Es ist so dunkel, dass Kira kaum etwas sehen kann. Schritt für Schritt steigt sie die Treppe hinauf, wie sie es jede Nacht tut. Ihre Hände tasten sich langsam das Geländer entlang, während sie darauf achtet, dass sie mit den Zehen nicht gegen die harten Treppenstufen stößt. Mit jedem Schritt fällt es ihr schwerer zu atmen; ihre Lunge ringt nach Luft, bis sie schließlich vor der schweren Metalltür steht. Mit ihrem ganzen Körper schiebt sie die Tür langsam auf, und sie fühlt, wie diese in den kalten Händen unangenehm quietscht.
Kaum hat sie die Tür geöffnet, taucht der Vollmond ihre Umgebung in silbernes Licht. Gleichzeitig drückt sie ihren großen, braunen Teddy fester an sich. Sie tritt durch die Tür hinaus, der kalte Wind weht ihr ins Gesicht, während ihr weißes Nachtkleid zu flattern beginnt. Auch wenn die Kälte ihr zusetzt, verzieht sie keine Miene, denn sie hat immer schon gelernt, unangenehme Gefühle zu ertragen. Ihr Körper, übersät mit blauen Flecken, ist ein stiller Ausdruck davon, wie gut sie es gewohnt ist, Leid in sich zu verbergen.
Der Boden unter ihren Füßen fühlt sich kalt an. Die scharfkantigen Kiesel pieksen leicht in ihre Haut, doch weder der Wind noch das schmerzhafte Pieksen verändern ihre Stimmung. Sie lächelt, als sie die weiten der Stadt sieht, der sie immer wieder beruhigt: „Auf dem Dach ist die Aussicht so toll, nichts ist friedlicher als das hier.“ Mit einem schnellen Schritt läuft sie zur Brüstung, setzt sich hin und richtet ihr Gesicht dem Vollmond zu. Die Kälte spielt keine Rolle; sie fühlt sich, als wäre sie endlich ganz bei sich.
Ihre Beine baumeln vom Hochhaus herab, das so tief reicht, dass es aussieht, als säße sie am Rande eines Abgrunds. Der Ausblick beruhigt sie und gibt ihr neue Energie – Energie, die sie jeden Tag neu schöpfen muss, um mit all ihrer Last umgehen zu können. Die vielen großen Gebäude um sie herum geben ihr ein Gefühl von Stärke, die Aussicht schenkt ihr das Gefühl von purer Freiheit, und die Dunkelheit lässt sie für einen Moment ganz allein sein. Sie schaut zum strahlenden Mond hinauf und vergisst für einen Augenblick alles. Die Stadt wirkt menschenleer, kaum jemand ist um drei Uhr morgens noch wach, doch für Kira ist genau das der Ruhepol, den sie braucht. Ihre Augen haften gebannt am Mond, während sie ihrem Teddy einen Kuss auf den Kopf drückt und sich - wie jede Nacht - fragt: „Warum macht Papa mir das Leben zur Hölle, seitdem Mama tot ist?“