Wollte Nietzsche eine Aufhebung der Moral oder eine Durchsetzung der Herrenmoral?

3 Antworten

Sklavenmoral ist für Nietzsche gleich christliche Moral. Das zeigt das Zitat aus „Jenseits von Gut und Böse“ Nr. 260: "Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, ihrer selbst Ungewissen und Müden moralisieren: was wird das Gleichartige ihrer moralischen Wertschätzungen sein? ....Es werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, den Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hilfsbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiß, die Demut, die Freundlichkeit zu Ehren ... Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeitsmoral."

Herrenmoral oder die Moral der Mächtigen (siehe: „Der Mensch ist Wille zur Macht und nichts außerdem“, ein zentraler Satz bei Nietzsche) erscheint den Sklaven als Ausfluss „des Bösen“; für die Mächtigen ist es aber umgekehrt so, dass sie, die Furcht-erregenden, „die Guten“ sind und ihre Tugenden gut sind; sie handeln in ihrem Sinne tugendhaft-gut, indem sie den Schwächlichen, Unterwürfigen, Hilfsbereiten, Mitleiderfüllten, Freundlichen als verächtlich einstufen (s. 260: „Jenseits von Gut und Böse“ wo es heißt: „Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen ... gegen alles »Gute«, was dort geehrt wird -, er möchte sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht echt sei.“)

Nietzsche möchte, dass diese Herrenmoral allgemein anerkannt wird. Das wäre aber nur möglich, wenn eine Mehrheit den Satz „Der Mensch ist Wille zur Macht und nichts außerdem“ für sich anerkennt bzw. verinnerlicht. Ob das der Fall ist? Man schaue sich in der Welt um: handeln nicht die meisten nach diesem Satz, obgleich sie nach außen hin so tun, als gelte für sie immer noch die alte christliche Moral: sei ein guter Mensch, helfe den Unglücklichen, sei mitleidvoll etc.?

Nietzsche hat das Verhalten der Mitmenschen genau studiert und konnte nicht anders, als es dem oben genannten Satz vom Willen zur Macht zuzuordnen. Allerdings hat er die christliche Moral unterschätzt. Sie entfaltet weiter eine Eigendynamik. Unzählige Regeln des gesellschaftlichen Lebens kann man auf die christliche Moral beziehen: Steh‘ als junger Mensch in der Straßenbahn auf, wenn ein altes Mütterchen kommt! Oder: Helfe einem Blinden über die Straße! Helfe einem in Notgeratenen (sogar gesetzliche Pflicht!), nimm Rücksicht! (z.B. drängele dich nicht vor!); im Fußball gilt die Parole: Foul-Spiel wird geahndet! Das ganze Strafrecht ist auf Moral aufgebaut: Du darfst nicht stehlen, nicht betrügen, nicht töten usw. Diese Moral muss auch für Nietzsche gelten. Und wie ist es im Zivilrecht? Heißt es hier nicht: sei ein redlicher Kaufmann? Und im Autoverkehr: fahre rücksichtsvoll? – Hier erweist der Spruch von Thomas Mann wieder einmal seine Richtigkeit: Wer Nietzsche wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren. Und er selbst (Nietzsche) hat mal gesagt: man soll seine Thesen als die eines Exoten ansehen und mal darüber diskutieren (dem Sinne nach zitiert bei Rüdiger Safranski).

Woher ich das weiß:Recherche
assibacknang 
Fragesteller
 20.03.2023, 11:36

Danke ! Du bist smart

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assibacknang 
Fragesteller
 20.03.2023, 11:37

Eine Frage: Was genau ist der Wille zur Macht? Also eine Definition davon wäre gut. Ich weiß grob auf was es abzielt, also dass man sich (so wie ich es verstanden habe) seinen Trieben hingeben muss, quasi die Tugenden abschalten. Gibt es da noch was zu erläutern?

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Haldor  20.03.2023, 13:04
@assibacknang

Lieber Assibacknang,

der Begriff Wille zur Macht ist in der Tat etwas missverständlich. Man meint, Nietzsche habe hier Trieb, Instinkt gemeint. Nein, das nicht!

Der Begriff ist zunächst einmal als Metapher gemeint. Alles, was einen Menschen stark und mächtig macht, also Talente, Fähigkeiten, handwerkliche Fertigkeiten, natürlich auch brutale boxerische Fähigkeiten (auch der Typ des Machtmenschen gehört dazu), ist hier gemeint; m.a.W. Talente im umfassenden Sinne verleihen dem Menschen die Fähigkeit, das von ihm eine Aura der Macht ausgeht. Zu dieser Fähigkeit, die zunächst in ihm nur „schlummert“, die er aber zur Machtausübung steigern kann, soll sich der Mensch – sagt Nietzsche – rückhaltlos bekennen, und zwar durch seinen Willen (durch seine Energie). Denn alle anderen bekennen sich auch zu dieser Machtausübung kraft der eigenen Fähigkeiten.

Wie zeigt sich diese Macht. Nehmen wir einen renommierten Pianisten: sein Klavierspiel verzaubert die Zuhörer, er ist von stürmischem Beifall umrauscht. Viele stürmen zu ihm hin, wollen ein Autogramm von ihm. Wird er in der Menge erkannt, starren ihn alle an. Bei einem begnadeten Schauspieler ist es ähnlich. Die Aura der Macht erfasst die Leute, indem sie ihn anstarren. Oder: ein äußerst befähigter Handwerker bringt in einer Wohnung die ganze Haustechnik hervorragend in Ordnung. Das spricht sich herum. Der Mann bekommt massenhaft Aufträge: Auf der Straße erkennt man ihn, blickt ihn ehrfürchtig an, man sagt: ‘Donnerwetter, ist der Mann talentiert!‘ Bei einem Zahnarzt ist es ähnlich usw. „Das Beste soll herrschen, das Beste will auch herrschen! Und wo die Lehre anders lautet, da - fehlt es am Besten!" sagt demgemäß (wieder) Nietzsche.

Nietzsche verabscheute die christliche Moral, weil sie die Schwachen, die Kranken, die Müden, die Untalentierten hätschelt und ihnen „auf die Beine helfen“ will. Das ist für ihn Sklavenmoral. Die Herrenmoral hat für diese Art von Moral nur Verachtung übrig. Der Herr (= der Mächtige) hilft auch dem Unglücklichen, wenn ihm danach zumute ist, d.h. wenn er dazu Lust hat. Er hilft ihm, indem er ihm von seiner vielen Macht etwas (gönnerhaft) abzweigt. Deshalb sagte Nietzsche ja auch: „Güte ist Wille zur Macht!“ (zitiert aus dem Nachlass).

Hat Nietzsche nicht eigentlich Recht? Das Glück auf Erden - sagt er - kann man nur in Form von Genugtuung, Triumph, Erfolg, Überwältigung eines anderen erringen. Das „Weideglück der Lämmer“ - sagt Nietzsche - ist eines Menschen unwürdig.

Allerdings meint andererseits Thomas Mann: Wer Nietzsche wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren!“

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rolfmengert  21.04.2023, 21:02

Wirklich gute Antwort! Vorbildlich!

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Die Position von Friedrich Nietzsche zur Moral ist komplex und oft umstritten. Nietzsche war ein scharfer Kritiker traditioneller moralischer Werte und argumentierte, dass sie den Menschen in seiner Entfaltung behindern können. Er sah in der Moral eine Art von Herrschaftsinstrument, die den freien Geist unterdrückt und die Individualität einschränkt.
Nietzsche befürwortete jedoch nicht einfach eine Abschaffung der Moral im Allgemeinen. Stattdessen forderte er eine Umkehrung der traditionellen moralischen Werte, die er als "Sklavenmoral" bezeichnete. Er schlug vor, dass die Gesellschaft die "Herrenmoral" annehmen sollte, die auf der Stärke und Macht des Individuums beruht, anstatt auf einer Unterwerfung unter die Vorherrschaft der Masse.
Die Herrenmoral fordert eine Art von egoistischem Individualismus, in dem der Einzelne seine eigenen Ziele und Werte im Leben bestimmt, anstatt sich an den Werten der Masse zu orientieren. Diese Werte sollen jedoch nicht absolut oder universell gelten, sondern sollten situativ und kontextuell angepasst werden, um dem Leben und der Entwicklung des Individuums zu dienen.
Insgesamt kann man also sagen, dass Nietzsche eine Aufhebung der traditionellen Moral und die Etablierung einer neuen, auf individueller Macht und Stärke basierenden Herrenmoral befürwortete.

Aussage von ChatGPT. Ich übernehme kein Gewähr für seine Richtigkeit.

assibacknang 
Fragesteller
 18.03.2023, 14:52
Dawg, ich kann ChatGPT auch selbst fragen 😭 
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assibacknang 
Fragesteller
 18.03.2023, 14:53

Aber trotzdem danke, du hilfst einem Homie aus Backnang

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Halbrecht  18.03.2023, 15:11

Gew ä hr .......................Und ChatGPT sollte man gar nix glauben

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Dackodil  18.03.2023, 16:20
@Halbrecht

Glauben nicht, aber bei einer Plausibilitätsprüfung ist die Antwort durchaus plausibel.

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Miniaturwelt  19.03.2023, 00:31
@Dackodil

Auch dann nicht. Die Meinung dazu ist in der Philosophie kaum umstritten.

Diese ist es nicht.

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Wollte Nietzsche eine Aufhebung der Moral oder eine Durchsetzung der Herrenmoral?

Weder noch . N will keine Moral , keine Anleitung anbieten . Er bietet mit der Gegenüberstellung von Herren- zu Sklavenmoral einen Blickwinkel an , mit dem man Moral(en?) analysieren kann .

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ZITATE:
Denn ‚Gut und Böse‘ ist die Differenz, welche es nach Nietzsche zu hinterfragen gilt. Diese Unterscheidung ist eben nicht zeitloser Ausdruck einer universellen Moral, sondern verdankt ihre Herkunft der Sklavenmoral.

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auch der vornehme Mensch ( der mit Herrenmoral ) hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt

Zitate von hier

Harter Stoff , aber nicht schlecht