Was hat Aristoteles damit gemeint?

8 Antworten

Die Aussage drückt aus, ihm seien beide lieb, Platon und die Wahrheit, aber die Wahrheit noch mehr („lieber“ ist Komparativ). Die Wahrheit habe für Aristoteles eindeutig Vorrang. Sie werde von ihm noch mehr geliebt.

Dies bedeutet, um der Wahrheit willen (aus Liebe zur Wahrheit) seinem (ehemaligem) Philosophielehrer Platon auch zu widersprechen, Einwände und Vorbehalte gegen Gedanken Platons zu äußern und philosophische Standpunkte zu vertreten, die zu Auffassungen Platons entgegengesetzt sind bzw. von ihnen abweichen.

Wenn jemanden die Wahrheit lieber ist, folgt daraus, auch persönliche Beziehungen und Gefühle der Freundschaft zu nahestehenden Personen zurückzustellen und der Wahrheit den Vorzug zu geben.

Wer so etwas aussagt, nimmt für die eigene Auffassung Wahrheit oder zumindest eine starke Überzeugung in Anspruch, sehr gute sachliche Gründe zu haben, sie für richtig zu halten.

In der griechischen Sprache heißt „lieb“, „befreundet“ φίλος/φίλη/φίλον (philos/phile/philon) und φιλία (philia) bedeutet „Liebe“, „Zuneigung“, „Freundschaft“. Im Wort „Philosophie“ (φιλοσοφία [philosophia]) steckt dies als erster Bestandteil. Es wird eine Liebe zu Wissen/Erkenntnis/Einsicht/Weisheit ausgedrückt. Echte Philosophinnen/Philosophen streben nach Wahrheit.

Aristoteles ist 20 Jahre lang (367 – 347 v. Chr.) Schüler und Mitarbeiter/Lehrender in der platonischen Akademie gewesen. Platon ist ein ihm nahestehender Mensch, es gibt bei Aristoteles Gefühle von Respekt und freundschaftlicher Verbundenheit zu seinem Philosophielehrer. Zugleich hatte Aristoteles aber auch eigenständige Gedanken.

Nach Platons Tod ist Aristoteles nicht als Mitglied in der platonischen Akademie geblieben und hat nach einiger Zeit eine eigene Philosophieschule in Athen eröffnet.

Das Verhältnis, das Aristoteles zur Ideenlehre Platons hat, ist verwickelt. Aristoteles kritisiert Aussagen, die ein philosophisches Konzept der Ideen vertreten (womit er sich auf Platon bzw. Mitglieder und Anhänger der platonischen Akademie bezieht), hat aber selbst mit seinen Gedanken zum Wesen/zur Wesenheit/zur Seiendheit/zur Substanz (οὐσία [ousia]) ein philosophisches Konzept des Allgemeinen, das bei allen Abänderungen und eigenen Ausprägungen erhebliche Ähnlichkeiten mit der Ideenlehre Platons hat und der Sache nach ihr nicht sehr fern steht.

In der Fragebeschreibung ist der Ausspruch in einer Kurzformel zitiert. In lateinischer Sprache ist sie (erst später zu einer solchen festen Wendung geworden):

amicus Plato, sed magis amica veritas.

„Platon ist (mein) Freund, aber die Wahrheit ist (noch) mehr Freundin.“ „Platon ist (mir) lieb, aber die Wahrheit lieber/mehr lieb“.

Das Originalzitat steht bei Aristoteles, Nikomachische Ethik 1, 4.

Aristoteles leitet darin Einwände gegen Platon und die platonische Akademie mit einer Vorbemerkung ein, die einerseits eine freundschaftliche Beziehung betont, aufgrund derer es eine Schwierigkeit darstellt, eine solche Untersuchung durchzuführen (jemand argumentiert nicht gerne, um zentrale Gedanken von Personen, die einem lieb sind, zu zerpflücken), andererseits sein eigenes philosophisches Angebot aufwertet, indem seine Darlegung als auf die Wahrheit zielende sachliche Auseinandersetzung erscheint.

Aristoteles kritisiert danach in ausgiebiger Erörterung die Idee des Guten (ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα [he tou agathou idea]). Die Kritik ist scharfsinnig, aber nicht in jeder Hinsicht überzeugend. Vor allem aber kann stark angezweifelt werden, ob Aristoteles ein richtiges Verständnis von Platons Konzept der Idee des Guten als etwas Allgemeines zugrundlegt. Aristoteles stellt dies so dar, als wäre dabei das Allgemeine (καθόλου) eine abstrakte Verallgemeinerung, die nur die allen Einzeldinge gemeinsamen Merkmale umfaßt, die nach Weglassung der individuellen Merkmale übrigbleiben und grundsätzlich nicht über die Ebene der Einzeldinge hinausreicht.

Daher kann überlegt werden, ob Aristoteles absichtlich eine Mehrdeutigkeit des Begriffes durch gleichlautende Namen mit verschiedener Bedeutung (Homonymie) ausnutzt, um sich in einer Konkurrenzsituation in Szene zu setzen.

Albrecht  13.09.2015, 08:22

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1, 4, 1096 a 11 – 16:

τὸ δὲ καθόλου βέλτιον ἴσως ἐπισκέψασθαι καὶ διαπορῆσαι πῶς λέγεται, καίπερ προσάντους τῆς τοιαύτης ζητήσεως γινομένης διὰ τὸ φίλους ἄνδρας εἰσαγαγεῖν τὰ εἴδη. δόξειε δ᾽ ἂν ἴσως βέλτιον εἶναι καὶ δεῖν ἐπὶ σωτηρίᾳ γε τῆς ἀληθείας καὶ τὰ οἰκεῖα ἀναιρεῖν, ἄλλως τε καὶ φιλοσόφους ὄντας· ἀμφοῖν γὰρ ὄντοιν φίλοιν ὅσιον προτιμᾶν τὴν ἀλήθειαν.

„Es ist aber wohl besser, das Allgemeine zu betrachten/untersuchen und durchzugehen/die Frage aufzuwerfen, wie es gemeint ist, obwohl eine solche Untersuchung schwierig/widrig ist, weil befreundete Männer die Ideen eingeführt haben. Es scheint aber wohl besser und notwendig zu sein, zur Rettung der Wahrheit sogar das Eigene/Vertraute/Befreundete zu beseitigen, zumal als Philosophen; denn beides ist mir lieb, aber die Wahrheit vorzuziehen.“

Aristoteles, Werke. Band 3: Die Nikomachische Ethik. Eingeleitet und übertragen von Olof Gigon. Zürich : Artemis-Verlag, 1951 (Die Bibliothek der Alten Welt), S. 60:  

„Wichtiger ist es wohl, den Begriff des Universalen zu untersuchen und sich zu fragen, wie er gemeint sei; freilich widerstrebt eine solche Untersuchung, da uns befreundete Männer die Ideen eingeführt haben. Es scheint aber besser und eine Pflicht der Wahrheit gegenüber zu sein, auch die eigenen Empfindungen nicht zu schonen, zumal da wir Philosophen sind. Denn da beide uns lieb sind, so dürfen wir es doch verantworten, die Wahrheit vorzuziehen.“

Aristoteles, Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien. 4., durchgesehene Auflage. Hamburg : Meiner, 1985 (Philosophische Bibliothek ; Band 5), S. 6:  

„Besser ist es vielleicht, auf das Universelle das Augenmerk zu richten und die Frage zu erörtern, wie dasselbe gemeint ist. Freilich fällt uns diese Untersuchung schwer, da befreundete Männer die Ideen eingeführt haben. Es scheint aber vielleicht besser, ja sogar Pflicht zu sein, zur Rettung der Wahrheit auch die eigenen Empfindungen nicht zu schonen, zumal da wir Philosophen sind. Denn da beide uns lieb sind, ist es doch heilige Pflicht, die Wahrheit höher zu achten.“

Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzt und erläutert von Franz Dirlmeier. 10., gegenüber der 6., durchgesehenen, unveränderte Auflage. Berlin : Akademie-Verlag, 199 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, herausgegeben von Hellmut Flashar ; Band 6), S. 9 – 10:  

„Es wird vielmehr zweckdienlich sein, das oberste Gut, sofern es als allgemeine Wesenheit gedacht wird, zu betrachten und zu zergliedern, wie dies gemeint sei. Freilich wird dies eine peinliche Aufgabe, weil es Freunde von uns sind, welche die „Ideen“ eingeführt haben. Und doch ist es zweifellos besser, ja notwendig, zur Rettung der Wahrheit sogar das zu beseitigen, was uns ans Herz gewachsen ist, zudem wir Philosophen sind. Beides ist uns lieb - und doch ist es heilige Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben.“

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Albrecht  13.09.2015, 08:30

Bei Platon gibt es Aussagen von Dialogfiguren, die ähnlich die Wahrheit vorziehen (Platon, Phaidon 91 c bezogen auf Sokrates; Platon, Politeia 595 b - c bezogen auf Homer).

Hellmut Flashar, Die Platonkritik (I 4). In: Aristoteles: Nikomachische Ethik. Herausgegeben von Otfried Höffe. 3., gegenüber der 2. bearbeiteten, unveränderte Auflage. Berlin : Akademie-Verlag, 2010 (Klassiker auslegen ; Band 2), S. 64 - 65:

„Nachdem Aristoteles aus der Betrachtung der Lebensformen keinen brauchbaren Aufschluß über das höchste menschliche Gut, über den Inhalt der Eudaimonie gewonnen hat, wendet er sich immer noch nicht der Entfaltung des eigenen Ansatzes, sondern der Untersuchung des Guten als einem Allgemeinbegriff (to katholou: 1096a11) und damit der Auffassung Platons zu, die er kritisiert und ablehnt. Das ist im thematischen Aufriß der Nikomachischen Ethik der Ort der Platonkritik, der er das ganze Kapitel I 4 widmet.

Aber auch diese Kritik ist bemüht, zunächst das Gemeinsame herauszustellen und sich nicht zu schroff zu geben. aus einer Reihe von Zeugnissen, daß Aristoteles die Platonische Ideenlehre von Anfang an abgelehnt hat. Hier, in der Nikomachischen Ethik, bedauert Aristoteles geradezu, daß Platon “die Ideen eingeführt” hat (eisagagein ta eidê, 1096a13). So ist es ihm geradezu peinlich, eine derartige Untersuchung anstellen zu müssen, sind es doch “befreundete Männer” (philous andras, 1096a13), gegen die er sich nun wenden muß.

Man wird diese Äußerung nicht so zu verstehen haben, daß Aristoteles noch förmliches Mitglied der Platonischen Akademie gewesen sei, als er diese Zeilen schrieb. Aber sie sind Ausdruck einer inneren Nähe, die sich Aristoteles gegenüber Platon immer bewahrt hat. Dabei dürfen wir bei allem innerphilosophischen Disput auch nicht vergessen, daß die Platonische Akademie und die Schule des Aristoteles durch viele Gemeinsamkeiten verbunden sind, etwa durch die Abgrenzung gegen gleichzeitige Kräfte wie z. B. die Rhetorenschulen, die zum Teil, so bei Isokrates, ebenfalls Anspruch auf das Wort “Philosophie” und damit auf die Erziehung des Menschen machten. Zudem hat Aristoteles seine so persönlich klingende Bemerkung über die “befreundeten Männer” literarisch stilisiert. Er spielt sichtlich an auf eine berühmte Stelle im 10. Buch der Platonischen Politeia (595bc), mit der Platon seine vorzugsweise an Homer geführte Dichter-Kritik einleitet: “Eine gewisse Liebe (philia) und Ehrfurcht von Kindheit an” habe Platon Homer gegenüber gehegt, der doch “der erste Lehrer und Wegbereiter” gewesen sei. Homer der “Lehrer” Platons und Platon der Lehrer des Aristoteles – das ist die Analogie. Auch die Fortsetzung ist ganz parallel. Bei Platon heißt es: “Man darf einen Mann nicht höher als die Wahrheit schätzen, vielmehr muß, was ich zu sagen habe, gesagt werden.” Das greift Aristoteles in seiner Fortsetzung auf: “Es scheint aber vielleicht besser, ja sogar Pflicht zu sein, zur Rettung der Wahrheit auch das Eigene (die eigenen Empfindungen) hintanzustellen, zumal wir ja Philosophen sind. Denn da beide uns nahestehen, ist es doch heilige Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben” (1096a14–17). Diese berühmten Worte - aus ihnen hat sich das bekannte Dictum “amicus Plato, sed magis amica veritas” entwickelt - zeugen von der vornehmen Gesinnung der Ehrfurcht Platon gegenüber gerade auch in der Kritik, die Aristoteles unter Verwendung von Gedanken Platons selbst geschickt einleitet.“

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Albrecht  13.09.2015, 08:32

Hellmut Flashar, Aristoteles : Lehrer des Abendlandes. 2 ., durchgesehene Auflage. München : Beck, 2013, S. 70 – 71:  

„Aristoteles lässt jedoch diesen Faden der Erörterung liegen, um sich einer ausgedehnten Platonkritik zuzuwenden, in der fünf Argumente gegen die platonische Lehre und anschließend Einwände gegen die Kritik diskutiert werden. Berühmt geworden ist die Einleitung zu dieser Kritik:

Es wird vielmehr zweckdienlich sein, das oberste Gut, sofern es als allgemeine Wesenheit gedacht wird, zu betrachten und zu zergliedern, wie dies gemeint sei. Freilich wird dies eine peinliche Aufgabe, weil es Freunde von uns sind, welche die Ideen eingeführt haben. Und doch ist es zweifellos besser, ja notwendig, zur Rettung der Wahrheit sogar das zu beseitigen, was uns ans Herz gewachsen ist, zudem wir Philosophen sind. Beides ist uns lieb - und doch ist es heilige Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben (I 4, 1096 a 11-1097 a 14).

Diese Zeilen sind Ausdruck einer inneren Nähe, die Aristoteles Platon gegenüber immer bewahrt hat, erkennbar an einer Warmherzigkeit des Tones, wie sie bei Aristoteles nicht oft zu finden ist. Zugleich ist die so persönlich klingende Bemerkung über die Freunde, die die Ideen eingeführt haben, literarisch stilisiert. Es ist eine Anspielung auf einen Passus, mit dem Platon im 10. Buch des Staates (595 BC) seine vornehmlich an Homer geübte Kritik an den Dichtern einleitet: «Eine gewisse Liebe und Ehrfurcht von Kindheit an» habe Platon Homer gegenüber bewahrt. Homer sei «der erste Lehrer und Wegbereiter für alle tragischen Dichter» gewesen. Auch in der Fortsetzung knüpft Aristoteles an Platon an. Bei Platon heißt es: «Man darf einen Mann nicht höher schätzen als die Wahrheit. Vielmehr muss, was ich zu sagen habe, gesagt werden.» Diesen Satz greift Aristoteles erkennbar auf, um die Aussage noch zu steigern. Später ist daraus das lapidare Dictum: «Amicus Plato, sed magis amica veritas» geworden («Platon ist ein Freund, aber eine größere Freundin ist die Wahrheit»), in der lateinischen Form zuerst belegt bei Roger Bacon im 13. Jahrhundert.

Die im Folgenden vorgetragenen Einwände gegen die Ideenlehre laufen darauf hinaus, dass eine Idee des Guten oder der Allgemeinbegriff «das Gute selbst» für die Beschreibung einer handlungsorientierten Ethik unbrauchbar sind. Kompliziert wird die Darlegung dadurch, dass Aristoteles anschließend einen offenbar aus dem Schulbetrieb erwachsenden Einwand gegen seine Kritik der platonischen Lehre diskutiert (1096 b 8: «Gegen das bisher Gesagte taucht ein Einwand auf» ...), derart, dass die Idee des Guten sich im Sinne Platons nicht auf jede Erscheinungsform von «gut» beziehe, sondern nur auf die Güter, die um ihrer selbst willen erstrebt werden. Aristoteles trägt dem Einwand Rechnung und kommt schließlich auch dann zu dem Ergebnis, dass es «das Gute» als etwas Gemeinsames im Sinne einer einzigen «Idee» nicht gibt und wenn es das gäbe, es für das Handeln unbrauchbar wäre.“

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Albrecht  13.09.2015, 08:40

Christian Pietsch, Die Strategie des Aristoteles im Streit um die Platonische Ideenlehre. In: Nils C. Bandelow/Simon Hegelich (Hrsg.), Pluralismus - Strategien - Entscheidungen : eine Festschrift für Prof. Dr. Klaus Schuber. 1. Auflage. Wiesbaden : VS-Verlag, 2011, S. 133 – 134:

:„Die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen von ‚allgemein' ist seit Aristoteles fest etabliert und wurde von der späteren platonisch-aristotelischen Tradition auch immer festgehalten. Sie erfüllt - ganz unabhängig von ihrer Rolle in der Ideendebatte - eine wichtige und sinnvolle erkenntnistheoretische Funktion. In der Argumentation gegen die ldeenlehre jedoch tauscht Aristoteles, ohne dies kenntlich zu machen, das ursprünglich und eigentlich gemeinte Platonische Verständnis vom ontologisch primären Allgemeinen gegen ein anderes, von Platon nicht intendiertes Verständnis vom abstrakten Allgemeinen aus. Dessen vermeintliche Hypostasierung als Idee, d. h. dessen Aufwertung zu einer ontologisch primären Entität durch Platon, kann Aristoteles dann in aller Ruhe widerlegen, während die immer gleichen sprachlichen Termini koinón oder kathólou suggerieren, es gehe noch immer um denselben, von Platon gemeinten Sachverhalt. Damit ist die Strategie des Aristoteles im Umgang mit der Platonischen Ideenlehre durchschaut. Den ansonsten von ihm bekämpften Missbrauch der Homonymie versteht er auch selbst bei Bedarf zielgenau einzusetzen.

Warum ist Aristoteles so vorgegangen? Hier kann man nur vermuten. Eustratius etwa äußert über den Dissens der beiden Koryphäen, Aristoteles habe nur deshalb die Ideenlehre problematisiert, um durch die offenkundige Unredlichkeit der Argumentation die wahre Sicht Platons sogar noch zu stützen (50,30-33). Wenn man diese - wohl nicht ohne ironischen Unterton vorgetragene - Verlegenheitslösung nicht akzeptieren will, und wenn man auch nicht an ein völliges Missverständnis auf Seiten des Aristoteles glauben möchte, ergibt sich die Erklärung am ehesten aus der Konkurrenz der Schulen. Aristoteles war in seiner zweiten Athener Zeit ab 335/343 v. Chr. nicht mehr in die Akademie zurückgekehrt, sondern hatte eine eigene Schule gegründet. In ihr vertrat er jedoch als Schüler Platons und langjähriges Mitglied der Akademie nicht auf einmal eine radikal abweichende Lehre, sondern Auffassungen, die zwar im Rahmen der bekanntermaßen nicht geringen intellektuellen Selbständigkeit der Akademiemitglieder durchaus eigene Prägungen und Schwerpunkte besaßen, aber doch auch deutliche Affinitäten zu Platons Lehre und zu dem in der Akademie als allgemein konsensfähig Angesehenen aufwiesen. Über die tatsächlich vertretenen Lehrinhalte war also eine eindeutige, scharfe Abgrenzung von der Akademie kaum möglich. Ist es da nicht plausibel, dass gerade die Ähnlichkeiten der Lehre eine von der Sache her nicht immer ganz redliche, polemische Abgrenzung nahe legten? Polemik galt in der Antike als legitimes Mittel der Selbstdarstellung und der Werbung eigene Sache. Vorzugsweise an einer der zentralen Stellen Platonischen Denkens, an der Ideenlehre, wurde durch gezielte Unterschiebung eines falschen begrifflichen Verständnisses eine - faktisch gar nicht existierende - sachliche Konkurrenz konstruiert, die allerdings zugleich solche sachlichen Schwächen aufwies, dass sie leicht widerlegbar war. Die konkurrierende Lehre konnte so in einem beeindruckenden Schaukampf spektakulär immer wieder - scheinbar - ins Herz getroffen werden. Der immer wieder neu erfolgreiche Matador steht vor den Augen des Publikums als strahlender Sieger da.

Es ist dieser Einsatz der Homonymie ein Stück antiker rhetorischer Strategie, die nicht nur von Sophisten mit Erfolg benutzt wurde. Zu dieser Strategie gehört es auch, wenn Aristoteles die besprochene Stelle der Nikomachischen Ethik mit der ehrerbietigen Bemerkung eröffnet, die Untersuchung des Begriffs kathólou falle ihm nicht leicht, da es ja befreundete Männer (philoi ándres) gewesen seien, die die Ideen eingeführt hätten (1096 a 12f). Auch diese Geste der Freundschaft ist, wenn in der bisherigen Deutung etwas Richtiges getroffen ist, als Teil der Strategie zu sehen, steigert doch das zur Schau getragene persönliche Bedauern, das pietätvolle, mühsame Überwinden persönlicher Beziehungen um der Wahrheit willen noch den Eindruck, es gehe wirklich nur um die Sache, und verschleiert so die primär strategische, gerade nicht an einer sachlichen Auseinandersetzung mit Platon interessierte Zielsetzung des Aristoteles.“

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Thelema  13.09.2015, 15:39
@Albrecht

Das geht über eine schnöde Antwort weit hinaus. Dadurch wird die konkrete Antwort vielleicht etwas verdeckt, aber eine Menge Hintergrund und viel Arbeit - ich verneige mich vor dir! (Und hab mir deine Antwort direkt kopiert ... :D) DH!

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Halbrecht  14.02.2024, 06:21
@Thelema

hier wird nichts verdeckt , es wird offenbart . Für die Leserin die jenseits von : ich will auch was (auch immer) beitragen .

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Griechische Philosphen gaben ihre Ansichten und Lehren oftmals in Metaphern weiter.

Das Beste von Platon:

sein Höhlengleichniss

Der Ausspruch von Aristoteles relativiert dahingehend, dass die Philosophen zwar große und gute Lehren von sich gegeben haben, aber das das Leben (Realität) die besten Lehren schreibt.

Der Ausspruch von Aristoteles ist also nicht negativ zu bewerten, er beinhaltet vielmehr eine Lehre in sich.

Das ist jetzt pure Spekulation:
Da Aristoteles ein Schüler Platons war, wird er seinen Meister geliebt und verehrt haben. In vielen Punkten allerdings stand seine Philosophie konträr zu der Platons. An diesen Wahrheiten seines Denkens festzuhalten ist ihm, dem Zitat zufolge, wichtiger als die Beziehung zu seinem Lehrer.

Aristoteles war Platon-Schüler, der aber Platons Ideenlehre stark revidiert hat, ihnen eine starke empirische Ausrichtung gegeben hat. Als Schüler verehrt er seinen Lehrer, doch als eigenständiger Denker muss er ihm der Wahrheit zuliebe auch widersprechen.

pontios94  13.09.2015, 07:08

zumal auch jedem bekannt ist das platon bei seinen erzählungen gerne mal übers ziel hinausschoss und diese schmückte um sie interessanter zu gestallten

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Platon war der Repräsentant der idealistischen Philosophie, alles einem bzw. dem Geist als Primat des Weltgeschehens untergeordnet. Die bloßen Ideen als solche waren der Taktgeber. Aristoteles war eher ein Zwitter zwischen Idealismus und Materialismus, so wie ihn Epikur z.B. definierte.