Was oder wer ist Gott? – Eine Antwort der Kena-Upanishad
Was sind die Upanishaden?
Die Upanishaden sind die ältesten philosophisch-mystischen Schriften Indiens und zeitlos – sie sprechen von einer Dimension des Menschseins, die nicht an Kultur, Epoche oder Religion gebunden ist, sondern an das, was in jedem Menschen im Innersten lebt: das Fragen, das Staunen, das Suchen nach dem Ursprünglichen.
Warum die Upanishaden auch heute – und im Westen – eine Antwort geben können:
1. Sie stellen dieselben existenziellen Fragen wie moderne Menschen:
- Wer bin ich wirklich – jenseits von Rollen und Gedanken?
- Was ist das Bewusstsein, das all meine Erfahrungen trägt?
- Was bleibt, wenn alles Vergängliche vergeht?
- Gibt es ein letztes, nicht veränderbares Wirkliches?
Diese Fragen finden sich genauso in westlichen Philosophien (Platon, Meister Eckhart, Heidegger), aber die Upanishaden bringen sie mit einer mystischen Schlichtheit und zugleich metaphysischen Tiefe auf den Punkt.
Die Kena-Upanishad ist darunter eine der ältesten und zählt zu den Haupt-Upanishaden des Sāmaveda. Ihr Name leitet sich vom ersten Wort ab:
„Kena“ – „durch wen oder was?“
Sie stellt keine Dogmen auf, sondern hinterfragt radikal unsere gewohnten Vorstellungen von Erkenntnis, Wahrnehmung und Gott. Statt eine greifbare Gottheit zu beschreiben, führt sie den Leser zur Erfahrung eines unsichtbaren, aber alles tragenden Bewusstseins, das jenseits von Denken und Sprache liegt.
Zitate aus der Kena-Upanishad – mit Sanskrit und Deutung
1. Die große Frage: Wer wirkt hinter allem?
Deutsch:
„Durch wessen Willen lenkt der Geist seine Gedanken?
Durch wessen Licht scheint das Auge?
Wer ist der Hörer hinter dem Ohr,
der Sprecher hinter der Sprache,
der Atem hinter dem Atem?“
(Kena I.1)
Sanskrit (Devanagari):
केनेषितं पतति प्रेषितं मनः।
केन प्राणः प्रथमः प्रैति युक्तः।
केन॑शितां वाचमिमां वदन्ति।
चक्षुः श्रोत्रं क उ देवो युनक्ति॥
Transliteration (IAST):
Keneṣitaṁ patati preṣitaṁ manaḥ?
Kena prāṇaḥ prathamaḥ praiti yuktaḥ?
Kenaśitāṁ vācam imāṁ vadanti?
Cakṣuḥ śrotraṁ ka u devo yunakti?
2. Das verborgene Prinzip hinter den Sinnen
Deutsch:
„Es ist das Ohr hinter dem Hören,
der Geist hinter dem Denken,
die Rede hinter dem Sprechen,
das Auge hinter dem Sehen,
und der Atem hinter dem Atmen.“
(Kena I.2)
Sanskrit (Devanagari):
श्रोत्रस्य श्रोत्रं मनसो मनो यत्।
वाचो ह वाचं स उ प्राणस्य प्राणः।
चक्षुषश्चक्षुरतिमुच्य धीरा:
प्रेत्यास्माल्लोकादमृता भवन्ति॥
Transliteration (IAST):
Śrotrasya śrotraṁ manaso mano yat,
vāco ha vācaṁ sa u prāṇasya prāṇaḥ,
cakṣuṣaś cakṣur atimucya dhīrāḥ,
pretyāsmāl lokād amṛtā bhavanti.
3. Das Paradox der Erkenntnis Gottes
Deutsch:
„Wer meint, dass er es erkannt hat, weiß es nicht.
Wer aber erkannt hat, dass er es nicht erkannt hat,
der hat es vielleicht wirklich erkannt.“
(Kena II.3)
Sanskrit (Devanagari):
यस्यामतं तस्य मतं मतं यस्य न वेद सः।
अविज्ञातं विजानतां विज्ञातं अविजानताम्॥
Transliteration (IAST):
Yasyāmataṁ tasya mataṁ, mataṁ yasya na veda saḥ,
avijñātaṁ vijānatāṁ, vijñātaṁ avijānatām.
4. Der Gott jenseits des Wissens
Deutsch:
„Es ist unbekannt dem, der meint, es zu kennen,
und bekannt dem, der weiß, dass er es nicht kennt.“
(Kena II.4)
Sanskrit (Devanagari):
प्रत्यबोधविदितं मतममृतत्वं हि विन्दते।
आत्मा चेत् अवेदिनं चेति मृत्योः स मृत्युमाप्नोति॥
Transliteration (IAST):
Pratyabodhaviditaṁ matam amṛtatvaṁ hi vindate,
ātmā cet avedinaṁ ceti mṛtyoḥ sa mṛtyum āpnoti.
5. Gott kann nicht gedacht, nur erfahren werden
Deutsch:
„Es offenbart sich denen, die danach streben –
nicht als Objekt des Wissens,
sondern in der Erfahrung des Selbst.“
(Kena II.5)
Sanskrit (Devanagari):
न तत् मनः प्राप्नुयात् न वाग् न चक्षुः
न इन्द्रियाणि न बुद्धिः।
न तत् विद्यया लभ्यः
कथं नु तं विजानीयामिति चेद् वद॥
Transliteration (IAST):
Na tat manaḥ prāpnuyāt, na vāg na cakṣuḥ,
na indriyāṇi, na buddhiḥ;
na tat vidyayā labhyaḥ –
kathaṁ nu taṁ vijānīyām iti ced vada.
Zusammenfassung
Die Kena-Upanishad offenbart Gott nicht als eine Gestalt oder ein greifbares Wesen, sondern als das unaussprechliche, allgegenwärtige Bewusstsein, das allem zugrunde liegt.
Er ist der Seher im Sehen, der Denker im Denken, der Hörer im Hören – und doch niemals selbst ein Objekt des Sehens, Denkens oder Hörens.
Wer ihn fassen will, verliert ihn – wer aber in Demut erkennt, dass Gott nur in Stille und innerer Einsicht erfahren werden kann, der beginnt, Ihm nahe zu kommen.
LG