gründe sind komplett anders
Eher wie vor dem 2. Weltkrieg - den Menschen geht es wirtschaftlich schlechter (entscheidend ist "gefühlt schlechter") und Populisten beider Ränder des politischen Spektrums werden immer stärker.
Ich finde es schwierig alles miteinander zu vergleichen wenn es deutliche Unterschiede gibt.
Ich würde tatsächlich eher behaupten, dass unsere Gesellschaft bequemer wird, im Thema Wissen erlangen. Das wiederum hat gefährliche Faktoren.