Menschenopfer vs. Scheiterhaufen – Wer war grausamer?
Ich hatte heute ein Gespräch mit Bekannten darüber, ob die fehlende Weiterentwicklung des Militärs in den präkolumbianischen Gesellschaften ein Hinweis darauf sein könnte, dass diese Kulturen weniger gewalttätig und kriegerisch waren als die europäischen, wo sich das Militär ständig weiterentwickelte – aber eben auch permanent extreme Kriege geführt wurden.
Daraufhin wurde mir entgegnet: „Die haben nicht nur ihren Feinden bei lebendigem Leib das Herz herausgeschnitten, sondern sogar ihre Ballspielchampions den Göttern geopfert“ – als Beispiel für ihre Brutalität.
Aber gab es Vergleichbares nicht auch in Europa? Zum Beispiel in England das sogenannte Vierteilen („hanged, drawn and quartered“): Verurteilte wurden zunächst gehängt, dann bei lebendigem Leib ausgeweidet, die Eingeweide verbrannt, der Körper geköpft und schließlich in vier Teile zerschnitten. Ein berühmter Fall ist William Wallace im Jahr 1305. Die Überreste wurden öffentlich zur Abschreckung ausgestellt.
Auch das Rädern, bei dem Menschen an ein Rad gebunden und durch Knochenbrüche getötet wurden, war weit verbreitet – oft dauerte das Sterben stunden- oder tagelang. Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen, wie bei „Ketzern“ oder „Hexen“, wurden bis in die Neuzeit zelebriert – mit religiöser Begründung.
Besonders auffällig: Diese Grausamkeiten wurden in Europa bewusst öffentlich inszeniert. Sie waren soziale Spektakel, mit Marktständen, Gaffern, Spott und Jubel. Man ging dorthin wie zu einem Volksfest. Das Volk sollte nicht nur sehen, was passiert – sondern, warum: zur Einschüchterung und Machterhaltung.
Im Unterschied dazu wurden die Opferungen bei den Azteken oder Maya religiös begründet – als Gaben an die Götter, um das Gleichgewicht der Welt zu erhalten. Aus heutiger Sicht nicht weniger grausam, aber mit einem anderen ideologischen Fundament.
Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei mögliche Indizien dafür benennen, dass die präkolumbianischen Gesellschaften nicht notwendigerweise gewalttätiger waren als die europäischen – vielleicht sogar weniger:
1. Die fehlende militärische Weiterentwicklung: Anders als in Europa, wo ständig neue Waffentechnologien und Kriegsführungsstrategien entwickelt wurden, blieb das Militär vieler präkolumbianischer Kulturen technologisch vergleichsweise statisch. Das könnte – zumindest teilweise – auf eine geringere strukturelle Ausrichtung auf kriegerische Expansion hindeuten.
2. Die Formen der Gewalt unterscheiden sich, nicht unbedingt deren Ausmaß: Menschenopfer wirken heute besonders fremd und barbarisch, sind aber in ihrer Grausamkeit vergleichbar mit den europäischen Praktiken der Folter und Hinrichtung. Beide Systeme kannten ritualisierte Gewalt, nur unter unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen – religiös dort, juristisch oder politisch hier.
Diese Überlegungen werfen die Frage auf, ob das Bild der besonders gewalttätigen „anderen Kulturen“ nicht auch ein Produkt europäischer Perspektiven und kolonialer Geschichtsschreibung ist müssen wir alle dahingehend offener werden?
7 Antworten
Was Brutalität anbelangt sind wir alle ziemlich gut gewesen.
Ich kann nicht erkennen das die Naturvölker oder die Kolonialvölker mehr oder weniger grausam gewesen wären.
Die slawischen Stämme in Norddeutschland und Brandenburg haben im 9. Und 10. Jahrhundert auch noch Menschenopfer gekannt. Sie beteten Götzenbilder wie Svanthevit an, und der wollte ab und zu auch Menschen geopfert bekommen.
Dann wurden sie von den Ottonen christianisiert.
Die Azteken rissen Herzen heraus. Die Europäer perfektionierten den Scheiterhaufen, die Folter, das Strafrecht, den totalen Krieg. Nur ein logistischer Unterschied, der aus Zufall vermutlich entstand.
Die Menschheit ist flächendeckend schuldig – sie teilt sich nur in Täter mit besserem Marketing und solche ohne Budget. Es gibt jedenfalls keine edlen Wilden, keine reinen, und guten Opfer und keine bösen Täter. Jeder agiert mit dem moralischen Verbesserungsdrang im Gewissen und der Lust an der Zerstörung im Muskel.
Die Diskussion ist an sich spannend, aber auch sehr theoretisch und spekulativ - vor allem daher, weil es hierzu ein detaillierteres Wissen über die jeweiligen Kulturen braucht. Und natürlich können wir die Azteken keineswegs mit den Sioux-Völkern oder den Inca zusammenwürfeln: Soweit wir heute wissen, waren die präkolumbischen Kulturen untereinander viel diverser als die europäischen Länder, die bereits mehrfach unter annähernd einheitlicher Herrschaft (z.B. Rom, Fränkisches Reich etc.) gestanden hatten und daher viel engere kulturelle Verflechtungen untereinander hatten.
Viele Chronisten beschreiben außerdem, dass die wahren Grausamkeiten von den europäischen Konquistadoren erfunden und begangen wurden. Sie standen in Brutalität und Einfallsreichtum unseren Schreckensberichten von indianischen Menschenopfern in Nichts nach (wenn sie nicht überhaupt viel schlimmer waren: Aus den Berichten der Spanischen Chronisten wie z.B. B. de Las Casas hat man Völkermorde in einer Dimension von ca. 19 Mio Menschen binnen 50 Jahren errechnet).
Vor allem die Heere der südamerikanischen Völker galten auch als hochentwickelt, gut strukturiert, hervorragend verwaltet und als entsprechend gefährlich. Aber ihre Waffentechnologie war weit unterlegen, da sie keinen Stahl (daher: keine gleichwertigen Schwerter und Rüstungen) und kein Schwarzpulver (Musketen, Kanonen) hatten. Pizarro hatte etwa dennoch große Sorgen, weil die Inca-Kämpfer sehr intensiv die spanischen Kampfstrategien analysiert und umgehend erfolgreich nachgeahmt haben. So wurden sie rasch immer effektiver. In Nordamerika haben die Ureinwohner schnell selbst auch das Pferd von den Spaniern übernommen und domestiziert. Die Völker Amerikas haben sich also im Rahmen ihrer Möglichkeiten(!) durchaus effizient militärisch weiterentwickelt - und wurden dennoch besiegt. Ungeachtet dessen halte ich These Nr. 1 aber als unrichtig.
These Nr. 2 würde ich auch nicht stehen lassen. Viele Völker Eurasiens sind über besiegte Kulturen grausamst barbarisch hergefallen, und das geht bis heute so weiter: Plünderungen, kollektive Erschießungen und Massenvergewaltigungen während der Napoleonischen Kriege oder auch im (bzw. danach) Zweiten Weltkrieg (vor allem durch Deutsche, Japaner, Russen und Chinesen) gab es ebenso wie Arbeits- und Konzentrationslager mit Tausenden und teils Millionen von Toten. Auch neuzeitliche Staaten haben Menschenrechte fremder Kämpfer oder gar Völker kaum beachtet - moderne Beispiele wären Guantanamo oder die Kriege in der Ukraine und Gaza. Richtig ist aber gewiss, dass uns die Sitten der aztekischen und mayanischen Menschenopfer besonders fremd und unverständlich erscheinen und dass wir sie daher möglicherweise in unserer Bewertung besonders stark als "barbarisch" gewichten, ohne daran zu denken, was durch unsere eigenen Kulturen verbrochen wurde. (Spannend vor diesem Hintergrund wären etwa die Berichte über die Inca von G. de la Vega.)
Daher würde ich deine abschließende Frage bezüglich unserer eigenen Geschichtsschreibung (im Sinne von: "Geschichte wird immer nur von den 'Siegern' geschrieben") mit einem klaren, tendenziellen "Ja" beantworten.
Naja ich finde man kann schwer sagen welche Kulturen Gewalttätiger sind, in anderen gab es eben Menschenopfer, die haben teilweise ihre eigenen Kinder geopfert und das auch öffentlich mit großen Zeremonien. Natürlich wurden in Europa auch schlimme Dinge gemacht, wie du ja sagtest der Scheiterhaufen oder andere Sachen. Das Militär ist halt bei uns durch unseren technischen Fortschritt so gewachsen und weil in Europa sich die länder gegenseitig hoch gepusht haben, aber in den anderen Nationen wurden ebenfalls kriege geführt, halt mit anderem Ausmaß weil es die Mittel nicht hergegeben haben.
Du vernachlässigst einen wichtigen Aspekt bei der Betrachtung von Zivilisationen. Alle Hochkulturen stützten sich auf Ausbeutung fremder Kraft, egal ob es nur um technologischen Fortschritt allgemein oder den militärischen im Besonderen ging. Eine reine Dschungelkultur hatte es schwer gegenüber Konkurrenten. Wer keine Nutztiere hatte, insbesondere Reit- und Zugtiere, musste alles von Hand bewegen und tragen, auf mithilfer der Hände von Sklaven.
In den Anden hatten sie grad mal Lamas; dazu auch noch steile Berge und Pässe. Selbst wenn sie an Schießpulver gekommen wären und Kanonen aus Bambus gebaut hätten: Wer hätte sie bewegen sollen?