Was muss passieren, dass die Menschen sich nicht abgehängt fühlen?

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Das ist ein sehr komplexes und vielschichtiges Thema.

Ich möchte mich auf einen Teil konzentrieren: Nehmt den Osten ernst! Beendet die Ungerechtigkeit!

Viele Menschen im Osten fühlen sich abgehängt, als Bürger zweiter Klasse.

Die Wende ist jetzt 33 Jahre her und wir haben immer noch keine Angleichung der Löhne und Arbeitszeiten. Es gibt in Politik und Wirtschaft weniger Ostdeutsche in den Führungsetagen.

Wenn ich jetzt an ein paar Firmen denke die ich kenne im Osten:

Von den drei Fabriken im Osten (in zwei unterschiedlichen internationalen Konzernen) die ich im Laufe meines Berufslebens näher kennen lernte waren in allen fast immer "Wessis" Werksleiter und waren es auch in der Vergangenheit. In den beiden Ausnahmen ging es um einen Österreicher und einen Ukrainer. Nie wurden diese Werke von einem Ossi geleitet.

In den Stadtwerken meine Heimatstadt sind seit 33 Jahren nur Wessis am Ruder (und zum Teil äußerst inkompetent).

33 Jahre später kann man kaum behaupten, dass noch keine geeigneten Kandidaten nachgewachsen wären.

Und jeder sieht, dass es hier um Seilschaften und Kumpanei geht. Darum, dass man eben die Connections hat. Nicht um Kompetenz.

Von den drei internationalen Konzernen in denen ich arbeitete hatten alle ihre deutschen Firmensitze in den teuersten Stadtteilen Westdeutscher Großstädte obwohl bei zwei von ihnen 75% der Produktionskapazität in Ostdeutschland lagen.

Die Wege zu den Werken vom Firmensitz aus (auch dem Westdeutschen) sind weit und das Pendeln kostet Geld. Wenn ein leitender Angestellter vom Firmensitz zu einem Werk fuhr, muss man ihm ein Hotel zur Übernachtung bezahlen (und dann natürlich kein schäbiges). Man muss den leitenden Angestellten dort hohe Gehälter bezahlen damit sie ihre teuren Wohnungen und Häuser bezahlen könnten.

Warum nicht die Firmensitze nach Dresden, Leipzig oder Berlin verlegen, wo man jeweils weniger als eine Stunde zu den Werken fährt? Aber nein. Das kann man von den Wessis nicht verlangen! Dass sie in den Osten ziehen! Doch als eines der Werke Anfang der 2010'er zugemacht wurde, hatten die Angestellten dort die Wahl ihren Job im Westwerk weiter zu machen oder rausgeworfen zu werden.

Es wäre finanziell und geographisch absolut die korrekte Entscheidung den Firmensitz nach Ostdeutschland zu verlegen: Doch dann würden ja Ostdeutsche Städte von dem Steuergeld und den Gehältern profitieren.

Im Osten sind die Löhne und Renten niedriger, die Arbeitszeiten sind länger.

Und als jemand der in Ost und West gewohnt hat: Die Lebenshaltungskosten hier im Osten sind NICHT niedriger. Der Unterschied in den Lebenshaltungskosten ist eine Frage von Stadt und Land, nicht Ost und West.

Da fühlen sich Menschen abgehängt.

Und das ist wertvoller Nährboden für die Rechten. So lange die Lebensverhältnisse in Ost und West nicht angeglichen sind, wird es extreme Parteien geben die im Osten Zulauf haben.

Und das ist dann Schuld des Westens.

Die Leute müssen sich von den Politikern und Parteien ernstgenommen fühlen - und das geschieht, wenn Worten echte Taten folgen. Es ist also nicht nur alle paar Jahre jeweils vor der Wahl gut Wetter zu machen, sondern an der Basis zu arbeiten und Versprechen sind einzulösen.

Der Ländliche Raum, den Sonneberg prototypisch repräsentiert, ist exakt deswegen eine Keimzelle von AfD und Nichtwählern. Ich kenne einige Menschen verschiedener Altersklassen, die im Ländlichen Raum jegliches Vertrauen in den Staat oder viel mehr in die Volksparteien verloren haben, nachdem deren Abgeordnete zwar immer große Augen und heiße Ohren bekamen, wenn Pressefotos geknipst wurden, aber am Ende dann effektiv doch "nix" getan haben, das den Leuten geholfen und teils prekäre örtliche Zustände verbessert hätte. De Leute sind dort nicht notwendigerweise braun angehaucht, sondern enttäuscht und wissen nicht mehr, was sie wählen sollen; sie fühlen sich verkauft und vorgeführt - auch in Westdeutschland. Wer auf den bösen Osten schimpft, der macht es sich zu leicht.

In einem traditionell sehr CDU-lastigen kleinen 3000-Einwohner-Ort in der Nähe meiner (westdeutschen) Heimat war die AfD bei der letzten Wahl zur stärksten Kraft geworden -----> auch wenn ich der AfD nicht nahe stehe, verstehe ich das teilweise und hatte es im Vorfeld geahnt. Ich habe in diesem Zuge 2017 einen damals 87 Jahre alten Mann von dort getroffen, der die AfD wählte und dazu stand. Er fühlte sich, wie er mir glaubhaft mitteilte, von den "Krawattenträgern, die beim Pressefototermin grinsen und das Blaue vom Himmel versprechen" (O-Ton) veralbert. Nichts, so sagte er, was die CDU- und SPD-Abgeordneten alle paar Jahre im Schützenhaus beim Wahlkampf der Dorfgemeinschaft versprachen, wurde jemals gehalten; viel mehr sei nur "vertröstet, versprochen und gebrochen" worden und er ist da nicht der einzige, der so denkt, sondern einer von vielen - ich weiß auch von Intellektuellen mit guter Bildung und guten Berufen, die weder verkopft noch "nicht ganz dicht" oder braun sind, aber mit der AfD sympathisieren, weil sie ihre eigenen eher konservativen Werte bei der (Merkel-)CDU nicht mehr gefunden haben.

Gerade in ländlichen Räumen fühlen sich immer mehr Leute von den "Volksparteien" im Stich gelassen: Die aktuelle Politikverdrossenheit ist mehrheitlich auf das Versagen der Parteien zurückzuführen. Und wenn dann ein AfD-Mann wie Robert Sesselmann die Sorgen der Leute ausspricht und ihnen Hilfe zusichert, anstatt wie ein blasser CDU-Mann die üblichen CDU-Phrasen in den Raum zu werfen von Demokratie usw., ist es eben passiert.

Vor der Presse wird gern vom "ländlichen Raum" und seiner Wichtigkeit bzw. Wertigkeit gepredigt, weil es gut klingt und die Leute das hören wollen, aber nach der gewonnenen Wahl will kaum ein MdB oder MdL mehr was davon wissen. Keine Partei, die nach jeder Wahlschlappe oder aufgrund niedriger Umfragewerte auf "traurig" macht und dann doch nichts ändert, braucht sich über Nichtwähler oder AfD-Zulauf zu beschweren.

Im Grunde muss auf diese Menschen eingegangen werden. So sehr uns das allen nicht passt, aber eine der Hauptforderung ist die zu lasche Einwanderungspolitik und die die massive Aushöhlung der klassischen Arbeiterschicht. (Immigration bedeutet für diese ein direkte Bedrohung, somit können Unternehmen die Löhne niedrig halten)

Wir werden also der Einwanderung und die Flüchtlungsströme massiv Einhalt gebieten müssen. Auch wenn es uns allen nicht passt, Demokratie heißt auch das.

Ich bin auch kein Fan davon, aber wir können nicht weitermache und so tun, als gingen uns diese Menschen nichts an. Es muss in der klassischen Arbeiterschicht zu massiven Verbesserungen der Lebensumstände kommen, dann wird eine AFD auch wieder verschwinden.

Die abgehängte Bevölkerung im schönen Landkreis Sonneberg? Weil der Bus im ländlichen Raum nicht oft genug fährt, wähle ich einen Mann zum Landrat, der aus einem vom Verfassungsschutz als "Gesichert Rechtsextrem" eingestuften Landesverband der AfD kommt und dessen Vorsitzenden man straffrei als Faschisten bezeichnen darf, weil es eine gerichtlich festgestellte Tatsachenbehauptung ist?

Der Typ hat Wahlkampf gemacht mit Themen wie Migration und Raus aus dem Euro. Ein Landrat ist da eher für andere Sachen zuständig. Er muss die Beschlüsse seines Kreistages umsetzen. Der Kreistag Sonneberg hat 40 Sitze. Nur 9 davon hat die AfD. Aus meiner Sicht, haben wir hier ein großes Defizit in der Bevölkerung, was politische Bildung und Medienkompetenz betrifft. Hier wäre für mich ein Punkt, an dem man dringend ansetzen müsste.

Sonneberg ist übrigens eine Urlaubsregion. Darauf ist man wirtschaftlich angewiesen. Jetzt haben sie bundesweite Schlagzeilen gemacht und man sollte in Sonneberg mal darüber nachdenken, ob dieses Wahlergebnis mehr Urlauber, mehr Gastronomiefachkräfte und mehr Investitionen in die Region bringt? Ich denke ja, sie haben sich damit ins Knie geschossen und selbst abgehängt!

zalto  27.06.2023, 10:28

Dieser Beitrag ist tatsächlich eine typische Haltung, die man so bei Politikern vorfindet, und sie zeigt sehr schön, warum sich die Wähler dann mit Grauen von ihnen abwenden:

  • Menschen und ihre Probleme werden nicht ernst genommen ("Bus fährt nicht, ja und?")
  • Keinerlei inhaltliche Auseinandersetzung ("Der Mann ist Faschist, der Rest ist doch egal.")
  • Die Bevölkerung ist ungebildet und hat deshalb falsch gewählt ("Mangel an politischer Bildung und Medienkompetenz")
  • ... und somit wäre es angebracht, sie dafür zu bestrafen ("Keinen Urlaub in der Region machen")
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JaquesSchabrack  27.06.2023, 13:02
@zalto

Und das ist ein schönes Beispiel dafür, dass hier teilweise in Aussagen etwas hineininterpretiert wird, dass man weder geschrieben hat, noch dessen Meinung man ist.

Menschen und ihre Probleme werden nicht ernst genommen ("Bus fährt nicht, ja und?")

Man muss Menschen mit ihren Problemen ernst nehmen, doch Rechtsextremisten sind keine Alternative, egal wie groß die Probleme auch sind. Wer sich hier Lösungen erhofft, fällt auf einen großen Betrug herein oder ist eben das was er wählt.

Keinerlei inhaltliche Auseinandersetzung ("Der Mann ist Faschist, der Rest ist doch egal.")

Das kannst du gerne präzisieren, was du damit genau meinst. Herr Sesselmanns Inhalte im Wahlkampf, waren populistisch und haben überhaupt nichts mit der Verwaltung des Landkreises zu tun. Es ist schwierig sich mit etwas auseinanderzusetzen, dass objektiv nicht vorhanden ist. Außerdem habe ich Herrn Sesselmann nicht als Faschisten bezeichnet.

Die Bevölkerung ist ungebildet und hat deshalb falsch gewählt ("Mangel an politischer Bildung und Medienkompetenz")

Zumindest was politische Bildung und Medienkompetenz angeht, haben wir ein Problem in der Bevölkerung. Wobei das sich nicht nur auf den Osten beschränkt. Aber die andauernde Abwanderung in den Westen, besonders von jungen, gebildeten Leuten, spielt im Osten eine besondere Rolle. Das ist meine Meinung und da gibt es auch sozialwissenschaftliche Studien, die hier Zusammenhänge nahe legen.

... und somit wäre es angebracht, sie dafür zu bestrafen ("Keinen Urlaub in der Region machen")

Das habe ich nicht geschrieben, dass man die Sonneberger jetzt bestrafen sollte und ist auch nicht meine Meinung. Ich werfe nur eine Überlegung in den Raum, die gestern selbst aus der Sonneberger Wirtschaft aufgebracht wurde. Eine Überlegung, die vor der Wahl eine Rolle hätte spielen müssen, aber offensichtlich von vielen übersehen wurde.

Im Osten gibt es viele Probleme. Gar keine Frage. Und hier versagt die Politik seit über 30 Jahren. Ich verstehe auch, dass die Menschen in ihren Nöten sich Gehör verschaffen wollen. Aber deswegen Rechtsextremisten zu wählen oder Opportunisten, die mit Rechtsextremisten gemeinsame Sache machen, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Es ist kontraproduktiv und löst nicht ein Problem, sondern schafft eher noch Zusätzliche.

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zalto  27.06.2023, 13:40
@JaquesSchabrack

Und für diese Reaktion würde der Politiker gleich nochmal geteert und gefedert:

- "Rechtsextremisten lösen keine Probleme" -> Die ANDEREN haben die Probleme doch nicht gelöst gekriegt! Jetzt sind mal die dran, die noch gar keine CHANCE zum Problemlösen bekommen haben.

- "Die Inhalte im Wahlkampf hatten nichts mit Verwaltung zu tun" -> Der nun Gewählte ist Volljurist und muss seine Fachkompetenz nicht unter Beweis stellen. Beim politischen Gegner, einem Landmaschinenmechaniker und Fahrlehrer, sieht die Sache vielleicht anders aus.

- "Sozialwissenschaftliche Studien sagen aber..." -> Na, das freut die Leute sicher besonders, wenn ihnen nicht nur unterstellt wird, sie seien dumm, sondern ausgerechnet Sozialwissenschaftler, die wahrscheinlich keinen Nagel gerade einschlagen könnten, dafür herangezogen werden.

- "Keiner will die Leute bestrafen, sie bestrafen sich ja selber..." -> Also schon knapp vor der Entmündigung wegen selbstschädigendem Verhalten? Die Botschaft wird bestimmt auch gerne gehört.

Also wenn mir einer erzählen würde "Du wählst den Falschen, noch dazu aus den falschen Gründen, weil Du dumm bist und Dir damit selber schadest.", dann würde ich mit dem so manches, aber eines bestimmt NICHT machen: Ihn wählen!

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Ich fürchte ein Teil davon ist nicht mehr zu erreichen.

Die AfD hat die Feindbilder der angeblich korrupten Regierung, kaputten Demokratie, Deindustrialisierung, usw. Stark gefüttert. Die Leute haben es geglaubt, obwohl jeder, der weiter als von der Wand bis zur Tapete denken kann merken muss, dass es einfach nicht stimmt.

Die Demokratischen Parteien müssen auf die Leute zu gehen und ihren Streit beenden, sowie die eigene Debattenkultur verbessern. Man darf sich nicht auf die Sprache der AfD einlassen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Allgemeinwissen, Bildung, eigene Meinung