Menschenopfer vs. Scheiterhaufen – Wer war grausamer?

8 Antworten

Was Brutalität anbelangt sind wir alle ziemlich gut gewesen.

Ich kann nicht erkennen das die Naturvölker oder die Kolonialvölker mehr oder weniger grausam gewesen wären.


vanOoijen  02.06.2025, 12:01

Die slawischen Stämme in Norddeutschland und Brandenburg haben im 9. Und 10. Jahrhundert auch noch Menschenopfer gekannt. Sie beteten Götzenbilder wie Svanthevit an, und der wollte ab und zu auch Menschen geopfert bekommen.

Dann wurden sie von den Ottonen christianisiert.

Die Azteken rissen Herzen heraus. Die Europäer perfektionierten den Scheiterhaufen, die Folter, das Strafrecht, den totalen Krieg. Nur ein logistischer Unterschied, der aus Zufall vermutlich entstand.

Die Menschheit ist flächendeckend schuldig – sie teilt sich nur in Täter mit besserem Marketing und solche ohne Budget. Es gibt jedenfalls keine edlen Wilden, keine reinen, und guten Opfer und keine bösen Täter. Jeder agiert mit dem moralischen Verbesserungsdrang im Gewissen und der Lust an der Zerstörung im Muskel.

Die Diskussion ist an sich spannend, aber auch sehr theoretisch und spekulativ - vor allem daher, weil es hierzu ein detaillierteres Wissen über die jeweiligen Kulturen braucht. Und natürlich können wir die Azteken keineswegs mit den Sioux-Völkern oder den Inca zusammenwürfeln: Soweit wir heute wissen, waren die präkolumbischen Kulturen untereinander viel diverser als die europäischen Länder, die bereits mehrfach unter annähernd einheitlicher Herrschaft (z.B. Rom, Fränkisches Reich etc.) gestanden hatten und daher viel engere kulturelle Verflechtungen untereinander hatten.

Viele Chronisten beschreiben außerdem, dass die wahren Grausamkeiten von den europäischen Konquistadoren erfunden und begangen wurden. Sie standen in Brutalität und Einfallsreichtum unseren Schreckensberichten von indianischen Menschenopfern in Nichts nach (wenn sie nicht überhaupt viel schlimmer waren: Aus den Berichten der Spanischen Chronisten wie z.B. B. de Las Casas hat man Völkermorde in einer Dimension von ca. 19 Mio Menschen binnen 50 Jahren errechnet).

Vor allem die Heere der südamerikanischen Völker galten auch als hochentwickelt, gut strukturiert, hervorragend verwaltet und als entsprechend gefährlich. Aber ihre Waffentechnologie war weit unterlegen, da sie keinen Stahl (daher: keine gleichwertigen Schwerter und Rüstungen) und kein Schwarzpulver (Musketen, Kanonen) hatten. Pizarro hatte etwa dennoch große Sorgen, weil die Inca-Kämpfer sehr intensiv die spanischen Kampfstrategien analysiert und umgehend erfolgreich nachgeahmt haben. So wurden sie rasch immer effektiver. In Nordamerika haben die Ureinwohner schnell selbst auch das Pferd von den Spaniern übernommen und domestiziert. Die Völker Amerikas haben sich also im Rahmen ihrer Möglichkeiten(!) durchaus effizient militärisch weiterentwickelt - und wurden dennoch besiegt. Ungeachtet dessen halte ich These Nr. 1 aber als unrichtig.

These Nr. 2 würde ich auch nicht stehen lassen. Viele Völker Eurasiens sind über besiegte Kulturen grausamst barbarisch hergefallen, und das geht bis heute so weiter: Plünderungen, kollektive Erschießungen und Massenvergewaltigungen während der Napoleonischen Kriege oder auch im (bzw. danach) Zweiten Weltkrieg (vor allem durch Deutsche, Japaner, Russen und Chinesen) gab es ebenso wie Arbeits- und Konzentrationslager mit Tausenden und teils Millionen von Toten. Auch neuzeitliche Staaten haben Menschenrechte fremder Kämpfer oder gar Völker kaum beachtet - moderne Beispiele wären Guantanamo oder die Kriege in der Ukraine und Gaza. Richtig ist aber gewiss, dass uns die Sitten der aztekischen und mayanischen Menschenopfer besonders fremd und unverständlich erscheinen und dass wir sie daher möglicherweise in unserer Bewertung besonders stark als "barbarisch" gewichten, ohne daran zu denken, was durch unsere eigenen Kulturen verbrochen wurde. (Spannend vor diesem Hintergrund wären etwa die Berichte über die Inca von G. de la Vega.)

Daher würde ich deine abschließende Frage bezüglich unserer eigenen Geschichtsschreibung (im Sinne von: "Geschichte wird immer nur von den 'Siegern' geschrieben") mit einem klaren, tendenziellen "Ja" beantworten.

Naja ich finde man kann schwer sagen welche Kulturen Gewalttätiger sind, in anderen gab es eben Menschenopfer, die haben teilweise ihre eigenen Kinder geopfert und das auch öffentlich mit großen Zeremonien. Natürlich wurden in Europa auch schlimme Dinge gemacht, wie du ja sagtest der Scheiterhaufen oder andere Sachen. Das Militär ist halt bei uns durch unseren technischen Fortschritt so gewachsen und weil in Europa sich die länder gegenseitig hoch gepusht haben, aber in den anderen Nationen wurden ebenfalls kriege geführt, halt mit anderem Ausmaß weil es die Mittel nicht hergegeben haben.

Die Frage nach der relativen Grausamkeit verschiedener Kulturen erfordert eine differenzierte Betrachtung der historischen Fakten. Beide Kulturkreise praktizierten ritualisierte Gewalt in erschreckendem Ausmaß, jedoch mit unterschiedlichen Motivationen und Methoden.

Die archäologischen Beweise für aztekische Menschenopfer sind überwältigend. Allein am Templo Mayor in Tenochtitlan wurden 603 menschliche Schädel gefunden, die Teil eines enormen Schädelgestells waren. Die Schätzungen für eine einzige Zeremonie zur Tempelweihe reichen von 10.000 bis 80.400 geopferten Personen. Etwa 75% der Opfer waren Männer im Kriegeralter zwischen 20 und 35 Jahren, 20% Frauen und 5% Kinder. Die Azteken perfektionierten ihre Opferrituale mit chirurgischer Präzision: Priester entfernten geschickt das noch schlagende Herz, enthaupteten die Leichen mit obsidianischen Klingen und bereiteten die Schädel für die öffentliche Ausstellung vor. Diese Praktiken dienten der religiösen Überzeugung, dass menschliches Blut notwendig war, um die Götter zu nähren und die Welt am Laufen zu halten.

Die Maya entwickelten ebenfalls ausgeklügelte Opferrituale, einschließlich Enthauptung, Häutung, Verbrennung und sogar Kannibalisierung. Besonders Kinder galten aufgrund ihrer Unschuld als wertvolle Opfer und wurden manchmal von Nachbarstädten gekauft, wobei der Preis in roten Bohnen bezahlt wurde. Diese Praktiken waren tief in der religiösen Weltanschauung verwurzelt und galten als notwendig, um die Götter zu besänftigen.

Europa entwickelte parallel dazu seine eigenen grausamen Hinrichtungsmethoden. Das "Hanged, drawn and quartered" in England war besonders brutal: Verurteilte wurden zunächst auf einem Holzschlitten zum Galgen geschleift, dann gehängt bis kurz vor dem Tod, bei lebendigem Leib ausgeweidet während ihre Eingeweide vor ihren Augen verbrannt wurden, anschließend enthauptet und in vier Teile zerschnitten. Diese Strafe wurde für Hochverrat verhängt und öffentlich vollstreckt, um die Macht der Monarchie zu demonstrieren. Berühmte Opfer waren William Wallace 1305 und Guy Fawkes 1606.

Die europäischen Hexenverbrennungen zwischen 1300 und 1850 kosteten schätzungsweise 45.000 bis 110.000 Menschen das Leben, wobei etwa 84% der Opfer Frauen waren. Diese öffentlichen Hinrichtungen wurden bewusst als soziale Spektakel inszeniert, mit Marktständen und jubelnden Menschenmengen. Das Rad als Folterinstrument verursachte stundenlange Qualen durch systematisches Brechen der Knochen. All diese Praktiken wurden rechtlich oder religiös legitimiert und dienten der Einschüchterung und Machterhaltung.

Wissenschaftliche Studien zeigen interessante Korrelationen: Menschenopfer korrelieren stark mit Bevölkerungsdruck, Kriegen um Land und Ressourcen sowie niedrig hierarchisierten Religionen. Dies deutet darauf hin, dass solche Praktiken oft politische und soziale Funktionen erfüllten, die über reine religiöse Motivation hinausgingen.

Die militärische Entwicklung zeigt tatsächlich Unterschiede: Während Europa kontinuierlich neue Waffentechnologien und Kriegsstrategien entwickelte, blieben viele präkolumbianische Kulturen militärtechnologisch relativ statisch. Dies könnte auf eine geringere strukturelle Ausrichtung auf kriegerische Expansion hindeuten, obwohl Kriege durchaus geführt wurden.

Die Formen der Gewalt unterscheiden sich weniger in ihrer Grausamkeit als in ihrer ideologischen Begründung. Während präkolumbianische Kulturen Menschenopfer religiös als kosmische Notwendigkeit rechtfertigten, legitimierte Europa seine Grausamkeiten juristisch und politisch. Beide Systeme nutzten öffentliche Gewalt zur sozialen Kontrolle und Machtdemonstration.

Die Wahrnehmung besonderer Grausamkeit bei "anderen" Kulturen ist teilweise ein Produkt kolonialer Geschichtsschreibung. Spanische Eroberer übertrieben bewusst die Brutalität der Azteken, um ihre eigene Eroberung zu rechtfertigen. Moderne Forschung zeigt jedoch, dass beide Kulturkreise in erschreckendem Ausmaß ritualisierte Gewalt praktizierten. Die Behauptung einer grundsätzlich friedlicheren präkolumbianischen Welt lässt sich nicht aufrechterhalten, ebenso wenig wie die umgekehrte Behauptung ihrer besonderen Grausamkeit. Beide Gesellschaften entwickelten komplexe Systeme institutionalisierter Gewalt, die in ihrer jeweiligen kulturellen Matrix verwurzelt waren.