Kann man den Nihilismus überwinden?

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Es gibt nicht DEN NIHILISMUS. Die Kyniker der Antike und die sokratisch ausgerichteten Schüler der Akademie waren auch schon "nihilistisch". So neu ist das nicht und wurde auch nicht von Nietzsche erfunden. Der hat eher über die Figur des "tollen Menschen" den religiösen Funktionären vorgeworfen, dass sie Gott und die in ihm begründeten Werte verraten und die Menschen in einen wertelosen Nihilismus treiben. Interessant diese Erzählung des "tollen Menschen", die sehr stark angelehnt ist an die Erzählung über Diogenes von Sinope (Kyniker), der am hellichten Tag mit einer brennenden Lampe auf den Markt von Athen gerannt ist und gerufen hat, ich suche einen Menschen.

Selbstzweifel und Zweifel, worin die lebensleitenden Werte begründet sein können, hat viele Philosophen umgetrieben, z.B. auch Augustinus, Descartes, David Hume, Schopenhauer usw.. Was Nietzsche vor allem kritisiert hat war, dass die christliche Moral lebensfeindlich ausgerichtet ist. Dagegen war er der Meinung, dass die Moral der antiken Religionen und Philosophien lebensstützend und lebensaufbauend waren, da vor allem der Epikureismus, der ihm aber dann nicht radikal genug war. Dennoch - wenn man Epikur kennt - entdeckt man viele Vorstellungen Nietzsches, die dem Epikureismus entlehnt sind, so z.B. seine Sprachkritik.

Die gesamten antiken Philosophien, so unterschiedlich sie waren, waren im Kern immer eine Lebensphilosophie, wie sie erst in der Neuzeit wieder aufgegriffen wird (Foucault, Expressionisten, Wilhelm Schmid, Schule der praktischen Philosophie). Sie suchten Wege, das aktuelle Leben sinnvoll selbst zu gestalten. Das Christentum hat dann über ein Jahrtausend die Menschen mit falschen Hoffnungen auf ein (erfundenes) jenseitiges Leben in die Irre geführt und abgelenkt davon, das diesseitige, aktuelle Leben zu gestalten. Das vor allem wollte Nietzsche überwinden, weil es im Kern auch die Quelle von Lüge und Heuchelei war.

Erst mit der Überwindung der religiösen Dogmatik, der Befreiung von Philosophie und Wissenschaft aus den Fesseln der Theologie, sind die Erkenntnisgewinne und Erfindungen zur Lebenserleichterungen der fortschrittlichen Antike wieder aufgegriffen worden. Das begann in der Renaissance (u.a. mit der Entdeckung Epikurs) und führte dann vor allem über die Aufklärung (viele Epikureer) in die Neuzeit. Nietzsche war auf diesem Weg ein wichtiger Denker. Doch die christlich-kirchlichen Fesseln sind noch lange nicht endgültig abgestreift.

ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 22:42

Vielen Dank für die ebenfalls sehr ausführliche Antwort. Ich bin momentan an einen Punkt, wo ich die Religion als einziges Mittel sehe sich von dem Nihilismus zu befreien. Ich sehe da Gott eher nicht als ein allmächtiges Wesen, sondern als ein Sinnbild für Moral.
Ist ein moralischer Gott ein Ausweg vom Nihilismus?

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berkersheim  22.05.2019, 22:52
@ArchBattle

Kann sein, dass einem eine gute Gottesvorstellungen helfen kann. Ich sage ausdrücklich "gute Gottesvorstellung". Es gibt keinen Gott. Es gibt die unterschiedlichsten Gottesvorstellungen. Da empfehle ich die Ringparabel von Lessing im Nathan der Weise. Was Nietzsche übrigens auch an Epikur kritisiert hat, dass der Gottesvorstellungen nicht rundweg abgelehnt hat.

Solange es Gottesvorstellungen gibt, nach denen die Menschen leben, gibt es Götter, weil sie über die Orientierung der Menschen WIRKEN. Diesbezüglich war ein wichtiger Satz der Epikureer: Was wirkt, existiert irgendwie. Wenn Menschen an Götter glauben und danach handeln, dann existieren sie, werden über das Handeln und Meinen der Menschen real. Epikur war eben kein platter Materialist, wie er gern hingestellt wird.

Nach Epikur ist der tiefere Grund für Moral und Gesetze die Existenzbedingung des Menschen sowohl als Individuum wie auch als gesellschaftliches Wesen. Beide Bedingungen erzeugen immer Reibung und jede Moral wie Gesetzgebung ist der Versuch, daraus dennoch ein gelingendes Miteinander zu machen, dass alle miteinander auskommen und dennoch niemand untergebuttert wird. So stammt auch die Vorstellung der Aufklärung vom Gesellschaftsvertrag ursprünglich von Epikur.

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ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 23:06
@berkersheim

Damit stimme ich vollkommen überein.
Es ist wohl eher schon ein anderes Thema, aber um mir die Überwindung des Nihilismus zu beantworten brauche ich eine Idee von einer guten Gottesvorstellung. Ich werde mich mit der Ringparabel von Lessing beschäftigen. Vielen Dank nochmal.

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berkersheim  23.05.2019, 10:28
@ArchBattle

Von wegen Gottesvorstellung: Mir reicht die Einsicht, ich bin nicht Gott und muss mich auch nicht so benehmen. Ich finde es tröstlich, dass ich mir als Mensch mit unvollkommenem Wissen auch Fehler zugestehen kann. Meine Vorstellung: Ich bin TEIL der Welt, der ganzen Natur, einer begrenzten Menschengesellschaft, die aber nur vereinzelt eine Solidargemeinschaft ist, teils auch immer im Wettbewerb um die Überlebensbedingungen steht. Wovor Epikur warnt: Unangemessene Abstraktionen, die die entscheidenden kleinen, aber wichtigen Unterschiede ausradieren und sich ins nebulöse große und ganze verlieren. Ich brauche keinen Gott, um rein aus Vernunft in größere, umfassendere Bezüge eingebunden zu sein. Maßstab ist mir, dass ich und meine Umwelt möglichst glücklich und zufrieden leben können. Allein glücklich sein geht nicht. Daraus ergeben sich allein aus Vernunft moralische Verhaltensregeln, aber aus der Einsicht, dass wir nur fehlbare Menschen sind, auch eine gewisse Nachsicht mit sich und anderen.

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sirigel  17.06.2019, 00:33
@berkersheim

Durch euren Dialog habe ich mir Epikur wieder aus dem Regal geholt.

Berkersheim - Bin angetan von deinen Ausführungen. Danke. Habe mich in den 70ern im Studium, mit Epikur auseinander gesetzt. Deine "Einsicht" fasziniert mich. Muß ich mir mal durch den Kopf gehen lassen.

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Hast wohl Nietzsche gelesen und willst jetzt der Übermensch werden.

Ein hypothetischer Ansatz:

Um den Nihilismus zu überwinden, muss man möglicherweise erstmal den Nihilismus akzeptieren.

Wenn nichts einen Sinn hat, ist es doch eigentlich egal, dass nichts einen Sinn hat, oder? Dann macht auch die Sinnsuche keinen Sinn und du kannst dir aussuchen, was du für gut hälst.

Vielleicht bist du noch gar nicht beim wahren Nihilismus angekommen und seine Überwindung steht daher noch nicht auf der Speisekarte.

ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 22:17

Ich denke schon, dass ich den Nihilismus vollkommen erfasst habe.

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Es scheint du steckst in einer Sackgasse mit dem Nihilismus.

Wenn ich mir die Schlagworte durchlese .. Angst, Sinn, Leben, Moral .. scheint es mir als wüsstest du nicht wohin mit Dir und suchst nach einem rettenden Ufer.

Nun, das gibt es sicherlich.

Ist halt die Frage ob man bereit ist auf einen Pfad einzulassen.

Ich könnte Dir aus persönlicher Ansicht als Anlaufpunkt die reichhaltigen religiösen Traditionen Indiens empfehlen, dort gibt es viele spirituelle Pfade.

Hier wird es schön in einem kurzen Video erläutert, schau mal:

https://youtu.be/u6QF8WoiAUM

Du kannst dich aber genausogut auch einer christlichen Gemeinde in deiner Nähe anschliessen.

Der Geschmack kommt beim Essen, das gilt auch für die religiösen Pfade.

Eine beständige Praxis macht erst den Unterschied.

Gruss

ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 23:30

Danke für deine Antwort. Ich denke es ist besser mir erst selber einen Weg zu bahnen bevor ich mich einen anderen anschließe.

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Mahakaruna  22.05.2019, 23:33
@ArchBattle

Alles Gute! Falls du Fragen hast oder Anregungen suchst kannst du mich gern kontaktieren.

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Das ist genau Friedrich Nietzsches Fachgebiet, der sogar einen neuen Menschen erdacht hat, dessen Ziel es ist, den Nihilismus angesichts der Sinnlosigkeit der Ewigen Wiederkunft zu überwinden. Lies Nietzsche.

Was ist deine Intention dabei den Nihilismus zu "überwinden"?

ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 22:03

Das ist sehr schwer zu beschreiben. Ich suche einen Weg zu finden ein Leben zu führen, dass rein moralisch, rational und dennoch nicht selbstzerstörerisch ist.

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ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 22:15
@berkersheim

Vielen Dank. Ich denke es ist ein guter Anfang, aber ich finde es ist keine ausreichende Lösung nach Epikur zu leben. Ich empfinde es als eine Art Schwebe ohne rationalen Halt.

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Kevidiffel  22.05.2019, 22:25
@ArchBattle
Ich suche einen Weg zu finden ein Leben zu führen, dass rein moralisch, rational und dennoch nicht selbstzerstörerisch ist.
  1. Moral ist ein sehr dehnbarer Begriff. Die Philosophie ist sich bis heute nicht einig, was eine moralische Handlung ist und was nicht. Man muss sich nur mal die unterschiedlichen Betrachtungsweisen durch Immanuel Kant und den Utilitarismus angucken. Völlig verschiedene Konzepte, aber beide mit ihren Begründungen.
  2. Nihilismus ist die "philosophische Anschauung von der Nichtigkeit, Sinnlosigkeit alles Bestehenden, des Seienden", widerspricht damit allerdings nicht einem eigenen Verständnis von Moral.
  3. Ich sehe nicht das Problem zwischen "rational" und "Nihilismus".
  4. Nun, was heißt hier "selbstzerstörerisch". Der Nihilismus versteht sich ja - wie oben beschrieben - als Philosophie der Nichtigkeit. Das heißt ja nicht, dass man damit selbstzerstörerisch ist. Es heißt einfach, dass man diese Erkenntnis gesammelt hat und danach lebt.
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ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 22:30
@Kevidiffel

Danke für die ausführliche Antwort :-D Das Selbstzerstörerische bezieht sich bei mir auf meine Moralvorstellungen. Zum Beispiel: Soll ich immer für den Schwächsten Stellung beziehen, obwohl mir die Konsequenzen auf Dauer selber stark schaden?

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Kevidiffel  22.05.2019, 22:39
@ArchBattle
Danke für die ausführliche Antwort :-D

Immer gerne. Meine Antworten fallen häufig in die Spalte "lang".

Das Selbstzerstörerische bezieht sich bei mir auf meine Moralvorstellungen. Zum Beispiel: Soll ich immer für den Schwächsten Stellung beziehen, obwohl mir die Konsequenzen auf Dauer stark selber schaden?

Ah, jetzt verstehe ich. Nun, ich habe mehrere Jahre meines Lebens damit verbracht zu versuchen andere Menschen um mich herum glücklich zu machen, da das meine einzige Quelle für Glück war. Ich habe mich komplett zurückgenommen und mein Fokus lag einzig bei den anderen. Das war auf Dauer nicht nur unglaublich anstrengend, es hat mich auch deutlich mehr fertig gemacht als es dann tatsächlich für Glück gesorgt hat. Irgendwann habe ich diese Einstellung abgelegt. Es ist nicht so, dass ich heute Glück großartig aus anderen Quellen beziehen würde, aber ich kann einfach mit der Situation besser umgehen. Ich nehme mich und alles um mich herum weniger ernst, was mir das Leben deutlich erleichtert.

Bei deiner obigen Frage kann es keine objektiv richtige Antwort geben (zumindest nicht in meiner Welt, da ich nicht an einen Gott bzw. nicht an Götter glaube). Im Endeffekt musst du überlegen, ob du mit diesen Konsequenzen, die dir offenbar auf Dauer schaden, leben kannst oder nicht. Mit verschiedenen Moralvorstellungen ließe sich auf deine Frage ein klares "Ja" oder ein klares "Nein" finden, aber da ist eben wieder der Teil der Subjektivität.

Aus meiner Sicht: Wenn du tatsächlich jetzt schon absehen kannst, dass die Konsequenzen für dich auf Dauer zu negativ sind, überdenke, wie viel Zeit und Einsatz du hineinstecken willst. Es ist sicherlich löblich etwas zu tun, aber man darf sich nicht selbst darin verlieren. Du darfst nicht vergessen, dass du auch noch da bist, dass du selbst ein Leben hast, dass du selbst glücklich sein willst und "auf Dauer stark selber schaden" ist da wohl nicht die beste Hilfe bei.

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ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 22:52
@Kevidiffel

Auf ausführliche Antworten freue ich mich sehr ^^
Was du geschrieben hast beschreibt nahezu identisch meine Situation. Ich bin wohl momentan da angekommen wo du zur Zeit stehst und festige es auch. Ich möchte mich aber nicht damit abfinden die Dinge locker zu nehmen. Ich kann damit zwar besser leben, aber mein Lebensziel ist es für eine bessere Welt zu kämpfen. Dafür muss ich aber neue Wege finden.
PS: "Für mich hat sich das Ablegen meiner tiefsten Prinzipien wie ein Sterben angefühlt mit starken seelischen Schmerzen und tiefster Trauer. Vielleicht hast du es ähnlich empfunden. "

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Kevidiffel  22.05.2019, 23:20
@ArchBattle
Was du geschrieben hast beschreibt nahezu identisch meine Situation. Ich bin wohl momentan da angekommen wo du zur Zeit stehst und festige es auch. Ich möchte mich aber nicht damit abfinden die Dinge locker zu nehmen.

Bisher fahre ich halbwegs gut mit der Schiene. Mir ist zwar bewusst, dass mich die Situation nicht wirklich erfüllt, aber ich habe gelernt damit zu leben, was es irgendwie erträglicher macht. Insbesondere habe ich Personen in meinem Umfeld, die die Dinge ähnlich oder äquivalent betrachten, was es ein Stück weit leichter macht. Den größten Grund, den ich hinter meinem akzeptierten Tiefpunkt sehe, ist die Tatsache, dass ich Single bin und damit Bedürfnisse, die bei mir relativ stark ausgeprägt sind (Nähe, Zuneigung, Intimität,...) nicht bis kaum erfüllt werden.

Ich kann damit zwar besser leben, aber mein Lebensziel ist es für eine bessere Welt zu kämpfen. Dafür muss ich aber neue Wege finden.

Nun, zuerst sollte dir bewusst sein, dass du diesen Kampf nicht alleine antreten kannst. Begibst du dich mehr in ein Umfeld, das ähnlich denkt wie du und auch diesen Kampf als Lebensziel hat, fällt es dir nicht einfach nur leichter, du wirst auch deutlich mehr damit aufgehen.

PS: "Für mich hat sich das Ablegen meiner tiefsten Prinzipien wie ein Sterben angefühlt mit starken seelischen Schmerzen und tiefster Trauer. Vielleicht hast du es ähnlich empfunden. "

Tatsächlich ja. Besonders Richtung Ende der Mittelstufe und die gesamte Oberstufe hinweg war es mir immer wichtig, dass andere Menschen mich mögen, dass ich sie glücklich machen kann und dass ich dadurch etwas Glück erhaschen kann. Besonders gegen Anfang des Studiums oder vielleicht schon gegen Ende des Abiturs hat sich das immer mehr gelegt. Es war.. merkwürdig, aber auch gut. Die Erkenntnis, dass mich das beschriebene Verhalten einfach mehr fertig gemacht hat, als es sich irgendwie ausgezahlt hätte, war ein guter Schritt um mich von meinem alten Ich zu lösen und einen neuen Weg einzuschlagen.

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ArchBattle 
Fragesteller
 22.05.2019, 23:46
@Kevidiffel

Ich möchte mich nochmal zum Schluss bedanken. @Kevidiffel und @berkersheim ihr habt wirklich sehr tolle Antworten gegeben.
Ich denke das Ich einen guten Weg gehe und möchte mich mit der Ringparabel von Lessing auseinandersetzen.

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Kevidiffel  22.05.2019, 23:54
@ArchBattle
Ich möchte mich nochmal zum Schluss bedanken. @Kevidiffel und @berkersheim ihr habt wirklich sehr tolle Antworten gegeben.

Nicht der Rede wert. Dafür bin ich ja hier :-)

Ich denke das Ich einen guten Weg gehe und möchte mich mit der Ringparabel von Lessing auseinandersetzen.

Habe ich (leider) (noch) nicht gelesen. Vielleicht ja ein anderes Mal!

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