Wie ist das Dorfleben?

15 Antworten

Es kann gut laufen oder miserabel, ich habe beides erlebt - es kommt enorm auf das Dorf und die Leute an, auf die Mentalität (ob gütig-friedlich oder streitsüchtig und bigott), ebenso auf die Lage des Dorfs und die Gemeinschaft - da liegt es auch an Zugpferden: Ein guter Ortsvorsteher oder Pfarrer schafft es, sein Dorf in Wallung zu bringen - ein "Schlechter" hingegen schafft es nicht.

Ich stelle es mir so ziemlich romantisiert vor, dass alle zusammenhalten und dass Freundschaften leichter entstehen können, weil jeder jeden kennt

Es ist in den Zeiten, wo gefühlt jeder für sich beansprucht "Dorfkind" zu sein und das cool findet sicherlich so, dass das Ganze romantisiert und glorifiziert wird.

Ich habe jahrelang als Mediaberater einer Zeitung Kunden auf den Dörfern betreut - ich habe Zeitungsanzeigen an Gewerbekunden vom kleinen Mazdahändler über den Landgasthof bis hin zur Volksbank ABC und dem Maler-/Gipserbetrieb XYZ verkauft. Auf den Dörfern war ich zum Schluss übrigens sehr unbeliebt, zumindest bei meinen Kunden - ich war nämlich keiner, der mit Rabatten um sich warf, habe nicht getratscht und war kein Kumpel, sondern einer, der per Sie mit den Leuten gewesen ist. Vielen hat das nicht gepasst und sie zeigten es mir. Ich hätte denen um akzeptiert zu werden einen volkstümlichen Dialektschwätzer vorspielen müssen, der sich wie irgendein Bauernlümmel aufführt, auch mal halb-besoffen zur Arbeit kommt und anzügliche Sachen zu Frauen sagt, am Wochenende reihum die Bauernmädchen flachlegt und mit älteren Männern von der Volksbank im Hinterzimmer vulgärste Witze über Frauen oder Sex reißt, es toll findet dass der Mazdahändler mit Feile und Hammer Hagelschäden fingiert/fragt ob man das beim eigenen Auto auch mal machen kann und Beifall klatscht, wenn der Malermeister bei der Drückjagd den Größten geschossen hat und sich schmieren und kaufen lässt (ich habe solche Sachen immer wieder eindeutig angeboten bekommen und stets abgelehnt), aber das bin ich nicht und ich verkaufe meine Seele nicht! Deswegen war ich bei denen alsbald untendurch. Meine Nachfolgerin hatte vergleichbare Probleme wie ich mit den selben Leuten und wurde nach einigen Monaten auf sagen wir mal sexueller Ebene belästigt, bis sie aufgehört hat und erst mal in Behandlung gehen musste.

Außerdem ist es ziemlich ruhig und man hat die Nähe zur Natur. Ist es wirklich so?

Das ist häufig der Fall, es gibt aber auch Dörfer, durch die Bundesstraßen führen, die direkt neben Autobahnen liegen oder neben Industriegebieten bzw. über Industriegebiete verfügen, die meist in den 90ern angebaut worden sind, weil Bauland billig war und Unternehmer den Gemeinderat geschmiert haben - denn auf dem Dorf wird oft noch geschmiert und getrickst. Die Leute tun oft nur so nett und fromm und gesellig. Ich habe auf dem Dorf gelernt, wie die vollständige Demontage eines Menschen ablaufen kann, die man schmutzigste Tricks einsetzt und sich dann öffentlich als ach so freundlich und gläubig darstellt.

Gibt es auch große Nachteile (z.B. Infrastruktur) ?

Sicher. Es ist nicht mehr so wie in den 80ern, wo fast jedes Dorf eine relativ intakte Geschäftswelt mit Bäckerei, Metzgerei, Edeka bzw. Kolonialwaren-Laden (so hieß das damals noch), Postfiliale, Sparkasse oder Volksbank (Ein-Mann-Filiale), Elektriker, Autowerkstatt mit Markenvertretung und Tankstelle, drei Gaststätten sowie Grundschule und Kindergarten gewesen ist. Man muss oft zumindest zehn Kilometer fahren, bis man alles hat, was man braucht und oft noch länger - und wenn es eine Grundschule gibt, ist das schon viel und geht es nach der vierten Klasse los mit dem Fahren, Holen und Bringen. Die meisten Familien im Dorf haben zwei Autos, weil es nicht anders geht.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Hades007 
Beitragsersteller
 15.12.2024, 10:30

Wow, danke für deine detaillierte Beschreibung deiner Erfahrungen, die mich teils erstaunt haben. Als Städter hätte ich nicht gedacht, dass in den Dörfern solch eine enge und zusammengeschweißte Mentalität vorherrscht, die mich an eine Sekte, die sich von der Außenwelt abgeschnitten hat, erinnert.

Ich stelle es mir so ziemlich romantisiert vor,

Ja.

dass alle zusammenhalten und dass Freundschaften leichter entstehen können, weil jeder jeden kennt.

Das war früher mal so, weil da jeder auf jeden angewiesen war. Jede hatte irgendwas, was ein andere mal gebracht hat und so waren alle irgendwie ein Stück weit voneinander abhängig. Das ist in Zeiten von Onlineshoping und Next-Day Lieferung gröstenteils vorbei.

Außerdem ist es ziemlich ruhig und man hat die Nähe zur Natur.

Kommt drauf an, wie klein das Dorf ist und ob du eher in der Ortsmitte oder am Rand wohnst.

Gibt es auch große Nachteile (z.B. Infrastruktur) ?

Das ist eigentlich schon der große Nachteil. Ohne Auto bist du auf dem Land einfach aufgeschmissen, weil es in vielen Orten nichtmal mehr einen Tante Emma Laden gibt, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Von Ärzten oder Postfilialen ganz zu schweigen. Ich hab manchmal das Gefühl, dass der ländliche Raum ganz bewusst vernachlässigt wird, um die Leute in den Städten zu konzentrieren (Stichwort 15-Minuten Stadt).🤔

Ich möchte meine Abgeschiedenheit in einer 1000 Seelen Gemeinde trotzdem gegen nichts eintauschen. Es geht einem keiner übermäßig auf den Sack, man hat seine Ruhe und direkt 30m hinterm Haus beginnt der Wald. Für Kinder ist das 100x besser als in so einer Betonwüste aufzuwachsen, wo sie mit 12-13 schon das erste mal mit Drogen und Kriminalität in Kontakt kommen und wo in den Schulen Deutsch schon nur noch zweite Fremdsprache ist.😒

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Hades007 
Beitragsersteller
 14.12.2024, 20:32

Ich kann dir voll und ganz zustimmen! Und das mit den 15-Minuten-Städten wird leider eine traurige Realität sein, wenn die Menschen nicht bald erwachen und sich dagegen wehren.

Und zum letzten Absatz hast du mir aus dem Herzen gesprochen. Ich finde es als Jugendlicher einfach nur krank, was aus den Städten geworden ist. Selbst in meiner Kindheit war es nicht so schlimm gewesen. Man kann sich auch mit niemandem verbinden, weil man die Gemeinschaft durch "Vielfalt" ersetzt hat. Deshalb habe ich vor, in ländlichere Gebiete zu ziehen, wobei die Entwicklung auch dort teilweise mit der Zeit ankommen wird.

Mitte der 50er bin ich in einer Millionenstadt geboren. Aber irgendwie waren mir das immer zu viele Menschen und zu wenig Herz.

Mein Zeit am Ende der 70er Jahre auf dem Dorf leben habe ich voll genossen.

Jeder kennt jeden, du kennst in einem Mehrfamilienhaus sogar alle deine Nachbarn, man hält bei Problemen zusammen. Freunde fand ich enorm schnell.

Und zu wichtigen Ämter in die nächste Stadt war immer eine Abenteuerfahrt. Aber zuhause auf'n Dorf wars immer am schönsten, sogar während des Winters 1978/9, als der Schnee bei uns manchmal den gesamten ersten Stock verdunkelte.

Aus arbeitstechnischen Gründen musste ich wieder in einen Stadt umziehen, bevorzugte jedoch Kleinstädte und pendelte dann lieber. Auch heute lebe ich in einer Kleinstadt und hier kenne ich im Mehrfamilienhaus auch jeden Nachbarn.


Hades007 
Beitragsersteller
 14.12.2024, 21:28

Bestes Leben!

Bikepacking  14.12.2024, 22:15
@Hades007

Fast vergessen, freiwillige Feuerwehr war ich ab 1975 auch. Aber nur als Brandschutzwächter. Die suchten wegen der vielen Waldbrände Helfer.

weil jeder jeden kennt

Und jeder über jeden lästert, schon wenn der Rasen im Garten etwas höher steht. Und kommt man in ein Dorf, gucken sie alle wie verschreckte Hühner über den Gartenzaun, weil es sich um einen Eindringling handeln könnte, der hier nicht hingehört. Und schwul oder Ausländer sollte man auf gar keinen Fall sein ...

https://www.youtube.com/watch?v=ZqqQ_cSUTCY


Hades007 
Beitragsersteller
 21.12.2024, 20:44

Übertreib mal nicht. Du generalisierst alles.

Klar gibt es auch Nachteile!

Ohne Auto läuft hier nichts. Kann nicht mal ohne Auto einkaufen. Natürlich! gibt es auch keine Schule, Kindergarten, Arzt.............................

Insgesamt bin ich hier aber glücklich! Nein ich kenne nicht jeden! Aber Hilfsbereitschaft ist echt hoch angesetzt.

Ruhe? Na kommt drauf an. Meine Nachbarin wohnt direkt! an der Dorfstraße und ihre Fenster vibrieren regelmäßig bei jedem Traktor, der vorbeifährt und das sind viele!

Ich selbst wohne abseits und genieße im wesentlichen eine himmlische Ruhe. Hauptlärmquelle? die Vögel! Und einmal pro Jahr die Erntezeit. Mein Haus liegt direkt an den Feldern und ja die Ernte kann bis in die Nacht gehen. Aber ist halt nur einmal pro Jahr. Augen zu und durch!