Warum glauben so wenig Ostdeutsche an einen Gott?

29 Antworten

Nicht nur eine, sondern zwei antichristliche Diktaturen haben die gesellschaftliche Entwicklung geprägt. Daraus entstand regelrecht eine Religionsfeindschaft bei den Befürwortern und Mitläufern. Bei den Kritikern beider Diktaturen wiederum gab es teilweise Kritik an der als zu angepasst empfundenen Haltung der Kirchen gegenüber dem staatlichen Unrecht, was möglicherweise auch zur Abkehr vom Glauben geführt hat.

Nicht vergessen darf man, dass der Sozialismus ansich hohe ethische und moralische Werte vertritt. Dies war nicht nur theoretisch so, sondern wurde bei Bildung und Erziehung vermittelt. Z.B. die Friedensliebe (trotz Militarismus, der - so wurde strikt vermittelt - lediglich zur Verteidigung dienen sollte), z.B. das erfolgreiche Bildungssystem mit starker naturwissenschaftlicher Säule (wenn auch massiv einseitig politisiert, Physik bleibt Physik und Goethes Faust ist hervorragender Denkstoff). Soziale Ängste waren fremd, Sorge um Arbeit gab es kaum, Dach überm Kopf, energiereiche Nahrung (1989 Weltspitzenwert), bescheidener Wohlstand, Genussmittel, Alkohol und Zigaretten, ... kein wirtschaftlicher Überlebenskampf, kein Elend! Auch heute sprechen bedeutende Politiker, z.B. Gysi und Habeck, davon, dass linke Politik säkularisiertes Christentum sei. So sehe ich das auch.

Ich persönlich denke deshalb, dass dieser hohe Anspruch an Ethik und Moral - wenn er auch im Umgang des Staates mit seinen politischen Gegnern konterkariert wurde - das Bedürfnis nach Spiritualität deutlich reduziert hat nach dem Motto: Man kann ein guter Mensch sein, auch ohne Religion.

Als gläubiger Mensch möchte aber auf zwei Probleme damit hinweisen, die ich in der Praxis bestätigt sehe: Der gute Mensch, der sich allein seinen anerzogenen Maßstäben unterwirft, nicht aber Gott und dessen Geboten, befürchtet nichts, wenn er - einmal oder noch einmal - von seinen ethischen Werten abweichend handelt, solange dies von Menschen unentdeckt bleibt. Und so konnte der "real existierende Sozialismus" auf Dauer nur scheitern. Wahre Nachhaltigkeit im moralischen Verhalten würde ich erwarten von einem Menschen, der sich Gottes Geboten unterordnet und damit rechnet, Verantwortung für all seine Handlungen und Unterlassungen übernehmen zu müssen.

Zweitens: Trotz des weitestgehend humanistischen Anspruchs der DDR lag kein Segen auf dem Gesellschaftsmodell. Segen aber ging aus von der friedlichen Bürgerbewegung aus den Kirchen heraus, von den Friedensgebeten: Die friedliche Revolution gleicht für mich einem Wunder. Nein, sie war ein Wunder! Gott sei Dank!


tevau  13.09.2019, 15:15
kein wirtschaftlicher Überlebenskampf, kein Elend!

Jetzt blendest Du aber wesentliche Teil der Lebensrealität in der DDR aus, absolut wie auch im Systemvergleich zu Westdeutschland:

  1. Die wirtschaftliche Lage selbst der "ärmsten" Bundesbürger lag höher als beim durchschnittlichen Werktätigen in der DDR.
  2. Ein wirtscaftliches Elend fing spätestens dann an, wenn der DDR-Bürger Systemkritik geübt und dafür seinen Arbeitsplattz verloren hat. Etliche konnten nur überleben, weil sie von Freunden durchgefüttert wurden.

Man muss die materiellen Ansprüche schon massiv runterschrauben, damit die DDR sie erfüllte:

energiereiche Nahrung (1989 Weltspitzenwert)

ist - solange es nicht ums blanke Verhindern von Hungerkatastrophen geht - wirklich kein Ruhmesblatt für die DDR!

dass linke Politik säkularisiertes Christentum sei

Ja, aber mit Sicherheit nicht die Politik des "realen Sozialismus", die - egal wo sie auf der Welt schon praktiziert wurde - mit Unterdrückung, Gleichschaltung und Entmenschlichung verbunden war. Sozialismus und Freiheit schließen sich aus. Zentrale Wirtschaftssteuerung und Individuelles Lebenskonzept auch.

AdamundEvi  13.09.2019, 18:14
@tevau

Ich sehe in Deinem Kommentar eine berechtigte Ergänzung. Mein Anliegen war keinesfalls, den "real existierenden Sozialismus" zu überhöhen. Doch Fakt ist, dass er den eigenen, propagandistisch verbalisierten, hohen moralischen Ansprüchen - die z.B. in Schulen gelehrt wurden - selbst nie gerecht wurde. Deshalb waren ja auch so viele Menschen extrem enttäuscht und ließen sich nicht mehr mit Worten abspeisen.

Kneisser  13.09.2019, 07:57

"Dh" ... mit einer kleinen Ausnahme:
"der sich Gottes Geboten unterordnet"
Gott ist doch kein Despot, der uns mit seinen Geboten auf die Knie zwingen will! (schrecklich: die englische Übersetzung "Commandments")
Für mich sind die "Gebote" VERHEIßUNGEN, deren Erfüllung uns Gott von sich aus verspricht.
;-) lG

AdamundEvi  13.09.2019, 13:39
@Kneisser

Vielen Dank! Das ist ein interessanter Aspekt. Ich werde darüber nachdenken.

Da die meisten Kommentare hier sehr negativ formuliert sind, möchte ich das, was hier schon gesagt wurde, einmal anders ausdrücken:

Anders als in Westdeutschland, wo die Kirchen politisch und gesellschaftlich über eine große Macht verfügten und Privilegien genossen haben, war der Säkularismus in der DDR nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern wurde tatsächlich auch umgesetzt. Wie andere schon schrieben, war Marx (auf den man sich in der DDR ideologisch berief) ein großer Religionskritiker. Somit wurden ostdeutsche Kinder, anders als die westdeutschen, keiner religiösen Gehirnwäsche unterzogen.

Man sieht an der von dir oben eingeblendeten Statistik deutlich, dass überall da, wo die Kirchen nicht ihre (unrechtmäßigen) Machtstrukturen und Privilegien hatten bzw. haben, es mehr nicht-religiöse Menschen gibt. Tschechien beispielsweise hat eine ähnlich sozialistische Vergangenheit und Frankreich ist im Gegensatz zu Deutschland laut Verfassung ein laizistischer Staat.

Gesellschaftlich gut integrierte und gestützte Menschen brauchen weniger oft das, was wir als Glauben bezeichnen. Je besser eine Gesellschaft menschlich zusammenrückt desto weniger nötig ist der Wunsch nach äußerlicher Führung (zumal diese ja sowieso schon durch den Staat gegeben war). Wo man im Osten gut integriert ist, ist man im Westen allein mit sich und seinen Problemen. Und eine der vielen Lösungen ist der Glaube.

Aber mag natürlich sein, dass ich damit völlig falsch liege. So stell ich mir das vor.


nala2408 
Beitragsersteller
 12.09.2019, 10:45

Also sind die Ostdeutschen besser integriert und menschlich zusammengerückt?

Kitharea  12.09.2019, 10:46
@nala2408

Die Ostdeutschen die ich kenne sind menschlicher unterwegs ja. Haben besseren Familienzusammenhalt. Allerdings auch ihre ganz eigenen Probleme die natürlich auch mit dem Osten zu tun haben. Und ich vermute dadurch, dass der Staat oberste Instanz war bestand auch die Möglichkeit gar nicht so viel in den Glauben zu investieren. Das kommt noch dazu. Mit der Zeit gehört der Glaube nicht mehr zum Leben dazu.

Weil ja seit 1945 die Sowjetunion das Sagen hatte. Und das der DDR Führung aufgedrückt. Nach dieser war Kirche unerwünscht. Die Partei soll der Kirchenersatz sein.

Vielleicht zwei Gründe:

Zum einen die politisch-atheistische Gesellschaftsverfassung der ehemaligen DDR, die immerhin über zwei Generationen beeinflusste und "qualifizierte" und zum anderen eine anderes Bildungssystem das politischer geschlossener, aber in Fragen der Religion "kritischer" war und einer marxistischen Leitlinie folgte die da hieß:

"Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. [...] Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. [...] Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks." (Karl Marx in „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 162)