Wenn man privat viel mit zwielichtigen Personen zu tun hat, setzt man dann auch selbst unbewusst seine eingenen Wertmaßstäbe nach und nach herunter?

8 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen ihre eigenen, manifestierten Wertvorstellungen so leicht über den Haufen werfen lassen.

Natürlich schaffen Dialoge mit Menschen aus einem anderen Milieu neue Gesichtspunkte. Man versteht sicherlich die Handlungsweise besser, die man zuvor lediglich verurteilt hat.

Aber zwischen "verstehen" und "für sich selbst annehmen" ist doch noch ein größerer Schritt, der nicht durch Einsicht und Kontakt zur Szene zustande kommt.

Es sei denn, der/diejenige hat bereits zuvor keine wirklich standfeste Meinung zu einigen Sachen gehabt und lässt sich nun mitreißen.

In meinem letzten Job (vor ein paar Jahren) hatte ich ebenfalls Menschen um mich herum, die im Umgang mit anderen privat als auch geschäftlich des öfteren meine Grenzen in Bezug auf Werte und Gewissen überschritten haben.

Ja, ich habe tw. verstanden, warum sie so agiert haben und habe das Verhalten mehr oder weniger toleriert.

Letztendlich hat mich der Umgang mit diesen Menschen aber wenig geprägt - und schon gar nicht zu einem von ihnen gemacht.

Das hängt von der eigenen Toleranz ab - gemeinhin würde ich die Frage dahingehend beantworten, dass es abfärben kann, aber nicht abfärben muss. Vieles aber verliert seinen "Schrecken", je länger man damit zu tun hat und je mehr man sich damit abgibt, je mehr man hinter die Kulissen blickt. Das kann auch für solche zwielichtigen und ggf. semi-legalen Dinge gelten, durchaus aber ebenso für Dinge, die man anerzogen bekam und als ganz furchtbar definiert bekam.

Ein Beispiel aus meiner Vita gibt es sogar: Ich wurde sehr konservativ erzogen; Dinge wie englischsprachige und laute Musik, vor allem Rockmusik, galten als unseriös, ihre "Konsumenten", wie mein Opa sagte erst recht; er hat sich auch gern über sie lustig gemacht und sie bezichtigt, "gesellschaftsschädigende Subjekte" zu sein, wie er zu sagen pflegte. Ich habe das relativ lang geglaubt, bis ich als Jugendlicher wie so viele Dieter-Bohlen-Fan wurde und andere Popmusik der 90er und "Nullerjahre" entdeckte, z.B. Kate Ryan, Ronan Keating, Avril Lavigne, In-Grid, Katy Perry, Maroon 5, so was in der Art und natürlich Trance sowie den Radiosender "sunshine live", den ich bis heute vermisse nur so am Rande - was halt damals "en vogue" war ;-)

Alles verlor peu à peu seinen Schrecken, obwohl ich aufpassen musste, dass der Opa nix erfährt. Und dann war ich in meiner Berufsschulzeit und in der zehnten Klasse der Realschule Quasi-Mitglied einer Emo-/Gothic-Clique, wir sind immer noch untereinander befreundet. Ich passte da optisch nie rein, menschlich und geistig aber schon - und diese Freundschaften haben vieles getragen und überstanden. Die wurden damals auf mich aufmerksam und irgendwie hat es sich verselbstständigt, wir waren in der Berufsschule Nebensitzer und irgendwann war ich halt dabei. In der Realschule war es ähnlich, da kamen wir über den EMP-Katalog ins Gespräch. Wir haben schnell gemerkt, dass es menschlich vom Ding her einfach passte, leider haben sich die Kontakte zur Gruppe aus der Realschulzeit nur über die gemeinsame Fahrschulzeit gehalten und in die Ausbildung, weil dann jeder was anderes gemacht hat und einige weggezogen sind. Schade!

Ich habe auch durch die Gruppe andere Personen aus der Emo-/Gothic-Ecke kennen gelernt und es waren ausnahmslos nette Begegnungen - ich merkte, dass es egal ist, wie jemand aussieht und welche Musik er hört, obwohl mein Opa von einer "Schmuddelecke" sprach und manche meiner Freunde sowie ein Mädchen, mit dem ich mal eine kurzzeitige "Beziehung" hatte (sie stammte aus der Clique und war so zwischen Emo, Gothic und Manga - eine super liebe und tiefsinnige Person, es hat aber auf Dauer nicht geklappt) besser unerwähnt blieben. Ich habe mich immer gefreut und es war gegenseitig. Man konnte immer über alles reden und wusste, die anderen interessieren sich dafür und fühlen mit. Man hat sich permanent in allem gegenseitig getragen und gestützt, egal was war, ob es in der Schule Kummer gab oder in der Ausbildung was vorfiel oder ob man daheim Ärger hatte oder einen Todesfall oder ob jemand krank war und Hilfe brauchte - ich bin auch mal mit einem aufs Arbeitsamt als Begleiter, weil er als Jugendlicher nach einem dummen Erlebnis Angst vor weiteren Gesprächen mit dem Berufsberater hatte; ich habe mir dann einen Tag freigenommen, um den Freund zu begleiten und dann mit ihm in ein Café zu gehen - zumal er das Gleiche sofort für mich gemacht hätte. Das war so typisch für diese Clique, das hätte jeder für den anderen gemacht. Und man war total vorurteilsfrei gegenüber anderen. Der Zusammenhalt war enorm und ist es immer noch, ich bin aber inzwischen umgezogen und wir sehen uns leider nicht mehr so oft.

Wenn ich heute Jugendliche bzw. junge Erwachsene sehe, die optisch in die Emo-/Gothic-Ecke gehören (gibt's immer noch), dann denke ich mir ... ach schön, dass es das noch gibt & ich freue mich innerlich irgendwie total, weil ich dann an diese tolle Zeit damals zurückdenke und an den unerschütterlichen, ehrlichen Zusammenhalt und diese Wärme, die man spürte und ich freue mich auch für diejenigen, weil ich mir vorstelle, dass sie sich so getragen fühlen von der Gruppe wie ich bzw. wie wir damals.

Ich habe auch eine etwa gleichaltrige Kollegin einer anderen Abteilung, die der Szene zugehörig ist und zwischen uns war irgendwie gleich so eine Verbindung da, obwohl wir uns optisch so gar nicht viel geben - sie rennt auch auf der Arbeit entsprechend herum und ich bin halt derjenige, der mit Sakko, Hemd und Koffer kommt. Aber menschlich ist da ganz viel Gemeinsames vorhanden, wir haben es schnell gespürt. Es ist so ... frei und ... ich weiß nicht, irgendwie besonders. Sie strahlt so viel Liebe, Güte, Wärme, was auch immer aus - obwohl sie auf den ersten Blick fast abweisend aussieht. Man kann mit ihr lachen und weinen ... und eine auf den ersten Blick leicht verstörende Frau mit lila-roten Haaren, die du kennst, hat mich anfangs aus ähnlichem Grund auch überfordert, bis ich merkte, die ist in Ordnung, das könnte was fürs Leben werden. Wenn man es genau nimmt, ist sie die private Zweier-Fortsetzung meiner damaligen Clique.

Und so hat sich für mich das relativiert, was mir stets indoktriniert worden ist. Es ist egal, was für Musik einer hört, wie er sich "richtet" (solange es gepflegt und sauber ist und nicht stinkt usw.), wie er lebt und was er denkt, solange es im Rahmen ist. Das ist freilich total positiv - aber andererseits kann es auch auf seine Weise irgendwie "eher positiv" sein, wenn ein prüder, intoleranter, reaktionärer und verklemmter Typ nach gewissen Erfahrungen auf einmal sagt, Pfandleiher usw. sind nicht so schlimm - es sollte nur dabei bleiben, dass er sagt, die muss es ja auch geben und manchem können sie ja auch helfen ... nur selber will man damit halt nicht grad in Berührung kommen. Es kommt immer auf das Maß (!) an, mit dem man das alles anpackt.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
Rosenmary 
Fragesteller
 10.08.2023, 21:49

Ich wae früher auch in der New Wave / Gothic Szene

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Hallo Rosenmary!

Was ich als richtig oder falsch bewerte, kann sich im Laufe des Lebens aufgrund von weiteren Erfahrungen ändern. Nicht in jedem Fall in eine bestimmte Richtung.

Das Erleben von Menschen mit Problemen, die zu einem anderen Umgang mit Werten führen, als man selbst sie handhabt, kann das Verständnis dafür erweitern, warum bestimmte Werte hinter andere gestellt werden, um die drängendsten Bedürfnisse zu befriedigen.

Dies zu verstehen bedeutet aber nicht, es gut zu heißen, oder, wonach du fragst, die eigenen Werte zu relativieren oder herunterzufahren.

Einen Gewöhnungseffekt kann alles haben, denn das Sein bestimmt das Bewusstsein. Aber das Bewusstsein kann trotzdem steuernd eingreifen, solange man bei Bewusstsein ist.

LG

gufrastella

Nein, die Wertmasstäbe verfestigen sich eher, zumindest war es bei mir so. Einzig ist eben das man solche Sachen wesentlich gelassener sieht und nicht "geschockt" ist.

Das ist nicht nur in den von dir genannten Situationen denkbar, denn der Umgang kann prägend sein, speziell für noch Minderjährige, die sich dem Umgang anpassen und sei es nur, weil sie dort die Aufmerksamkeit und die Anerkennung bekommen, die ihnen vielleicht von zuhause aus fehlt.

Man sagt nicht umsonst: "sage mir, mit wem du gehst und ich sage dir, wer du bist", weil der Umgang sich auch auf das Verhalten auswirken kann..