Hat das Abi an Wert verloren?

5 Antworten

Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob es tatsächlich an den Anforderungen liegt oder doch vielmehr ein gesellschaftlicher Sinneswandel? Ich persönlich tendiere eher zur letzteren Annahme. Durch Digitalisierung/Social Media haben viel mehr Menschen Zugriff auf unzählige Seiten (TikTok, Instagram, YouTube etc.), um Wissen anzueignen und dem Bestreben nach höherer Bildung. Damals in den 80er beispielsweise gab es sowas nicht. Wird man in einer Arbeiterfamilie geboren, fällt der Apfel nicht weit vom Stamm und man bekommt eben das zugesprochen, was die Eltern und früheren Generationen immer getan haben. Lehre im Handwerk etc. Studium und hohe Bildung war nur den elitären Familien vorbehalten. Das Wissen, das den wohlhabenden und elitären Familien zugesprochen war, genau darauf hat heute jeder Mensch Zugriff. Ob es Investitionen am Aktienmarkt sind oder was auch immer. Das ist meiner Ansicht nach der Grund, wieso es heutzutage mehr Abiturienten und Studierende gibt. Die einzigen, die sich da aufregen, sind alte weiße Männer, die diesem Spektrum der elitären Familie angehören und sich diese Konstellation wie in den 80er wieder zurückwünschen. Das ist meine Wahrnehmung.

Dass es an den inhaltlichen Anforderungen liegt, ist m.E. eine Ausrede der elitären Schicht. Es liegt am Sinneswandel der Gesellschaft und der Bestrebung nach größerer Leistung.


Johannax32  13.10.2024, 21:12

Ein nicht zu vernachlässigender Faktor ist auch, dass ein Hauptschulabschluss mit einer "einfachen" Lehre kaum noch ausreicht, ein anständiges Leben zu sichern. Früher konnte sich jeder Angestellte im einfachen Handwerk ohne Leitungsposition o.ä. ein Haus leisten, jetzt haben sogar Akademiker Probleme mit der Finanzierung. Und das zieht sich auf weitere Bereiche des Lebens fort. Die meisten wollen nicht nur vor sich hin existieren, sondern auch mal z.B. ein Schnitzel essen oder zumindest jährlich z.B. an die Ost-/Nordsee in den Urlaub, d.h. es müssen nicht mal große Reisen sein, lediglich Entspannung.

Mit einem Hauptschulabschluss bekommt man meist nur Ausbildungsplätze, mit denen man später knapp mehr als Bürgergeld verdienen würde, d.h. die sich schlichtweg nicht lohnen.

Bildung ist der einfachste Weg zu einem guten Leben. Abi dauert 2/3 Jahre mehr als ein Realschulabschluss, eröffnet aber so viele Türen.

Wird man in einer Arbeiterfamilie geboren, fällt der Apfel nicht weit vom Stamm und man bekommt eben das zugesprochen, was die Eltern und früheren Generationen immer getan haben.

Ist auch heute noch so gewünscht, weil wir ja auch Putzfrauen und Müllmänner brauchen (das sollen aber bitte stets die anderen machen und zurückstecken)...

Früher war das aber noch nicht so das große Problem, weil man auch so ein ganz gutes Leben haben konnte.

Das Wissen, das den wohlhabenden und elitären Familien zugesprochen war, genau darauf hat heute jeder Mensch Zugriff.

Ich widerspreche. Fakten wissen, sicherlich. Allerdings geht es in der Schule um mehr: es geht um Habitus, Eloquenz, den spielerischen Umgang mit Worten und Literatur, usw. Arbeiterkinder haben es deshalb schwerer, auch wenn das Wissen offiziell überall verfügbar ist.

Altersweise  13.10.2024, 21:33
Wird man in einer Arbeiterfamilie geboren, fällt der Apfel nicht weit vom Stamm und man bekommt eben das zugesprochen, was die Eltern und früheren Generationen immer getan haben. Lehre im Handwerk etc. Studium und hohe Bildung war nur den elitären Familien vorbehalten.

Ich und meine drei Geschwister stammen auch aus einer Arbeiterfamilie und sind in den Sechziger- und Siebzigerjahren aufs Gymnasium gegangen. Immerhin haben drei von uns das Abitur ganz anständig geschafft, ob wohl unsere Eltern uns da keine große Unterstützung leisten konnten.

Der Flynn-Effekt zeigt ein Messproblem bei den IQ-Werten auf, auch wenn auf Basis dieses Effektes vermutet werden kann, dass die Menschheit nicht dümmer sondern immer klüger werden könnte. Zumindest in entsprechenden Gesellschaften.

In "den Wert des Abiturs" fließen dabei zwei Seiten ein

Zum einen gibt es den "Marktwert". Da mehr Personen das Abitur erlangen, ist das Angebot an Arbeitskräften oder Lernenden mit Abitur viel höher und der "Wert" des Abiturs für den Einzelnen gesunken.

Zum Anderen hat der Abschluss für, wie es heißt, die "allgemeinbildende Hochschulreife", immer wieder mit dem stetig wachsenden Wissensumfang in der Gesellschaft zu kämpfen. Die Lehrpläne müssen immer wieder erweitert werden, um den ganzen Stoff noch unterzubringen, zugleich müssen auch Dinge gestrichen werden, denen dann wieder viele hinterher weinen, was den Eindruck erwecken könnte, das vielleicht sogar ganz wichtige Dinge raus gefallen wären. Meiner Einschätzung nach, ist das zwar eine schwierige Balance, die aber – gerade weil teilweise kontrovers über aufzunehmende und einfallende Inhalte gestritten wird – gut eingehalten wird. Meines Erachtens nach erfüllt das Abitur weiterhin den Anspruch, ein allgemeinbildender Abschluss zur Qualifikation einer Hochschulzugangs zu erfüllen. Also ist der inhärente Wert nicht gesunken.

Zugleich verbessern sich stetig Lehrmethoden und es wird immer mehr den Schüler:innen zugewandt der Lehrstoff vermittelt, s. d. es auch immer mehr Personen möglich wird, überhaupt bis in die Qualifikationsphase fürs Abi zu kommen. (Kommen noch Milieu-Effekte hinzu, die immer mehr Kindern ermöglichen, überhaupt das Gymnasium besuchen zu dürfen.)

Das Firmen gerne auf eher besser Ausgebildete zurück greifen, liegt m. E. einerseits an den dann für die Firmen geringeren Ausbildungsaufwände und andererseits am Marktangebot. Es geht einfach, dann wird es auch gemacht.

In der Summe würde ich also eher sagen, dass das Bildungsniveau der Gesellschaft insgesamt besser geworden wäre, was das Abitur im Wert relativiert, aber nicht absolut verschlechtert.

Seinen Zweck als Eintrittskarte an eine Universität erfüllt das Abitur nach wie vor.

Es kommt darauf an, was man dann aus dem Abschluss macht. So ein bisschen Abschluss-Inflation gibt es schon, heute kann auch schon der einfache Sachbearbeiter ein Universitätsstudium abgeschlossen haben. Aber es hindert ihn auch keiner daran, die Extrameile zu gehen und Karriere zu machen.

So gesehen ist ein höherer Abschluss weniger eine Garantie für eine gesicherte Lebensstellung als früher, aber immer noch eine gute Voraussetzung dafür.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung

Das das Abitur einfacher geworden sei - das sind dumme Sprüche, von Leuten, die keine Ahnung haben. Meine Kinder sind gerade in dieser Lebensphase. Die Lehrer (!), die etwa in meinem Alter sind, sagen unisono: Der Lernstoff, den Abiturienten heute beherrschen müssen, ist viel umfangreicher als vor 30 oder 40 Jahren. Jemand, der den Oberstufen-Stoff von Mitte der 1980er Jahre noch perfekt beherrscht, würde damit in einer heutigen Abiturprüfung weniger als 50% der Punkte erreichen.

Dass heute ein grösserer Prozentsatz der Schüler Abitur macht, hat einfach damit zu tun, dass das von den Elterhäusern heute viel intensiver gefordert und gefördert wird. Es ist auch folgerichtig, denn unser Arbeitsleben ist eine Wissensgesellschaft geworden, in der eine umfangreichere Bildung für immer mehr Menschen quasi existenzentscheidend ist. Und Ausbildungsbetriebe stellen zunehmend Abiturienten ein, schlichtweg weil es heutzutage viele davon gibt!

Natürlich ist ein Schulabschluss, den heutzutage mehr als jeder zweite Schüler erreicht, keine "Besonderheit" mehr. Daraus aber zu folgern, es sei einfacher oder anspruchsloser geworden, ist schlicht falsch.


Pseud000 
Beitragsersteller
 14.10.2024, 09:20

Zumindest in Mathematik bezweifle ich das, schau dir nur mal im diesem Video ab 20:40 an, was für anspruchsvolle Mathematik für REALSCHULEN geprüft wurde. Also das sollten 10. Klässler lösen können. Ich glaube jeder Mathelehrer würde zugeben, dass er das in seiner 10. Klasse nicht ohne weiteres stellen kann.

https://m.youtube.com/watch?v=GhmEYB3Kq-o

Meinem Empfinden nach gehen viele Kinder und Jugendliche heute aufs Gymnasium, weil man für bestimmte Berufe einfach einen höheren Abschluss benötigt. Das hat natürlich zur Folge, dass die Anforderungen ein wenig gesenkt werden müssen, um nicht so viele Ausfälle zu haben. Das lässt sich auch daraus ersehen, dass in der Spitzengruppe der Abiturienten heute wesentlich bessere Schnitte erzielt werden als zu meiner Zeit. Eine Abiturnote unter 2,0 galt damals als richtig gut, während heute fast ein Drittel der Abiturienten darunter liegt. Gescheiter sind die Schülerinnen und Schüler aber nicht geworden.

Ich mache diese Beobachtung auch daran fest, dass in meiner Altersgruppe jemand mit einem vernünftigen Hauptschulabschluss und einer anschließenden Lehre noch richtig vorwärts kommen konnte und viele derjenigen, die heute in mittleren Führungspositionen sind, sich hochgearbeitet haben, obwohl sie "nur die Volksschule" besucht haben.


Johannax32  14.10.2024, 14:18

Das ist so nicht korrekt.

https://www.statistik-bw.de/Presse/Pressemitteilungen/2024128

Wie hier ersichtlich pendelte die Durchschnittsnote zwischen 1990 und 2019 zwischen 2,35 und 2,4. Ausreißer ab es von 2004 - 2009 sowie mit Beginn der Pandemie, wobei auch dieser Effekt rückläufig ist.

Weshalb sind nun also die Noten in der Pandemie "besser" geworden?

Grundsätzlich sind die Noten aller Schüler sowohl besser als auch schlechter geworden.

"Schwache" Schüler, die Zuhause keine Förderung und Unterstützung erhalten konnten, evtl. nicht über die nötige Ausrüstung (Internetzugang, Tablet/Pc, aber auch ein ruhiger Lernort wie z.B. ein eigenes Zimmer) verfügen, haben Rückschritte erleiden müssen, die kaum noch aufzuholen sind. Diese Probleme betreffen bevorzugt ohnehin schon benachteiligte Kinder aus "sozialschwachen" Familien.

Auf der anderen Seite kann ich mich noch gut an meine Schulzeit erinnern: Ich empfand es als Qual, täglich so viele Stunden in der Schule abzusitzen. Die Aufgaben der Stunde konnte ich innerhalb weniger Minuten vollständig lösen, durfte mich aber anschließend nicht mit weitergehenden Themen befassen, die aber für die guten Noten unerlässlich sind. Stichwort: Mitarbeitsnote. In der Pandemie fiel dieser Faktor weg, weshalb die ohnehin schon guten Schüler (bevorzugt Gymnasiasten) besser wurden. Der Effekt ist nun rückläufig.

Ich mache diese Beobachtung auch daran fest, dass in meiner Altersgruppe jemand mit einem vernünftigen Hauptschulabschluss und einer anschließenden Lehre noch richtig vorwärts kommen konnte

Du machst es dir sehr einfach...