Ist das Umdenken von Mathe der Mathematiker in andere Disziplinen einfach?
Ein Kollege meines Bruders studiert in Teilzeit (4 Jahre) Mathematik in Bachelor durch Fernstudium und ist im. 7. Semester. Aktuell studiert er Maschinenbau im zweiten Semester.
Sind Mathe der Mathematiker anders als Mathe der Maschinenbauingenieure und Physiker?
Wie ist die Denkweise der drei?
Ist das umdenken einfach?
6 Antworten
Hallo, ich bin Diplomingenieur für Elektronik-Technologie und Feingerätetechnik.
Im Studium hatten wir drei verschiedene Formen der Mathematik. Es war 1972-1976.
Die erste war eine Art reine Mathematik im Sinne von Grundlagen. Das hatten wir mit Mathestudenten gemeinsam.
Die zweite war angewandte Mathematik, auch unter Einbeziehung von Rechentechnik. Dazu gehörte auchg Simulation, Fehlerabschätzung, Berechnung von Baugruppen verschiedcenster Art.
Die dritte war "Feldtheorie", es ist das, was Gruppentheorie genannt wird, der Zusammenhang mit dem physikalischen Feldbegriff ist fast nicht vorhanden.
Und es war eine Art "reiner Mathematik", aber in Verbindung mit formaler Logik.
In Physik, Elektronik und ähnlichen Fächern gibt es sehr oft Messgrößen, und damit ergeben sich immer Näherungslösungen.
Je genauer aber die Berechnungen werden, umso mehr Abweichungen zur Praxis gibt es oft. Das ist durch das Unbestimmtheitsprinzip schon grundlegend bewiesen.
In der Physik gibt es eine Delta-Funktion. Diese ist überall 0, außer bei 0, da ist sie unendlich.
Das gibt es in der Mathematik nicht. Hier gibt es eine Deltadistribution. Im Prinzip ist sie das gleiche, nur geht sie von anderen Grundlagen aus.
Bei Feldtheorie ist es verrückt. Sie ist extrem interessant, aber nur, wenn man sie versteht. Wir waren der letzte Jahrgang, da fast niemand sie verstand. Danach wurde sie abgesetzt Dabei konnte man mit ihr sehr viel beweisen. Aber nicht mal die Professoren verstanden sie gut. Unser Professor fand in jedem Tafelbild Fehler, es musste nur ein Student darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmte.
Für mich das interessanteste:
Newton war Physiker.
Er sagte 0,999... ist kleiner als 1, und zwar um ein Unendlichstel, das nannte Leibniz dx. (Ich vereinfache hier leicht.)
Die Mathematiker hörten auf einen Bischof, der meinte, das seien Geister verblichener Größen. Sie schafften es ab.
Stattdessen nahmen sie Delta x und Epsilon. Und die Notationen von Leibniz und Newton nahmen sie weiter, aber nur noch als eine Art Metaphern. Und das Ergebnis nannten sie reelle Zahlen, bei denen gilt: 0,999...=1
Nun kommt Robinson ins Spiel, ein Mathematiker. Er bewies, dass es ein Zahlensystem gibt, in dem Newton und Leibniz recht haben. Das heißt hyperreelle Zahlen. Hier gibt es wieder ein Unendlichstel. Und es gibt eine positive hyperreelle Zahl, die kleiner als die kleinste positive reelle Zahl ist.
Mathematik erweist sich als Spiel, in dem Spielregeln festgelegt werden, aus denen Ergebnisse folgen.
Viele dieser Spiele sind nützlich für Ingenieure, aber nicht alle. Sie brauchen Näherungslösungen, in sehr vielen Fällen, und sie brauchen sie in endlicher Zeit.
Deshalb ist es sehr nützlich, Näherungslösungen zu finden.
Ich habe die Reihenfolge von Bohrkoordinaten optimiert, um die Bohrzeit bei Leiterplatten zu verkürzen. Es reichte eine Näherung aus, die in kurzer Zeit da war. Die optimale Lösung nach zwei Monaten hätte niemandem genützt.
das ist etwa so, als würde Picasso als Anstreicherlehrling anfangen. Aber Unterforderung ist auch Stress. Außerdem muss man natürlich lernen, dass es nicht reicht zu zeigen, dass eine Lösung existiert, man muss auch ein Gefühl entwickeln, welche Lösungen praktisch Sinn machen.
Sind Mathe der Mathematiker anders als Mathe der Maschinenbauingenieure und Physiker?
Das sind zwei völlig andere Welten. Mathematiker müssen Beweise führen, neue Methoden entwickeln und bleiben damit auf der rein theoretischen bzw. logischen Ebene.
Ingenieure brauchen Mathematik, die im allgemeinen schon über hundert Jahre alt ist, um sie praktisch anzuwenden und konkrete Probleme zu lösen. Wer das wann und wie bewiesen hat, interessiert einen Ingenieur nicht die Bohne. Mein Thermodynamikprofessor pflegte bisweilen in der Vorlesung zu sagen:
"Nun haben wir das Gleichungssystem aufgestellt. Mit der Lösung beschäftigen wir uns nicht weiter. Da nehmen wir uns einen der Mathematiker, die an jeder Ecke rumstehen und nur darauf warten, für wenig Geld auch mal was sinnvolles zu tun."
Noch ein Witz dazu:
Was ist der Unterschied zwischen einem Handwerker, einem Ingenieur, einem Mathematiker und einem Philosophen?
Den kriegt man raus, wenn man sie fragt: "Was ist 2 mal 2?"
Der Handwerker: "Das ist 4, was sonst?"
Der Ingenieur tippt das in seinen Taschenrechner ein und stellt fest: "Im Rahmen der Rechengenauigkeit meines Taschenrechners ist das in guter Näherung vier."
Der Mathematiker zieht sich in seine Kammer zurück, beschreibt Unmengen von Blättern Papier mit kryptischen Zeichen, kommt nach 3 Tagen aus seiner Kammer ungewaschen, unrasiert, ungekämmt und total übermüdet wieder raus und verkündet voller Stolz: "Es gibt eine Lösung!"
Der Philosoph wiegt seinen Kopf, überlegt gründlich und sagt dann: "Ich würde mal vermuten, dass die meisten mit vier antworten. Selber bin ich mir da aber nicht sicher."
Mathematik ist die reine Lehre. Hier ist es wichtig, dass alle Aussagen exakt bewiesen sind. Im Maschinenbau wird die Mathematik angewendet. Du musst die mathematischen Mittel kennen, aber nicht deren Herleitung.
Da sind die individuellen Interessen und Fähigkeiten unterschiedlich, weshalb sich die Leute für unterschiedliche Berufe entscheiden.
Das ist ganz was anderes: Ingenieursmathematik hat mit einem Mathematikstudium soviel am Hut wie Grundschulmathematik mit Abi-Niveau.
In der reinem Mathematik geht es vorwiegend um Definitionen, Sätze und Beweise, während bei Ingnieueren eher das "rechnen" im vordergrund steht. MIt "rechnen" meine ich nun nicht unbedingt das Hantieren mit konkreten Zahlen, sondern das Aufstellen von Gleichungen, welche Im Kontext des Fachs relevant sind: Beispielsweise das Etablieren der Fluidmechanik, ausgehend von bekannten physikalischen Gesetzen, die Gleichungen der Festigkeitslehre, etc... Das ist aber nicht der Inhalt und Sinn eines Mathematikstudiums.
In meinem Physikstudium habe ich ebenfalls größtenteils diese Art von Mathematik gelernt. Es reicht komplett aus, außer man vertieft sich in Spezialthemen, wo es schnell haarig werden kann (Gruppentheorie, Funktionalanalysis, ...). Es gab da eine eigene Vorlesung, wo die speziellen Differentialgleichungen behandelt wurden, die in der Physik oft vorkommen, aber das lernt ein Mathematiker eher auch nicht wirklich.
Ein in Funtionalanalysis promovierter Bekannter hat sich umgekehrt sehr schwer getan, physikalische Prinzipien zu verstehen. Es war fast unmöglich mit ihm über gewisse Dinge zu plaudern, da er alles zuerst ganz streng bewiesen haben wollte, was in der Physik ja gar nicht geht.