Habt ihr auch als Kinder und Jugendliche vieles als selbstverständlich betrachtet, was heute nicht mehr geht?

9 Antworten

Ganz so war es bei mir nicht, ich hatte 5 jüngere Geschwister. Einiges war schon bequem, so konnte ich meine Schmutzwäsche einfach auf einen Wäscheberg werfen, und meine Mutter hat dann für alle gewaschen. Auch kochen musste ich nicht. Aber immer geiles Essen? Bei uns hieß es: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Auch wenn ich nicht unbedingt gezwungen wurde, alles aufzuessen. Zum Einkaufen wurden wir schon früh geschickt, mit Einkaufszettel. Urlaub mit der Familie gab es auch nicht jedes Jahr (und wenn, dann nur im Inland), aber unsere Eltern schickten uns dann zu Kinder- bzw. Jugendfreizeiten von der Kirche. Einen Fernseher hatten wir nicht (und Videospiele usw. gab es damals sowieso noch nicht). Dafür haben wir alle viel gelesen. Wenn ich mit Freunden weggehen wollte, musste ich vorher fragen.

Die erste und einzige Auslandsreise, die meine Eltern für mich bezahlten, führte mich zusammen mit meinem Vater nach Ungarn. Da war ich 16, und natürlich fuhren wir mit dem Zug und übernachteten bei einer befreundeten Familie. Danach habe ich immer alles selbst bezahlt.

Ich musste mir, bis zu meinem Auszug mit 19, ein Zimmer mit 2 Schwestern teilen, es aber, solange sie klein waren, selbst saubermachen. Aber als Unverheiratete eine Wohnung zu kriegen, war auch schon ein Kunststück. Damals gab es zwar billige Mieten, aber auch eine zentrale Wohnungsverwaltung bzw. Wohnungsvergabe über die Betriebe. Dafür konnte man dann auch wohnen bleiben, wenn man es einmal geschafft hatte.

So schön waren diese Zeiten also nicht. Allerdings: Die ausufernde Bürokratie wie heute gab es so auch nicht. Für die Sozialversicherung bekam man einen Ausweis, in den alles eingetragen wurde, Für Fragen und Extra-Versicherungen gab es eine zentrale Anlaufstelle. Und den SV-Ausweis nahm man zu jedem Arztbesuch mit. Lohnsteuern waren festgelegt, eine Steuererklärung mussten nur die wenigen Selbstständigen abgeben. Vieles lief automatisch: Wenn ich damals ins Krankenhaus musste, brachte ich meine Krankschreibung gleich von dort mit. Später musste ich mich, gerade entlassen und noch wacklig auf den Beinen, zu meiner Ärztin schleppen und zwei Stunden warten, um von ihr die Krankschreibung zu bekommen. Das nur, weil Krankenhausärzte keine Krankschreibung vornehmen dürfen, sondern nur Aufenthaltsbescheinigungen ausstellen.

Ich war jedenfalls damals froh, als ich mein erstes eigenes kleines Kabuff für mich hatte, auch wenn ich mich dann um alles selbst kümmern musste. Es gab Kollegen, die ich um Rat fragen konnte und eine Nachbarin, die mir ein Kochbuch für Kinder lieh, so dass ich mir das Kochen (soweit ich es nicht zuvor gelernt hatte) selbst beibringen konnte.

Ich habe all diese Dinge nicht als selbstverständlich angesehen, weil ich als Kind und Jugendliche natürlich mitbekommen habe, dass es meine Eltern in jeder Hinsicht alles andere als leicht hatten, ihren zwei Kindern Dinge zu ermöglichen und wie erschöpfend Arbeit sein kann. Ich habe immer gesehen, dass meine Eltern ihr Möglichstes gaben und welche Schwierigkeiten dies bedeutete, während andere Kinder wirklich so lebten, wie du es beschrieben hast. Eine Freundin übernachtete mal bei uns und quengelte nachts, dass sie unbedingt einen bestimmten Pudding wollte. Sie war es als verwöhnten, spätes Einzelkind gewohnt, dass ihre Eltern ihr jeden Wunsch umgehend erfüllten. Was gab es für ein Theater, als meine Mutter nachts aufstand und ihr erklären musste, dass sie diesen Pudding nicht hat ... Da war ich vielleicht sechs Jahre jung und hätte sie am liebsten mit einem Kopfkissen verprügelt oder in die große runde Ariel-Tonne gestopft. Ich fand das schon als Kind unmöglich und habe mich fremdgeschämt.

Ich war auch schon als Kind einkaufen (man kannte mich bei Kaiser's sehr gut), habe nach der Schule für keine Mama ein paar Dinge im Haushalt (ungebeten) getan, damit sie sich freut, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Das einzige, was bei uns selbstverständlich war, war dass ich nichts in der Küche machen sollte, weil das ihr Reich war. Also das Essen selbst wurde mir tatsächlich vorgesetzt. Und ich hätte wirklich gerne mehr in der Küche gemacht.

Einen Körper zu haben, der 100% beweglich und gelenkig ist und der kaum Müdigkeit und Schmerzen kennt.

Ich kann mich sehr gut daran erinnern ... Ich war in der zweiten Klasse, als sich während des Unterrichts die Tür öffnete und die Mutter einer schon einige Zeit lang abwesenden Mitschülerin eintrat und dem Lehrer ganz leise etwas ins Ohr flüsterte. Dann ging sie und kam mit ihrer Tochter wieder herein. Ihre Tochter trug ein Tuch um den Kopf gebunden. Uns wurde dann erzählt, dass sie Blutkrebs hätte ... Kurze Zeit darauf war sie dann wieder abwesend und kam auch nicht wieder. Wir Kinder haben fast alle (nicht nur ich ...) gewusst, dass hier etwas Schlimmes passierte und waren uns im Klaren darüber, dass wir selbst gesund sind.

Meinen (Jahre später als schwul geouteten) Bruder habe ich gegen furchtbare Kinder verteidigt, obwohl ich zwei Jahre jünger und klein und zierlich war. Kinder können wirklich grausam sein und sie haben ihn beschimpft und beleidigt, weil er kein raufender, sondern ein sanfter Junge war. Das habe ich nicht zugelassen und sie bekamen es mit mir zu tun.

Mein Fazit: Ich war nie ein verwöhntes oder besonders begütertes Kind, meine Eltern hatten finanzielle Nöte und ich habe auch damals schon den Wert all dessen, was du beschrieben hast, ermessen können. Ich wusste auch schon früh, was es bedeutet, sich verantwortlich zu fühlen. Das gehört alles zu mir und ich denke, dass manche meiner weniger schlechten Seiten so mit herausgebildet wurden. Es hat mir nicht geschadet, aber es hat mich geprägt.

Also irgendwie passt fast alles, was du beschreibst, gar nicht auf mich. 😀 Ich bin ein Alien.

Nicht vieles, da ich viele Dinge, die viele als selbstverständlich betrachten, gar nicht hatte. Meine Kindheit und Jugend war von äußerst unschönen Erlebnissen und einem sehr instabilen Umfeld geprägt. Es war gar nichts selbstverständlich. Jedoch gibt es tatsächlich etwas, dass ich immer für selbstverständlich gehalten habe und worüber ich mir auch nie großartig Gedanken gemacht habe. Ich dachte, dass mein Körper schon funktioniert und gesund bleiben würde. Ich habe gewisse Symptome sehr lange ignoriert, weil ich dachte, dass es wieder verschwinden würde. Das ist leider nicht der Fall und es wird mit der Zeit schlimmer.

Früher war es ganz normal für mich, aufzustehen und keine massiven körperlichen Schmerzen zu haben. Inzwischen habe ich jeden Tag konstant ziemlich starke Schmerzen, habe "Besuche" im Krankenhaus hinter mir und fühle mich damit manchmal sehr verloren. Es wird jedes Mal, wenn ich wieder zum Arzt gehe, was gefunden. Es ist jetzt nicht lebensbedrohliches, schränkt meine Lebensqualität aber massiv ein und ich kann viele Dinge, die früher gingen, inzwischen nicht mehr machen.

Ich weiß aber auch, dass es irgendwie immer weiter geht und versuche, dieser Zeit, in der es mir körperlich besser ging, nicht mehr hinterherzutrauern, da es mir damals psychisch um einiges schlechter ging.

frostfeuer85 
Fragesteller
 30.01.2024, 09:37

Du hast schon recht, manches an meiner Kindheit (Mobbing, chronisch kranke Familienmitglieder, Streitereien) vermisse ich auch nicht und ist heute tatsächlich besser. In deinem Fall halte ich es für möglich, dass auch die unschönen Erlebnisse und das instabile Umfeld mit ein Grund für die körperlichen Beschwerden sein könnten. Körper und Psyche hängen stärker zusammen, als man oft vermutet. Wünsche dir jedenfalls viel Glück und Gesundheit!

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blurryeyes22  30.01.2024, 09:39
@frostfeuer85

Vielen Dank.

Es besteht kein direkter Zusammenhang. Die Tatsache, dass viele die Spitze des Eisbergs dessen, was ich erlebt habe, kannten, hat leider dafür gesorgt, dass ich lange nicht ernst genommen wurde, bis dann körperliche Untersuchungen erfolgt sind.

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Ja, das empfinde ich genauso.

Ich bin da die Ausnahme. Das liegt aber auch nur daran das ich nicht hatte woran du dich erinnern kannst.

Nach Hause kommen und Essen? In der Regel wurde ich nicht ins Haus gelassen. Das dauerte oft lange. Essen? Aber sicher nicht.

Keine Gedanken machen. Das klingt toll, allerdings wurde ich ab dem Alter von 4 zum Zigaretten kaufen und generell einkaufen geschickt. Daher fiel das flach.

Zocken war bei uns zwar möglich aber auch nur damit wir still waren.

Verantwortung musste ich von Beginn an tragen. Meine Eltern hielten nicht viel davon auf Kinder auf zu passen.

Die Ausdauer eines Kindes vermisse ich tatsächlich.

Man weiß immer erst was man hatte wenn es dann weg ist. Das ist leider sehr oft so.

Claud18  23.02.2024, 09:18

Mit 4 zum Zigarettenkaufen? Gab es damals kein Jugenschutzgesetz?

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Nelanus  23.02.2024, 09:51
@Claud18

Zu dem Zeitpunkt war der Verkauf noch legal und wurde dann in kurzer Zeit verboten. Zumindest schätze ich das, ich weiß noch bestens wie ich damals Zigaretten kaufte.

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