Warum, denkt ihr, ist die Inflation in der Türkei so hoch in der letzten Zeit, im Vergleich zu anderen Ländern?

11 Antworten

Inflation bedeutet eigentlich auch: "Mit dem türkischen Geld kann man im Ausland fast nichts mehr kaufen". Im Umkehrschluss: Man muss enorm viel mehr Geld hinblättern, wenn man etwas kaufen will, das nicht in diesem Land produziert worden ist.

Warum ist das so? Weil das Land - also die Regierung, die Industrie und alle damit verbundenen Verträge als unsicher angesehen werden im Bezug auf "werden sie wohl eingehalten?". Wenn also Erdogan wiedermal verrückt spielt und mit der Verstaatlichung ausländischer Unternehmen droht, dann ist das nicht eben sehr vertrauensfördernd. Man weiss nämlich nie, ob das Geld, das man dort investiert in Zukunft noch was wert ist.

Solche Unsicherheiten führen dazu, dass man lieber nichts investiert. Man weiss ja nie. Das wiederum führt dazu, dass auch Produkte aus dem Ausland, die man in der Türkei verkauft, extrem viel teurer werden. Und auch hier: Im Umkehrschluss bedeutet das, dass türkische Produkte im Ausland fast nichts mehr Wert sind. Man will sie kaum mehr, weil die Verlässlichkeit der Lieferung nicht garantiert ist.

Es hat letztlich alles mti Vertrauen zutun, ob man für sein (ausländisches) Geld auch in Zukunft noch was kriegt oder ob mit einer Geldentwertung (Inflation!) zu rechnen ist.

Schau dir doch mal das Land an.

Die Bevölkerung ist tief gespalten aufgrund der Religion (eine Hälfte sehr religiös, eine andere völlig unreligiös). Dann ist sie nochmal politisch gespalten (Pro und Contra Erdogan). Hinzu kommt eine Gruppe/Volk das die Unabhängigkeit will und territoriale Ansprüche erhebt (Kurden). Hinzu kommt dass die Türkei mit quasi allen Nachbarstaaten mehr oder weniger im Clinch ist (Griechenland usw). Das Land hat grosse Wirtschaftliche Probleme und dazu wird haufenweise Geld gedruckt….

Dass alle diese Umstände nicht grade Vertrauen auf internationaler Ebene in die Landeswährung erzeugt ist wohl offensichtlich

Idiealot  03.01.2022, 08:29

Welche Kurden denn? Sorani? Kurmandschen? Zozaken? Zaza-Gorani? Wen meinst du konkret? Die "Kurden" gibt es nicht, weil es keine homogene Einheit gibt. Es existiert kein "kurdisches Volk".

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Hamburger02  03.01.2022, 08:42
@Idiealot

Das sehen die Kurden selber aber anders. Das ist das entscheidende Kriterium und nicht was Erdogan und seine Anhänger behaupten.

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Idiealot  03.01.2022, 08:45
@Hamburger02

Das sehen die kurdischen Ethnien aber genau so. Sie sind kein einheitliches Volk. Und sie werden es auch nie werden. Mit Erdogan hat es nur insoweit zu tun, wie die jeweilige kurdische Ethnie in der Türkei lebt. Die anderen in Syrien, Iran oder Irak betrifft das nicht.

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Amtsschreck  03.01.2022, 08:49
@Idiealot

Jetzt wo Du es sagst... Es gibt ja auch keine Deutschen. Nur Sachsen, Ostfriesen, Bayern, Preußen, Chauken, Langobarden, Cherusker, Markomannen, Hermunduren, Avionen, Gastarbeiter der 1., 2. 3. Generation, etc.

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Hamburger02  03.01.2022, 08:50
@Idiealot
Das sehen die kurdischen Ethnien aber genau so.

Das glaube ich nicht. Erstens haben mir die Kurden, die ich kenne, das anders erzählt, zweitens haben die Kurden eine gemeinsame Sprache und kulturelle Idendität und drittens streben sie einen gemeinsamen Staat an, wozu ich ihnen viel Erfolg wünsche.

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Idiealot  03.01.2022, 08:51
@Amtsschreck

Herrjee, das ist Unsinn. Verwechsele nicht deutsche Verhältnisse mit den Kurden. Die Kurden haben verschiedene Religionen, politische Strukturen und extrem unterschiedliche Vorstellungen von Staatsformen. Und vor allem: Kaum jemand glaubt noch an einen gemeinsamen kurdischen Staat.

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whabifan  03.01.2022, 08:57
@Idiealot

Dein Kommentar illustriert perfekt was ich meine. Das Land ist tief gespalten.

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Hamburger02  03.01.2022, 08:59
@Idiealot

Ja eben, die haben sich mir als Kurden vorgestellt und nicht mit irgendeiner Ethnie, was alleine schon ein klarer Beweis ist, welche Idendität sie für sich selber sehen. Letztlich ist es aber völlig unerheblich, wie Außenstehende wie du und ich das sehen. Das ist alleine ein inneres Problem der Kurden, ob sie sich zusammengehörig führlen oder nicht.

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Idiealot  03.01.2022, 09:02
@whabifan

Es ist nicht mein Bestreben, den Kurden keinen eigenen Staat zu gönnen. Ganz im Gegenteil. Ich bezweifele nur ganz stark, dass sie es jemals schaffen, ein Volk, eine homogene Einheit zu werden.

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Hamburger02  03.01.2022, 09:03
@Idiealot
Und vor allem: Kaum jemand glaubt noch an einen gemeinsamen kurdischen Staat.

Doch, die Kurden.

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Idiealot  03.01.2022, 09:04
@Hamburger02

Ich bin über das kurdische allerbestens informiert. Und wenn dir ein paar Kurden sagen, dass es nicht so ist, dann bezweifele ich das. Wünschenswert ist es natürlich, aber unwahrscheinlich. Sehr sogar.

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Amtsschreck  03.01.2022, 09:04
@Idiealot

Die Deutschen haben ebenfalls unterschiedliche Religionen. Das Christentum lässt sich unterteilen in Katholisch und Protestantisch. Diese widerum in weitere Konfessionen. Auch Baptisten, Methodisten, Anglikaner dürfen in Deutschland ihre Religion ausüben. Hinzu kommen auch Muslime oder Hinduisten.

Unterschiedliche Vorstellungen von Staatsformen gibt es auch in Deutschland. Sonst hätten wir keine Flügelparteien, die den Staat nach ihren Vorstellungen gerne ändern wollen würden.

Was Du aufgezählt hast, sind aber keine unterschiedlichen Ethnien, sondern unterschiedliche Sprachdialekte.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kurdish_languages_map.svg

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Idiealot  03.01.2022, 09:08
@Amtsschreck

Die größtenteils nationalkonservativen Kurden im Irak belächeln die türkischen Kurden gerne als ungebildete Tirkmandschen, also als eine Mischung aus Kurmandschen und Türken. Gerne lästern sie über deren schlechtes Kurdisch, ein Resultat der brutalen Assimilationspolitik des türkischen Staates, das die Sprache fast aussterben ließ. Viele fühlen sich überlegen, weil die PKK in ihrem 30 Jahre andauernden Kampf nicht geschafft hat, was Barsanis Rebellen gelang: Auf einem Stück Land zu leben, das sich Kurdistan nennen darf. Viele Kurden in der Türkei verachten die irakischen Kurden wiederum als geldgierig, feudal und arabisiert, was sie als Schimpfwort verstehen. Die Peschmerga, die Kämpfer im irakischen Kurdengebiet, heutzutage seien nutzlos und "fett". Jeder erklärt, der jeweils andere Teil sei eigentlich nicht wirklich Kurdistan. Was den Nordkurden, also denen aus der Türkei, wohl am meisten aufstößt, war Barsanis Gentleman-Haltung gegenüber der Türkei.

Die Hoffnung auf einen großen kurdischen Staat, in dem alle gemeinsam friedlich und zufrieden leben, ist schon lange tot. Selbst die PKK kämpft nicht mehr für einen Staat, sondern für eine föderale Autonomie in der Türkei. Die PYD in Syrien legt ebenfalls Wert darauf, keinen Staat zu gründen, sondern autonome Kantone.

Wie genau die jeweilige kurdische Autonomie aber aussehen soll, auch darüber gehen die Vorstellungen auseinander. Die PKK träumt immer noch von einem marxistisch-leninistisch organisierten Lebensform. Die PYD ist die moderne Variante dessen und setzt sich zumindest offiziell für eine Regierung ein, die sich aus Repräsentanten aller ethnischen und religiösen Gruppen zusammensetzt. Wie auch in der prokurdischen Partei HDP in der Türkei, gerne als der legale politische Arm der PKK gehandelt, teilen sich je ein Mann und eine Frau alle politischen Führungspositionen. Das wiederum wäre undenkbar im irakischen Kurdistan. Dort ist das Wirtschaftssystem liberal und nicht sozialistisch, und die meisten wichtigen Repräsentanten in der Regierung sind männliche kurdische Sunniten, gerne aus dem Barsani-Klan.

Um es noch komplizierter zu machen, lassen sich die Kurden auch nicht je nach Nationalstaat einer politischen Orientierung zuzuordnen. In den Grenzgebieten Syriens und der Türkei beispielsweise leben viele Anhänger des Irakers Barsani. Dazu kommt noch die kurdische Hisbollah, die zwar kurdisch ist, aber auch islamistisch. Und ja, manche Kurden sind auch einfach unpolitisch. Unter vielen ist die Solidarität mit den kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak und aus Syrien enorm, andere wiederum verachten sie. Vielen ist es sehr wichtig, Kurde zu sein, anderen weniger wichtig. 

Von "den Kurden" kann also auf der sowieso schon schwer zu überblickenden Lage im Nahen Osten keine Rede sein, von einem Kurdistan schon gar nicht. Eine solche Vereinfachung übersieht nicht nur die inneren Konflikte zwischen Kurden, sondern versucht sie auch auf eine Einheitlichkeit zu reduzieren, die sie nicht haben und wohl nie haben werden. Es wäre ihnen zu wünschen.

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Amtsschreck  03.01.2022, 09:17
@Idiealot

Schöner Aufsatz. Er zeigt aber umso mehr auf, dass es ein Kurdenproblem ist. Und da sie sich über mindestens 6 Länder verteilen, werden sie wahrscheinlich niemals zu einer Lösung kommen, wenn sie sich schon intern nicht grün sind. Das ist aber eher ein Randproblem zu der Thematik des Fragestellers.

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Das hat mehrere Gründe.

  • Der Westen verweigert seine Hilfe. Man könnte die Lira mit Krediten ohne weiteres stabilisieren. Erdogan hat angefangen russische Waffensysteme zu kaufen, was unter Nato Partnern gar nicht geht. Er hat Druck auf die US Regierung ausgeübt bezüglich Nordsyrien und somit das Verhältnis zwischen der USA und der Türkei kräftig abgekühlt. Das gleich gilt mit der EU. Auch hier hat er mit Flüchtlingen Druck aufgebaut, während er demokratische Strukturen im eigenen Land geschwächt hat. Dann hat er sich noch mit Griechenland und Frankreich angelegt bezgl. der Erdgas Projekte im Mittelmeer. Beide Partner (EU und USA) helfen eigentlich ihren Bündnispartnern, aber eben nicht um jeden Preis.
  • Dadurch dass der Westen und die Türkei auf Konfrontationskurs sind, werden Handelsabkommen unwahrscheinlicher und Wirtschaftssanktionen wahrscheinlicher. Das sorgt dafür, dass Investoren ihre Vermögenswerte in der Türkei verkaufen und dieses Geld dann abziehen. Dadurch Geräte die Lira an internationalen Devisenmärkten unter Druck.
  • Der Putsch sorgt für weiterr Verunsicherung an den Investitionsmärkten
  • Der Leitzins in der Türkei ist gemessen an der Infaltion nicht hoch genug. Erdogan weigert sich aber die Leitzinsen zu erhöhen, so weit ich das verstanden habe aus religiösen Gründen. Denn Zinsen sind im Islam eigentlich verboten.
  • Wenn die Infaltion ersteinmal anfängt ins Rollen zu geraten, dann wird durch die ständige Geldentwertung der Kaufdruck immer größer. Das schafft neue Nachfrage, da die Menschen anfangen zu hamstern, was die Preise weiter steigen lässt.

Erdogan hat seine Wahlerfolge durch seine angeblich erfolgreiche Wirtschaftspolitik erzielt. Die Türken haben aber nicht gemerkt, dass er den wirtschaftlichen Aufschwung durch hemmungslose Kreditaufnahmen finanziert hat und nicht durch echte wirtschaftliche Entwicklung. Die Kredite hat er nicht zur Förderung der Entwicklung ausgegeben um mit den Profiten daraus die Kredite zurückzahlen zu könnnen, sondern für prestigeträchtige Großprojekte wie z.B. seinen neuen Palast. Aber wie das so ist im privaten und im staatlichen Bereich: wenn man sich ein großkotziges Leben auf Kredit finanziert, kommt irgendwann das böse Ende nach und der totale finazielle Absturz bis zur Pleite.

Genau das passiert gerade in der Türkei. Weil die Türkei ihre Kreditwürdigkeit durch Überschuldung verloren hat, lässt Erdogan Geld drucken und über niedrige Zinsen in die Wirtschaft pumpen. Das funktioniert aber nicht, sondern führt zur Inflation und einer rasenden Geldentwertung sowie zu einem Teufelskreis, weil die Preise schneller steigen als die Geldpressen rotieren können.

Die Türkei galt mal als ein Land, das für viele ausländische Investoren und Kreditgeber aus Europa und den USA als sehr attraktiv erschien. Als Erdogan die Türkei "übernahm", war sie noch überwiegend kemalistisch geprägt. Es gab kaum Menschenrechtsverletzungen, die AKP hatte noch realistische und keine ideologisch-islamistische Politik gemacht, an den Schaltstellen der Macht saßen Fachleute und keine Familienmitglieder und treuen Anhänger Erdogans ohne Ahnung von der Sache. Mit den Kurden herrschte Waffenstillstand. Es gab eine funktionierende demokratische Opposition. Das Verhältnis zwischen Europa/USA war sehr entspannt. Die Wähler und Anhänger Erdogans sahen nur die Erfolge, aber nicht den Hintergrund, auf dem diese erreicht wurden.

Nun ist es aber so, dass Erdogan diesen für Investitionen notwendigen Hintergrund mehr und mehr zerstört hat. Zudem ist es ihm systematisch gelungen, durch seine Propaganda viele anderen Länder und Regierungschefs auf den Füßen rumzutrampeln und diese zu beleidigen. So schafft man sich keine Freunde. Das ausländsche Geld fließt nicht mehr und die Konsequenz ist der derzeitige Absturz der türkischen Wirtschaft und Lira.

SturerEsel  03.01.2022, 09:45

Ausgezeichnet zusammengefasst.

4

Ganz einfach. Weil Erdogan sich weigert die Leitzinsen anzuheben, so wie es nötig wäre. Die türkische Inflation galoppiert! Erdogan will einfach nicht einsehen, dass die türkische Wirtschaftslage eine Zinserhöhung nötig macht, um die Inflation zu zähmen. Die Kaufkraft fällt und fällt und die Türken investieren in ausländische Devisen wie Dollar und Euro, was den Kursverfall weiter vorantreibt. Die TCMB hat zum Entsetzen fast aller Ökonomen den Leitzins von 19 auf 15 Prozent gesenkt. Kredite wurden billiger, die Inflation beschleunigte sich, wie zu erwarten, und der Kurs der Lira stürzte ab. Jeder Ökonom hält Erdogans Geldtheorie für absoluten Humbug und die Realität beweist es. Problematisch an dieser ganzen Sache ist auch die Tatsache, dass Erdogan in die Zentralbank hineinregiert.