Wie entstand die (komplexe) Grammatik?

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"Ganz an den Anfang" kommt man natürlich nicht zurück. Schriftliche Aufzeichnungen gibt es erst aus den Zeiten, als die Menschen zu schreiben begannen (ägyptische Hieroglyphen, Keilschrift der Sumerer).

Dennoch kommt man mit Rekonstruktionen schon recht weit zurück. "Urgermanisch" kennt man einigermaßen.

Man unterscheidet "isolierende Sprachen" (wie z.B. Chinesisch) von "agglutinierenden Sprachen" (wie z.B. Finnisch) oder gar "polysynthetischen Sprachen" (wie z.B. Halkomelem als Beispiel für eine nordamerikanische Indianersprache).

Germanische Sprachen benutzen Präpositionen, das ist kein universelles sprachliches Mittel (Finnisch kann weitgehend darauf verzichten). Wir kennen unbestimmte/bestimmte Artikel (viele Sprachen kennen das nicht). Wir kennen drei Genus (Finnisch kennt keine Genus).

Verben wurden schnell erfunden. Das sehe ich genauso. Die hohe Komplexität von Sprachen wie z.B. Halkomelem liegt vor allem an den vielen Verbformen, die sehr flexibel eingesetzt werden können. Viele "Nomen" sind von Verben abgeleitet

pə́n “get buried”  pə́nəm “plant"
https://en.wikipedia.org/wiki/Halkomelem

Wir sehen das auch an solchen Umschreibungen wie "der mit dem Wolf tanzt" = Name für eine Person, aber zurückgeführt auf ein Verb "tanzen" (da gibt es ja einen Film). Und eine Pflanze ist "etwas, was gepflanzt (eingegraben) wird". (im obigen Beispiel aus Halkomelem).

Die Menschen haben natürlich für dieselbe Sache oft sehr verschiedene Wörter, es gibt viele unterschiedliche Sprachfamilien. "Unsere" Sprache ist eine germanische Sprache, und eine indo-germanische. Finnisch gehört - im weitesten Sinne - zu den uralischen Sprachen (und ist damit auch mit den samojedischen Sprachen Sibiriens verwandt; im übrigen bin ich der Meinung, dass man schon in der finnischen Sprache Korrespondenzen mit Sprachfamilien wie Algonkin oder Salish entdecken kann).

Halkomelem ist eine Salish-Sprache (eine der vielen Sprachfamilien Nordamerikas). Chinesisch ist wieder etwas ganz anderes - eine sino-tibetische Sprache (verwandt mit dem Tibetischen und Burmesischen).

Zu den Lautverschiebungen im Germanischen gibt es im Internet schon einiges zu finden. Menschen passen sich einander an. Jemand fängt mal mit etwas an, und wenn andere das auch gut finden, machen sie es nach. Ich bin kein Schwabe (ich bin Saarländer), dennoch fange ich auch schon an, manche schwäbischen Lautungen ("isch" "koi" "des hebt et") zu übernehmen, da ich seit einigen Jahren nun mal hier wohne.

Wir lernen ja auch unsere Muttersprache, indem wir nachahmen. Und irgendwann bilden wir eigene Sätze damit.

PS: leider geht die moderne Tendenz in der Linguistik gegen die "long-range" Methoden. Ich persönlich bin ein großer Fan der Methoden von Joseph Greenberg (oder Sergej Starostin). Es ist nicht so, dass sämtliche Sprachfamilien/isolierten Sprachen völlig unabhängig voneinander entstanden wären. Sprache ist ein Wechselspiel von Bewahrung ("konservativ") und Innovation.

https://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Greenberg

Die Linguistik kann z.B. zeigen, dass Madagaskar erstmals von Borneo aus besiedelt wurde (nicht von Afrika aus). Sie hatte vorhergesagt, dass die Na Dené Sprachen Nordamerikas mit den jenissejischen Sprachen (Westsibirien) verwandt sind, bevor genetische Untersuchungen an der indigenen Bevölkerung dies (nachträglich) bestätigten.

Auch Rapa Nui (Osterinsel) wurde vom Westen aus besiedelt. Es ist eine malayo-polynesische Sprache (ebenso wie Malagasy).

Man kann auch zeigen, dass jenseits der beiden Seiten des Pazifiks Beziehungen (eine Seite: Ostasien, insbesondere Nordost-Asien, andere Seite: Pazifikküste Kanadas oder Alaskas) bestanden. Die Linguistik bestätigt hierbei die archäologischen Befunde (Erstbesiedlung aus Nordost-Asien, nicht aus Westeuropa).

OlliBjoern  14.01.2017, 01:04

Falls jemand das mit "5" und "6" interessiert:

5 = viisi (fin.)
6 = kuusi (fin.)

5 = öt (ung.) [vet, Khanty]
6 = hat (ung.) [hut, Khanty]

waashi = Hand (in Algonkin)
kut-waashi-ka = Finger (an der) Hand links (= "sechs") (Algonkin)
[diese Analyse ist nicht von mir, sondern von Merritt Ruhlen]

kotwa:šika = 6, aus der Sprache der "Fox"
(ni)kutwaashch = 6, aus der Sprache der "Northeast Cree"

kut > hut ist ein normaler (völlig regelmäßiger) Lautwechsel im Ugrischen (siehe auch "kolme" = 3, fin., aber "harom" = 3, ung.).
(siehe auch "kala" = Fisch, fin., aber "hál" = Fisch, ung.)
(passend auch Mordvinisch (Moksha) "kota" = 6) 

washi > viisi scheint mir auch naheliegend zu sein (man beachte, dass die Form in Khanty noch das "v" bewahrt hat, man sehe auch z.B. vihtta in Sámegiella)

kut-waashi-ka > kuusi (mit Dehnung des ersten Vokals (statt des zweiten langen "a") und Zusammenziehung)

Dies erklärt nicht nur die Algonkin-Formen für die 6, sondern auch die Formen in den beiden (!) finno-ugrischen Ästen für 5 und 6.

 

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Sprachwandelprozesse (so nennt man die Entwicklung von Sprachen) können mehrere Ursachen haben, meist auch nicht nur eine davon:

Der größte Motor ist wohl die Ökonomie. Menschen sind von Natur aus eher faul, zumindest bei der Sprache und beim Sprechen. Hinter Ökonomie steckt aber auch noch der Aspekt der Effektivität? Wir landen bei: Was muss mindestens wie gesagt werden, damit ich optimal verstanden werde?

Da sich auch die ganze Welt verändert, braucht man ab und zu auch neue Wörter für Dinge oder Sachverhalte, die es vorher nicht gab. Hier spricht man vom Aspekt der Innovation.

Sprache ist sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Sprecher/Schreiber und Hörer/Leser.

Dialekte sind regionale Variationen, die sich, weil sie eben zur erfolgreichen Kommunikation nicht erforderlich sind, nicht weiter ausbreiten. Sie können ja sogar kommunikationsstörend sein! Dialekte sind sozusagen persönliche Sprechweisen einer bestimmten Gruppe. Gleiches gilt auch für bspw. Soziolekte, also die Sprechweisen bestimmter sozialer Gruppen. Solche Variationen sind identitätsstiftend und gruppenstärkend, denn Sprache dient nicht nur der Verständigung.

Damit eine Veränderung aber tatsächlich eine Sprache wandelt, muss diese Veränderung lange Zeit von vielen, vielen Sprechern so realisiert werden. Erst wenn ein Phänomen ausreichend häufig auftritt, spricht man von einem Sprachwandel. Das Beibehalten eines neuen Phänomens, das dann "zur Norm" wird, nennt man Stafettenkontinuität.

Sprachwandel ist im Allgemeinen ein natürlicher Prozess und nur dann auch am "erfolgreichsten". Das sieht man an Reformen wie bspw. den Rechtschreibreformen: Hätte sich die Rechtschreibung von alleine gewandelt (jemand schreibt immer ss statt ß, andere machen es nach, immer mehr machen es nach, Schneeballprinzip, bis quasi jedes Schneeflöckchen aufgerollt ist), dann wäre das Ergebnis sicherer und es gäbe auch weniger Protest dagegen, weil Sprachwandel eher unbewusst abläuft. Ich bin zum Beispiel gespannt, wann es "weil + Verbzweitstellung" in den Duden schafft. Noch gibt es da großen Widerstand bei einigen, andere benutzen diese Konstruktion ganz selbstverständlich auch schon im Schriftlichen.

Spielwiesen  14.01.2017, 11:42

Danke - ich bin auch gespannt, wann das Gebot der Inversion nach 'weil' fällt. Auf meiner inneren Nerv-Liste stehen auch all die Bespiele, wo Abstrakta in den Plural gesetzt werden, obwohl sie im Singular stehen müss(t)en - dieses Phänomen wird langsam inflationär. 

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Spannend dazu ist dieser Artikel: Sprache - Die Ur-Grammatik -http://www.sz.de/1.468220

Aussendienst 
Fragesteller
 13.01.2017, 22:55

"Doch die Grammatik der Schriftsprache hat bislang keine Spuren in der Gebärdensprache hinterlassen: Es wird stets erst das Subjekt, dann das Objekt und am Ende das Verb gestikuliert - die gesprochene Sprache des Dorfes hat einen ganz anderen Aufbau. "Eine Sprache entlehnt ihre Grammatik eben nicht von anderswoher", sagt Aronoff, "nur Vokabeln werden gerne übernommen." Das ließe sich für jede Sprache sagen."

Das finde ich sehr interessant. Ich hätte eher das Gegenteil angenommen.

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Lichtpflicht  13.01.2017, 23:07
@Aussendienst

Ja :) interessant fand ich aber auch, dass die Sprache auf vier Geschwister zurückgeht, wegen denen letztlich am Ende das ganze Dorf die Sprache spricht. Klar, sie müssen eben viel Kontakt mit allen gehabt haben. 

Anscheinend gab es für Sprachentwicklung schon "Initiatoren", also Leute die etwas erfunden haben (wahrscheinlich nicht weil sie viel Zeit und Muße und Kreativität hatten, sondern weil sie sich zwangsläufig irgendwie verständigen mussten). 

Ich denke, Sprache hat sich aus der Notwendigkeit heraus entwickelt und wurde immer komplexer, weil die Welt immer komplexer wurde und es neue Dinge und Sachverhalte gab, die man benennen musste wenn man darüber reden wollte. 

Allein vom Höhlenmensch mit Stamm zum Bauern im kleinen Königreich, stell dir all die Wörter vor die erfunden werden mussten um so komplexe Sachverhalte wie Landbesitz, Landverkauf, König, Ehe oder Erbschaft zu diskutieren...

Ich meine diese vielen Wörter und Begriffe die wir heute haben die mein Opa als er Kind war absolut nicht kannte... Sprache entwickelt sich schnell. 

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OlliBjoern  13.01.2017, 23:27
@Aussendienst

Man kann das gut an heutigen Sprachen beobachten (Wörter werden übernommen, aber nicht die Grammatik).

Wir sagen "Sauna" (wie die Finnen; finnisches Lehnwort), wir sagen aber "in der Sauna" (deutsche Grammatik: Präposition + best. Artikel + Nomen).

Finnisch heißt "in der Sauna" "saunassa" (finnische Grammatik: Nomen + agglutinierte Kasusendung; kein Artikel, kein Genus).

Wir übernehmen das finnische Wort, nicht deren Grammatik.

Umgekehrt aber auch.

Die Finnen sagen auch "auto", und "im Auto" ist natürlich "autossa". Das europäische Wort wird übernommen, aber die finnische Grammatik beibehalten.

Die wenigen Verwandtschaften Finnisch - Ungarisch kann man vor allem im Bereich der Grammatik beobachten, weniger (aber auch etwas) im Wortschatz.

háznal = beim Haus (ung.)       [Adessiv]
háztol = vom Haus weg (ung.) [Ablativ]

talolla = beim Haus (fin.)       [Adessiv]
talolta = vom Haus weg (fin.) [Ablativ]

Die Wortstämme sind hier verschieden (ház vermutlich eine Entlehnung), aber Adessiv und Ablativ werden sehr ähnlich gebildet. (und einen Ablativ mit -tl gibt es sogar in manchen nordamerikanischen Indianersprachen, die ebenfalls zu den "head-marking" languages gehören, die also ohne unsere getrennten "Präpositionen" arbeiten, sondern nach agglutinierenden Prinzipen arbeiten)

Grammatik ist konservativ, wenn man Isländisch liest, versteht man oft die Stämme nicht, aber wenn man sich die Grammatik anschaut, ist diese sehr "deutsch" (natürlich auch mit Unterschieden). Schwedisch und Englisch haben eine Art "vereinfachte" Grammatik erhalten, aber Deutsch und Isländisch sind noch näher an der germanischen Grammatik (mit Dativ und Akkusativ).

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Tolle Frage!
Offenbar besteht bei dir die Vorstellung, dass bis zur Entstehung einer komplexen Grammatik die Menschen nur gutturale Brülllaute ausgestoßen haben, um sich zu verständigen. Das finde ich interessant.

Über die Jahrtausenden gab es natürlich auch in jeder Sprache eine mündlich angewandte Grammatik mit flexibler Wortstellung, die je nach Mensch und je nach gewünschter Bedeutung stark variieren konnte. Älteste Sprachdokumente sind Inschriften in Stein, wenn man Glück hat, auch auf Papier. Da das Schreiben bzw. Meißeln mühsam war, beschränkte man sich nur auf wichtige Aussagen. Mit der mündlichen Sprache waren diese Denkmäler aber nicht vergleichbar. 

Außer Füßen, Pferden und Kutschen und Schiffen gab es noch keine Transportmittel, die zur schnelleren sprachlichen Entwicklung hätten beitragen können. Wandernde Gesellen, reisende Kaufleute und Feldzüge konnten solche Entwicklungen befördern.  

Interessant ist der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Durch den Einfluss des Lateins und der Kirche waren Klöster diejenigen, welche  schriftliche Werke in lateinischer Sprache verfassten und kopierten - angefangen mit der Bibel, aber auch Anweisungen, Erlasse und Verfügungen und Verträge - zuerst auf Lateinisch. 

Aus dem frühen Mittelalter sind Werke von Dichtern und Dokumente überliefert, die in der Volkssprache geschrieben wurden (Poesie, Kreuzzugsberichte, Verträge z.B.). Da fällt einem auf, wie differenziert die Wortwahl schon war, und daraus kann man Rückschlüsse auf die Sprechweise gebildeterer Schichten und des einfachen Volkes ziehen. Allerdings wurden Worte oft unterschiedlich geschrieben, so dass man nur beim lauten Lesen am Klang erkennen kann, um welches Wort es sich handeln musste. 

Diese alten Dokumente stammen aus den Zeiten VOR der Sprachnormierung, die - je nach Land - ca. ab Mitte des 15. Jahrhunderts die Schreibung und Lautung regelte. 

 Nach dem ganz starken Einfluss durch die Römer, die ihre lateinische Sprache bei Kriegszügen durch ganz Europa trugen, später dann der der Kirche und der Bibel in lateinischer, griechischer und hebräischer Sprache folgte deren Übersetzung durch Dr. Martin Luther. Er schuf als erster eine einheitliche Schreibweise für die Lautung und war damit Urheber eines Grundlagenwerkes. Das hatte riesige Auswirkungen auf die Sprachentwicklung, da zur gleichen Zeit der Buchdruck dafür sorgte, dass in Rekordzeit die Verbreitung von Informationen mit Flugblättern, Büchern und Pampfleten möglich war.

Es gibt Bücher über die Entwicklung der Sprachen, wo man das alles noch viel schöner nachlesen kann! Google mal.

Ich hoffe, ich konnte dir ohne zuviel Fachchinesisch weiterhelfen.

Nachtrag: Schau dir mal großartige Bauwerke aus alten Zeiten an, und stell dir mal vor, mit welchem Wissen die errichtet wurden: allein diese Leistungen setzen voraus, dass Menschen, die so etwas Großartiges vollbracht haben, doch eine ganz ausgefeilte Sprache gesprochen haben müssen! !

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Sprachen machen Spaß!

Es gibt verschiedene Sprachen. zB  Polnisch

"Flektierender Sprachbau – Wikipedia"
Und  zB Mozedonisch:
Im mazedonischen gibt es bei den Substantiven keine Fälle. Fälle, falls man es so bezeichnen kann, gibt es nur bei den Personalpronomen
jas         ti                   toj ...
moj          tvoj                negov ...
mene     mi       tebe       ti      nemu mu ...
mene       me          tebe    te    nego go ....
Dort gibt es Vocativu, so wie in Polnischen - 7-Fall