Wurde Dornröschen in der Originalgeschichte wirklich vergewaltigt, während sie geschlafen hat?

10 Antworten

Vergewaltigungen finden in alten Märchen nicht statt.

Zwillinge bekam die verstoßene Rapunzel, nachdem sie von der Zauberin in die Wüste geschickt worden war. Der Prinz und sie waren aber ein Liebespaar und er wollte sie ja auch mit sich nehmen, was die erboste Alte verhinderte, indem sie ihn in die Rosenhecke stieß, wo er sich die Augen verletzte und erblindete. Als Rapunzel ihn fand, weinte sie und ihre Tränen heilten seine Wunden. Er konnte wieder sehen, freute sich über seine Kinder und nahm seine kleine Familie mit sich in sein Reich.

Dornröschen wurde wachgeküsst und heiratete den Prinzen, der sie erlöst hatte. Glaubst Du im Ernst, ein Mädchen würde ihren Vergewaltiger heiraten? Das sind abartige Phantasien!

Dornröschen wird in keiner Fassung der Brüder Grimm vergewaltigt, auch nicht in der handschriftlichen Urfassung von 1810 nach der mündlichen Erzählung von Marie Hassenpflug. Dornröschen wird durch einen Kuß des Prinzen erweckt/wachgeküßt. Im ganzen Schloß erwacht wieder das Leben und sie feiern Hochzeit.

Vorsicht ist allerdings bei dem Begriff »Originalgeschichte« geboten. Die Märchen beruhen auf Erzählungen und von diesen gibt es oft verschiedene Fassungen. Bei längere Zeit mündlich überlieferten Erzählungen ist es schwierig, festzustellen, was die Originalgeschichte ist.

Das Märchen der Brüder Grimm beruht auf älteren Erzählungen und einige Quellen lassen sich angeben.

Das Märchen »Dornröschen« gehört zum Erzähltyp »Schlafende Schönheit«.

Das Zaubermärchen handelt von einer verwünschten Jungfrau und ihrer Erlösung. Der Erzähltyp gehört zu den Schicksalerzählungen. Eine Verwünschung geschieht, der vorausgesagte Tod des Mädchens an seinem 15. Geburtstag wird von einer guten Fee zu einem todesähnlichen Zauberschlaf abgemildert. Nachdem viele erfolglos versuchten, zu ihr vorzudringen, trifft ein Prinz ein, vor dem die Hindernisse zurückweichen. Es kommt ein zweiter Teil vor, in dem der Prinz (König) eine geheime Beziehung mit der Schönen hat, sie zwei Kinder gebiert und diese von der Ehefrau bzw. Mutter des Prinzen (Königs) mit dem Tod bedroht werden, sie aber gerettet werden und die Ehefrau bzw. Mutter des Prinzen (Königs) mit dem Tod bestraft (bei den Brüdern Grimm »Die [böse] Schwiegermutter«, Kinder- und Hausmärchen [KHM] 84 a bzw. Anmerkungsband).

Berührungen gibt es zur Erzählung von der Walküre (Sigrdrífa bzw. Brynhild), die der Gott Odin wegen Ungehorsams mit einem Schlafdorn in einen Zauberschlaf versenkt und mit einer Schildburg bzw. einem Flammenwall umgibt, so daß nur ein besonders furchtloser Held durchdringen und zu ihr kommen kann.

Bei einer Anzahl von Fassungen über die »Schlafende Schönheit« kommt eine Vergewaltigung vor (sie ist wehrlos, kann nicht ablehnen oder ihr Einverständnis geben), aber nicht durch einen alten Mann. Sie wird schwanger (in mehreren Fassungen mit Zwillingen).

Erzählt wird die Geschichte typischerweise so, daß der Mann »der Richtige« ist. Darin steckt wohl auch ein traditionelles Frauenbild von einem passiven Abwarten.

Im anonymen französischen Roman „Roman de Perceforest“ (um 1320 – 1340 geschrieben; Buch 3, Kapitel 46, 48 und 55) gibt es eine Episode über den jungen Ritter Troylus und Zellandine. Er hat gewisse Skrupel, wird aber von Venus angetrieben und hat GeschlechtsVerkehr mt der Schlafenden. Diese wird schwanger und gebiert einen Sohn. Dieser lutscht ihr nach einiger Zeit die Flachsfaser vom Finger und erweckt sie so. Troylus gibt schließlich auch seine Vaterschaft zu und sie heiraten. Damit wird versucht, die Sache in Ordnung zu bringen/wiedergutzumachen/nachträglich zu legitimieren.

Auch der zweite Teil des katalanischen Gedichts „Blandin de Cornoualba“ (spätes 13. oder frühes 14. Jahrhundert) beruht auf dem Thema der Schlafenden Schönheit, mit den Erzählinhalten des durch Verwünschung bewirkten Zauberschlafs des Mädchens und eines helfenden Vogels.

Eine selbständige Fassung, nicht nur Episode, ist die katalanische Versnovelle „Frayre de Joy e Sor de Plaser“ (14. Jahrhundert). Sor de Plaser, Tochter eines Kaisers, fällt tot um, Frayre de Joy, hat, wie angedeuett wird, Sex mit ihr (was an Nekrophilie grenzt). Sor de Plaser erwacht bei der Geburt des Kindes, ein helfender Vogel (Eichelhäher) hat sie mit einem Lebenskraut wieder zum Leben gebracht, erreicht Zuneigung zum Vater des Kindes und es kommt zur Heirat.

Giambattista Basile (1575 – 1632) ist Autor der frühesten greifbaren Märchenfassung, in der Märchensammlung „Lo counto de li cunti o vero Lo trattenemiento de peccerille“ (Das Märchen aller Märchen oder Unterhaltung für die Jugend) unter anderem (5. Tag, 5. Märchen) „Sole, Luna e Talia“ (Sonne, Luna und Thalia). Der Name der schlafenden Schönheit hat einen Bezug zu Thaleia (griechisch: Θάλεια; »die Blühende«, »die üppig Wachsende«). Nach einer Fassung der griechisch-römischen Mythologie gebiert Thaleia (lateinisch: Thalia) Zwillinge vom Gott Zeus (römisch; Iuppiter), vor dessen Ehefrau Hera (römisch: Iuno) verborgen. Ein König, der sich auf der Jagd befand, entdeckt die schlafende Schönheit, Prinzessin Talia, und »pflückt die Früchte der Liebe«. Dies ist strenggenommen eine Vergewaltigung und auch Ehebruch, weil er verheiratet ist. Talia gebiert Zwillinge (männlich und weiblich, Sole [Sonne] und Luna [Mond] genannt). Nach einiger Zeit saugen die Kinder die Flachsfaser weg und Talia erwacht. Die Ehefrau des Königs entdeckt nach einiger Zeit die Beziehung und will Talia und die Kinder zu Tode bringen. Der rechtzeitig herbeieilende König befiehlt, seine Ehefrau ins Feuer zu werfen und heiratet Talia.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-pentameron-4884/50

Bei Charles Perrault, La Belle au bois dormant (1696; Die schlafende Schöne im Wald; in der Sammlung (Contes de ma Mère l’Oye) endet der Zauberschlaf gerade, als der Prinz kommt und vor dem Bett der Schlafenden kniet. Eine Vergewaltigung geschieht nicht. Die beiden heiraten und haben zwei Kinder, die Tochter Aurore (Morgenröte) und den Sohn Jour ([heller] Tag). Schwierigkeiten gibt es mit seiner Mutter, die aus einem Geschlecht von Ogern (Menschenfressern) stammt. Wütend über das Scheitren ihrer Mordpläne stürzt sie sich am Ende in einen Eimer voll giftiger Tiere und wird aufgefressen.

http://www.zeno.org/M%C3%A4rchen/M/Frankreich/Klaus+Hammer%3A+Franz%C3%B6sische+Feenm%C3%A4rchen+des+18.+Jahrhunderts/Charles+Perrault%3A+Die+schlafende+Sch%C3%B6ne

Informationen enthalten z. B.:

Harald Neemann, Schlafende Schönheit. In: Enzyklopädie des Märchens : Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Daniel Drascek, Helge Gerndt, Ines Köhler-Zülch, Lutz Röhrich, Klaus Roth. Redaktion: Doris Boden, Ulrich Marzolph, Christine Shojaei Kawan, Hans-Jörg Uther. Band 12: Schinden - Sublimierung. Berlin : New York : de Gruyter, 2007, Spalte 13 – 19

Bea Lundt, Vergewaltigung. In: Enzyklopädie des Märchens : Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Heidrun Alzheimer, Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner, Daniel Drascek, Helge Gerndt, Ines Köhler-Zülch, Klaus Roth, Hans-Jörg Uther. Redaktion: Doris Boden, Susanne Friede, Ulrich Marzolph, Ulrike.Chrsitine Sander, Christine Shojaei Kawan. Band 14: Vergeltung – Zypern. Nachträge: Ābī – Zombie. Berlin : New York : de Gruyter, 2014, Spalte 15 - 21

Hans-Jörg Uther, Handbuch zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm. 2., vollständige überarbeitete Auflage. Berlin ; Boston : De Gruyter, 2013, S. 114 - 119

http://www.maerchenlexikon.de/at-lexikon/at410.htm

http://www.heinrich-tischner.de/50-ku/marchen/marchen/dornrosc.htm

http://www.kat.ch/bm/m_dorn.html

In bekannten literarischen Werken (Märchen, Gedichte, Lieder) der frühen Neuzeit gibt es viele Hinweise auf Verbrechen: Aussetzung, Feme, Folter, Gottesurteile, Inzucht, Kindesmissbrauch, Kindstötung, Selbsttötung, Sexualpraktiken, Vergewaltigung, Verstümmelung ...

Offiziell gab es diese Untaten nicht. Die Opfer konnten nicht prozessieren. Es gab praktisch nur diese literarischen verdeckten Hinweise, die man in dieser Zeit durchaus verstand.

Diese Version beruht wohl eher auf der derzeitigen zeitgenössischen Sexualmoral, nach der Sex mit Altersunterschied verwerflich sein soll ("pädophil"). Entsprechend viel Phantasie(n) ranken sich jetzt darum und entsprechend mehr Bewertungen. Allein die "Vergewaltigung" passt nicht in die Zeit des Märchens (18. Jahrhundert).

Da waren grosse Altersunterschiede in Ehen normal. Die Mädchen wurden für heutige Verhältnisse unvorstellabr jung verheiratet, und das an an unvorstellbar viel ältere Männer. Dass es in Ehen zu Sex kommt, war aber auch damals gang und gäbe.

Nur sah darin dann keiner deswegen eine "Vergewaltigung".

Dieses Bewertungsmuster ist erkennbar Phantasie des 21. Jahrhunderts und daher bestimmt keine "Originalgeschichte", ausser eben Original-Phantasie.