Bin ich der einzige der dachte Russland wäre viel viel stärker als sie es sind?

6 Antworten

Ich denke, hier sind viel zu viele, die viel zu wenig von der Materie verstehen, dafür aber umso meinungsstärker ihre Inkompetenz vertreten.

Um über Erfolg und Misserfolg befinden zu können, muss es einen Abgleich zwischen den wirklichen strategischen Zielen Russlands und und der bisherigen Zielerreichung geben. Das scheitert aber regelmäßig schon am Erkennen der strategischen Ziele Russlands in diesem Krieg.

Zu glauben, Russland sei angetreten, um die Ukraine zu erobern und sie sich dann einzuverleiben, mag für klein Fritzchen einleuchtend sein. Wer aber schon etwas älter ist, mehr weiß und die Welt nicht nur aus der Sandkastenperspektive sieht, weiß, dass das kein Ziel rational überlegender Politiker sein kann. Es ist völlig unrealistisch, ein so großes Land zu erobern und anschließend auch beherrschen zu können.

In seiner Rede vom 24. Februar nannte der russische Präsident die beiden Ziele seiner Operation: „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine. Es geht also nicht darum, die Ukraine zu erobern, wahrscheinlich nicht einmal zu besetzen und schon gar nicht zu zerstören.

Messen wir den Erfolg Russlands also an diesen beiden Zielen und nicht an den Zielen, die der Westen unterstellt.

  • Zerstörung der ukrainischen Luftfahrt, Luftabwehrsysteme und Aufklärungseinrichtungen am Boden;
  • Neutralisierung der Führungs- und Aufklärungsstrukturen sowie der wichtigsten Logistikrouten in der Tiefe des Gebietes;
  • Einkreisung des Großteils der ukrainischen Armee, die im Südosten des Landes zusammengezogen ist.

und dann noch

  • Zerstörung oder Neutralisierung der faschistischen Freiwilligenbataillonen, die in den Städten Odessa, Charkow und Mariupol sowie in verschiedenen Einrichtungen des Landes operieren.

An dieser Stelle möchte ich Jacques Baud, einen Ex-Oberst des Generalstabs, Ex-Mitglied des strategischen Nachrichtendienstes der Schweiz, dort als Chef zuständig für die Streitkräfte des Warschauer Paktes, Spezialist für osteuropäische Länder und NATO-Mitarbeiter zitieren. Er schreibt:

Die russische Offensive verläuft in einer sehr „klassischen“ Weise. Zunächst – wie die Israelis 1967 – mit der Zerstörung der Luftstreitkräfte am Boden in den ersten Stunden. Dann folgt ein gleichzeitiger Vormarsch auf mehreren Achsen nach dem Prinzip des „fließenden Wassers“: Wir rücken dort vor, wo der Widerstand schwach ist, und überlassen die (sehr truppenstarken) Städte einem späteren Zeitpunkt. Im Norden wird das Kernkraftwerk von Tschernobyl sofort besetzt, um Sabotageakte zu verhindern. Die Bilder von ukrainischen und russischen Soldaten, die das Kraftwerk gemeinsam bewachen, werden natürlich nicht gezeigt…
Die Idee, dass Russland versucht, die Hauptstadt Kiew zu übernehmen, um Zelenski zu beseitigen, kommt typischerweise aus dem Westen: Das hat man in Afghanistan, im Irak und in Libyen getan und wollte es in Syrien mit Hilfe des Islamischen Staates tun. Aber Wladimir Putin hatte nie die Absicht, Selenskij zu stürzen oder zu beseitigen. Im Gegenteil, Russland versucht, ihn an der Macht zu halten, indem es ihn durch die Einkreisung von Kiew zu Verhandlungen zwingt. Bislang hatte er sich geweigert, die Minsker Vereinbarungen anzuwenden, doch nun wollen die Russen die Neutralität der Ukraine erreichen.
Aus operativer Sicht war die russische Offensive ein Beispiel für ihre Art: In sechs Tagen eroberten die Russen ein Gebiet, das so groß war wie das Vereinigte Königreich, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die die der Wehrmacht im Jahr 1940 überlegen war.
Die „Verlangsamung“, die unsere „Experten“ auf die schlechte Logistik zurückführen, ist nur die Folge des Erreichens der gesetzten Ziele. Russland scheint sich nicht auf eine Besetzung des gesamten ukrainischen Territoriums einlassen zu wollen. Vielmehr scheint es, als wolle Russland seinen Vormarsch auf die Sprachgrenze des Landes beschränken.
Für einen Angreifer in einem städtischen Gebiet sind die Zivilisten ein Problem. Deshalb versucht Russland, humanitäre Korridore zu schaffen, um die Städte von Zivilisten zu befreien und nur die Milizen zurückzulassen, um sie leichter bekämpfen zu können.
Umgekehrt versuchen die Milizen, Zivilisten in den Städten zu halten, um die russische Armee davon abzuhalten, dort zu kämpfen. Deshalb zögern sie, diese Korridore einzurichten, und tun alles, damit die russischen Bemühungen vergeblich sind: So können sie die Zivilbevölkerung als „menschliche Schutzschilde“ benutzen. Videos, die zeigen, wie Zivilisten versuchen, Mariupol zu verlassen und dabei von Kämpfern des Asow-Regiments verprügelt werden, werden hier natürlich sorgfältig zensiert.
Unsere Medien propagieren ein romantisches Bild des Volkswiderstands. Dieses Bild hat die Europäische Union dazu veranlasst, die Verteilung von Waffen an die Zivilbevölkerung zu finanzieren. Das ist ein krimineller Akt. In meiner Funktion als Chef der Doktrin für friedenserhaltende Operationen bei der UNO habe ich mich mit der Frage des Schutzes der Zivilbevölkerung beschäftigt. Dabei haben wir festgestellt, dass Gewalt gegen Zivilisten in ganz bestimmten Kontexten stattfindet. Vor allem dann, wenn Waffen im Überfluss vorhanden sind und es keine Kommandostrukturen gibt.

https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/die-militaerische-lage-in-der-ukraine/

Der Artikel insgesamt ist deutlich länger, aber ungemein informativ und lesenswert.

NinjaBat  25.11.2022, 20:30

Ja, sieht man ja wie "erfolgreich" Russland in der Ukraine ist.

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Ich bin in der DDR aufgewachsen. Schon als Kind habe ich gehört, da gibt es ein Wettrüsten. Die Sowjetunion hatte Atomwaffen und die USA auch.

Später dann hat Russland brutale Kriege in Tschetschenien und Syrien geführt.

Allerdings hätte ich es bis zum 23. Februar nicht für möglich gehalten, dass Russland die Ukraine überfällt.

In den ersten Kriegstagen dachten wir wohl fast alle, dass Kiew ganz schnell fällt. Und dann zog sich die russische Armee aus dem Norden zurück.

Atomwaffen hat Putin. Gegen uns wird er die aber nicht einsetzen. Der Gegenschlag der NATO würde Russland vernichten. Und das weiß Putin.

Manche rätseln ja, ob Putin taktische Atomwaffen in der Ukraine einsetzt. Im Moment glaube ich das nicht. Denn das würden auch seine Soldaten abbekommen. Und von denen sind jetzt schon viele gefallen.

Bin ich der einzige der dachte Russland wäre viel viel stärker als sie es sind?

Nö. Die Überraschung teilst du mit quasi der Welt. Russlands Armee sollte die zweitstärkste des Planeten sein. Dachte man. Joa, Satz mit x.

Die Gefahr sind deren Atomwaffen aber was ist wenn diese sich auch als blöff erweisen?

Strategische Atomwaffen sind Waffen, die man nie verwenden will. Das ist auch bei Russland so. Denn die Vergeltung kommt definitiv und dann sind beide Seiten verwüstet. Ungut.

Hamburger02  20.04.2022, 20:28
Nö. Die Überraschung teilst du mit quasi der Welt. Russlands Armee sollte die zweitstärkste des Planeten sein.

Da lag ein kleiner Fehler. Russland ist tatsächlich die zweitstärkste Armee..aber nicht auf dem Planeten, sondern in der Ukraine.

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also wieso hatten wir die ganze Zeit Angst vor Russland?

Das ist für mich überhaupt nichts Neues. Kurz vor der Übernahme der Volksmarine der DDRnach der Wiedervereinigung, die mit aktueller sowjetischer Technik ausgerüstet wurde, war meine Dienstzeit bei der Marine zu Ende. War aber immer noch mit einem Spezialisten befreundet, der zu dem Stab gehörte, der die Volksmarine übernehmen sollte. Der hat mir dann erzählt, die seien völlig erschüttert gewesen, in welchem Ausrüstungs- und Erhaltungszustand die Schiffe waren. Die waren im Prinzip auf dem technischen und taktischen Stand wie noch im 2. Weltkrieg. Sinngemäß meinte er zu mir: "Entweder taugt unser Geheimdienst gar nichts oder wir wurden die ganze Zeit belogen, was die gegnerische Bedrohung betrifft. Die hätten nicht die Spur eiiner Chance gegen unsere modernen Waffen gehabt."

Und man bedenke: die russische Armee wurde seither auch nicht wesentlich modernisiert. Die müssen sich immer noch mit dem alten Sowjetschrott rumplagen.

Mehr dazu hatte ich hier geschrieben:

https://www.gutefrage.net/frage/kommt-jetzt-bald-der-3te-weltkrieg#answer-442429208

Katinkacat  12.05.2022, 20:05

Ich bin in der DDR aufgewachsen. Da fehlte es an allen Ecken und Enden. Das Geld für modernstes Militär war sicher gar nicht da. Typisch sozialistische Mangelwirtschaft.

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Hamburger02  12.05.2022, 22:41
@Katinkacat

Und dann kommt beim russischen Militär die grassierende Korruption dazu, in der zusätzlich viel Geld verschwindet sowie der Umstand, dass Militärangehörige sogar Armeeeigentum unter der Hand verkaufen, um überhaupt über die Runden zu kommen.

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Katinkacat  13.05.2022, 11:32
@Hamburger02

Wollen wir hoffen, dass die ukrainische Armee diese Schwächen ausnutzen kann.

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Hamburger02  13.05.2022, 12:54
@Katinkacat

Ja, entschieden ist noch gar nichts, aber die Hoffnung ist nicht unbegründet.

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Katinkacat  14.05.2022, 17:19
@Hamburger02

Ich hoffe das sehr, aber ich bin kein Militärexperte. Vor allem müssen wir weiter viele viele Waffen liefern.

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Hamburger02  14.05.2022, 22:03
@Katinkacat

Das sehe ich auch so. Damit kann die Ukraine in die Lage versetzt werden, die größten Schwächen der Russen auszunutzen, die da wären fehlende Motivation der einfachen Soldaten, ihr Leben zu opfern, schlechtes Material und Waffen sowie eine dilettantische Führung.

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Hamburger02  16.05.2022, 19:29
@Katinkacat

Deutlich mehr als von den Mardern verspreche ich mir von den Panzerhaubitzen, die ja bereits freigegeben sind und deren ukrainische Besatzungen zur Zeit in Deutschland ausgebildet werden.

Inzwischen sind 80 von 90 offiziell bestätigten amerikanische Haubitzen M777 angelangt. Sowohl die M777 als auch die deutschen Panzerhaubitzen 2000 können die hochmodernen steuerbaren Natogranaten über 40 km weit schießen, wobei die GPS-gesteuerten amerikanischen Granaten eine Treffergenauigkeit von 5 m haben und die deutsch/italienischen Vulcano 155 GPS/SAL-Granaten bei einer Lasermarkierung des Zieles sogar fahrende Panzer auf 1 m genau treffen können und das auf Entfernungen von über 40 km. Vor allem auch diverse Kommandostände der Russen sowie der zentrale Versorungs- und Nachschubstützpunkt der Russen in Belgorod könnte damit von der Ukraine aus angegriffen werden.

Es gibt Gerüchte, dass die schnelle Rückeroberung der Gebiete um Charkiw durch die Ukraine und des Vorrückens der ukrainischen Armee bis an die russische Grenze hautpsächlich dieser gelenkten hochpräzisen Artilleriemunition aus den bereits gelieferten amerikanischen Haubitzen zu verdanken sei.

Etwas vergleichbares haben die Russen nicht. Die schießen noch mit alten Kanonen aus Sowjetzeiten mit ungelenkter Munition, die so etwa auf 100 m genau trifft und auch nur eine Reichweite von knappp über 20 km hat.

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Katinkacat  16.05.2022, 19:30
@Hamburger02

Die Russen sollen auch ein Drittel ihrer Soldaten schon verloren haben: tot oder verletzt.

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Hamburger02  16.05.2022, 19:34
@Katinkacat

Ja, das deckt sich in etwa auch mit meinen Informationen. Die haben große Probleme, die Ausfälle zu ersetzen.

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Katinkacat  16.05.2022, 19:52
@Hamburger02

Ich verstehe auch solche Leute nicht, die meinen, Frieden kann man ohne Waffen schaffen. Damals in der DDR der 80er habe ich die westliche Friedensbewegung bewundert. Heute bin ich da anderer Meinung, seit Putin angegriffen hat.

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Hamburger02  16.05.2022, 20:27
@Katinkacat

Ich hatte auch die Hoffnung, es gäbe keinen Krieg mehr in Europa, habe mich getäuscht und musste gewisse Sympathien für Russland aufgeben.

Wie sagte schon Wilhelm Busch: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenns dem bösen Nachbarn nicht gefällt."

Jedenfalls darf einem faschistischen Imperator wie Putin keine freie Hand gelassen werden, sondern es muss ihm seine Grenzen aufgezeigt werden.

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Man sollte nicht außer Acht lassen, dass gerade mal 100.000-200.000 Soldaten von über einer Millionen im Krieg kämpfen. Zudem sind die Lager lange noch nicht erschöpft und ich bin mir auch nicht sicher ob die besten Waffen je eingesetzt wurden.

Dann wäre da noch das große Problem mit den Verbündeten (Syrien, Nordkorea, China, Iran uvm ). Ich habe das Gefühl, dass es nicht nur bei Russland gegen den Westen bleiben wird.

Woher ich das weiß:Recherche
Hamburger02  20.04.2022, 20:30
von über einer Millionen im Krieg kämpfen.

Das ist alles nur auf dem Papier. An echten Landstreitkräften hat Russland 360.000 und davon sind viele auch in Schulen und Unterstützungskommandos tätig. Tatsachlich haben die Russen größte Probleme, noch irgendwo weitere echte Kampftruppen für die Ukraine zusammenzukratzen.

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HolgieXX  20.04.2022, 23:48

Schau Dir die Größe Russlands an. Sie können nicht einfach mal eine weitere halbe Million Wehrpflichtiger in die Ukraine schicken. Die fehlen dann an anderen Standorten, Grenzsicherung, Logistik, Unterstützung.

Ihre reinen Kampftruppen dürften sich bei 200k bewegen und das ist schon optimistisch gerechnet.

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