Kategorischer Imperativ und Rache?

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Rache ist zur Zeit Kants nur eine den menschlichen Verstand und dessen Vernunft, das Urteilsvermögen zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, schwer behindernde kurzzeitige Leidenschaft, ein Affekt. Und Affekte sind im aufklärerischen Rationalismus grundsätzlich tierische Fehler, die eines aufgeklärten Menschen unwürdig sind.

Außerdem führt Rache immer zum Bösen, deshalb kann sie schon a priori nicht Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein (kategorischer Imperativ). Das ist auch der Grund, weshalb nicht nur Kant das alttestamentarisch, jüdische Talionsrecht für inhuman hält: Strafe für ein Verbrechen kann kein gleichartiges Verbrechen sein.

Tauscopis 
Fragesteller
 18.07.2022, 21:53

Vielen Dank für den Beitrag. Rache führt immer zum Bösen, Vergeltung auch? Das ist halt diese miese Frage, ob Vergeltung eine Form der Gerechtigkeit sein kann. Kant selbst hat ja die Todesstrafe soweit ich bisher durch sein Werk gekommen bin nicht abgelehnt. Im Gegenteil einmal, unter bestimmten Umständen, hat er sich sogar für diese ausgesprochen. Und das ist der Punkt wo ich nicht weiter weiß. wo ich denke, dass der kategorische Imperativ nicht die Frage beantworten kann, ob Rache an (Extrembeispiel) einem mordenden SS-Mann, von der Seite eines Holocaustüberlebenden aus, ethisch begründbar ist. Denn Mit dem Umständen des Völkermords, wäre ja objektivierbares und universelles Recht Begründbar. (Ich selbst sehe das kritisch und würde außerhalb Kants weiterargumentieren aber es geht vorerst um ihn).

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Skoph  19.07.2022, 08:06
@Tauscopis

Rache ist etwas Privates, Strafe wie Todesstrafe etwas Offizielles, also Staatliches. D.h. einen SS-Mörder privat aus Rache zu töten, ist auch laut kat. Imp. verboten, weil es nicht Grundlage der allg. Gesetzgebung sein kann, aber dass ein Staat einen SS-Mörder zum Tod verurteilt, kann laut kat. Imp. Grundlage der allg. Gesetzgebung sein - wenn die Allgemeinheit dies als gut bewertet.

Laut Kant muss das Gewissen, ein angeborenes Wissen über Gut und Böse (im christlichen Sinn) die Grundlage des kat. Imp. sein.

Kant lebte eben Ende des 18. Jhs., da war der Wert des Menschen noch sehr gering. Erst die Napoleonischen Kriege u. andere danach wie auch die Weltkriege mit millionenfachem physischen und psychischen Foltern, Vergewaltigen und Morden führten zu "Menschenrechten" und zur Abschaffung der Todesstrafe. Kants u.a. Aufklärung ist aber die Grundlage dafür.

Das ist ja auch unser Problem, dass z. B. in zu vielen osteuropäisch atheistischen und auch islamischen Staaten keine Aufklärung auf diesem damals angenommenen "angeborenen christlichen Gewissen der Nächstenliebe" (vgl. Rousseau: Er glaubte ja an das angeborene Gute in jedem Menschen; vgl. Voltaire: Er glaubte an den für das Volk guten adeligen Herrscher von Gottesgnaden) stattfand. Sie müssen vielleicht erst durch weiteres staatliches Quälen und Morden lernen...

Und wir alle haben das Problem, dass der materialistische Kapitalismus ebenso wie der materialistische Sozialismus ebenso wie die auf das Jenseits gerichteten Weltreligionen Kants "Vernunftreligion" der gegenseitigen Verpflichtung in einer Gesellschaft nicht ernst genug nimmt: Der Egoismus wurde und wird durch das männliche (vgl. Erich Fromm: Die Kunst des Liebens (1956); besonders auch die letzten Seiten über die gesellschaftliche Liebe) Leistungsprinzip (Leistung im Sinne der Normalität erbringt Anerkennung, z. B. Geld, Anerkennung, Liebe als Kind) und durch die alttestamentarische Ethik nicht nur der kath. Kirche (Der Mensch mache sich die Erde untertan - wieder das männliche Prinzip, jüdisches Talionsrecht > RACHE als gerechtes Gebot) ins Endlose gefördert.

Goethes Tragödien "Faustus" (der Begünstigte) berichten von dieser bösen patriarchalisch geprägten Welt - nichts noch etwa von Psychologie oder Soziologie zu wissen - und sie enden in der Verherrlichung des Ewigweiblichen mit dem Grundgedanken des schuldhaft Männlichen, dem Gott aber vergeben würde, weil es sich ja lebenslang bemüht habe, nur Gutes zu tun. So wäre Gott aus E. Fromms Sicht selbst das Weibliche, die tröstende Liebe des Nichts-leisten- müssenden, auch des Versagers auf dieser Erde, im ethischen Sinn des überwiegend bösen Menschen.

Ein Riesenthema, über das es längst tausende intelligente Buchseiten zu lesen gäbe...

Die RACHE ist da ein kleines Kapitel, weil man seit Jahrzehnten weiß, dass sie dem stolzen Rächer psychisch selbst unermesslich schadet. Sie ist ein Schritt auf dem eigenen Weg zum Dummboshaften, zum Bösen.

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Tauscopis 
Fragesteller
 19.07.2022, 12:17
@Skoph

Alles klar vielen Dank! Das war eine sehr aufschlussreiche Antwort, auch durch die präzise Differenzierung zwischen Staat und privatem.

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Lennister  19.07.2022, 09:11
Das ist auch der Grund, weshalb nicht nur Kant das alttestamentarisch, jüdische Talionsrecht für inhuman hält

Kant war kein Gegner des Talionsprinzips. Er war im Gegenteil ein starker Befürworter dieses Prinzips, das eine wesentliche Grundlage seiner Straftheorie war.

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Der Kategorischen Imperativ stuft diejenigen Handlungen als moralisch richtig ein, bei denen die handelnde Person wollen kann, dass diese Handlungen allgemeingültig für jeden Menschen gelten.

Rache ist einseitig. Ich kann durchaus denken, dass derjenige an dem ich mich räche sich selbst auch bei anderen rächen kann. Aber ich kann nicht denken, dass derjenige andem ich mich räche sich an mir rächen soll. Ich räche mich ja nicht in dem Willen ,,zurückgerächt" zu werden.

Tauscopis 
Fragesteller
 18.07.2022, 20:36

Ja das verstehe ich. Aber wenn ich in dem Fall des Beispiels sagen würde: "Wenn ich derjenige wäre, der seine Familie ermordet hätte, dann würde ich das selbe für mich gutheißen", zählt das dann nicht, weil es dem Wille zum Selbsterhalt widerspricht?

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Moosberg787  18.07.2022, 20:54
@Tauscopis

Wenn man jemanden tötet. Kann der getötete dann für den das Gesetzt auch gilt jemanden töten?

Das wäre aber meine eigene Interprätation.

Kant selbst hätte gegen das Töten in Form der Todesstrafe erst mal nichts.

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Pyramesse27806  19.07.2022, 10:18

Dann müssten wir ja alle stets dasselbe wollen auch im Hinblick auf das Wieviel, oder? Jemand schrieb mal, der kategorische Imperativ sei zu sehr Auslegungssache. Ausserdem bedeutet kategorisch voll und ganz ohne Absicht zu handeln im Rahmen einer Pflichterfüllung. Gesetze verschieden auslegen zu können, dann sind diese verdorben (Voltaire).

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Moosberg787  21.07.2022, 10:36
@Pyramesse27806

Ich bin ja auch nicht so überzeugt von Kants Argument, man solle immer nur aus Pflicht handeln.

Aber bei der Frage ging es ja darum Kant zu rezitieren.

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Jahre zurück sah ich den Film "The Railway Man". Was hat dieser Film nun mit dem Kategorischen Imperativ zu tun? Der britische Offizier Eric Lomax hat sich damals nicht gerächt, obwohl er nachvollziehbare Gründe und alle Möglichkeiten dazu gehabt hat. Kannte er den Kategorischen Imperativ? Wir wissen es nicht. In Deiner Frage schreibst Du (als Beispiel) von den Folterknechten der SS. Eric Lomax ist durch die gleiche Hölle gegangen, oder doch eine sehr ähnliche. Ich denke, man braucht den Kategorischen Imperativ nicht zwingend zu kennen oder Immanuel Kant gelesen zu haben, um sich für Menschlichkeit zu entscheiden. Rache ist keine Lösung. Ganz im Gegenteil.

Während des Zweiten Weltkriegs wird der britische Offizier Eric Lomax von den Japanern erst gefangen genommen und anschließend in ein Kriegsgefangenenlager gebracht, wo er gezwungen wird, bei der Thailand-Burma-Eisenbahn nördlich der Malaiischen Halbinsel zu arbeiten. Während seines Aufenthalts im Lager wird Lomax von den Kempeitai gefoltert, weil er einen Funkempfänger gebaut hat, mit dem die Gefangenen Nachrichten der BBC hören können. Die Folterknechte verprügeln ihn und pressen Wasser mit einem Schlauch in seinen Mund, bis er fast ertrinkt.

Im Jahr 1980 lernt Lomax während einer Zugfahrt Patti kennen, die er kurz darauf heiratet. Die Ehe scheitert beinahe, weil Lomax immer noch an einem psychischen Trauma aus der Kriegszeit leidet. Seine Frau Patti will ihm helfen, nachdem Lomax’ Freund Finlay ihr von den grauenhaften Leiden im Lager berichtet hat. Erst als Finlay Selbstmord begeht, entscheidet Lomax sich, einen seiner noch lebenden Peiniger namens Takashi Nagase aufzusuchen und ihn mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren.

Er reist nach Thailand, wo Nagase ein Museum betreibt. Beide sitzen am Tisch, doch diesmal stellt Lomax die Fragen. Die Situation spitzt sich zu, als Lomax Nagases Arm in eine Vorrichtung zum Knochenbrechen legt. Doch Lomax schlägt mit dem Knüppel neben Nagases Arm und verschont ihn. Der Japaner erzählt, die militärische Führung Japans habe sie im Krieg belogen. Lomax habe nie aufgegeben und ihnen die Wahrheit gesagt.

Wieder in Schottland erhält Lomax von Nagase einen Brief, in dem dieser ihn um Verzeihung für seine Taten bittet. Lomax reist erneut nach Thailand, diesmal mit seiner Frau Patti. Diese wird Zeugin, als Lomax Nagase verzeiht.

Eine Tafel am Ende des Films informiert die Zuschauer, dass Lomax und Nagase bis zu ihrem Lebensende Freunde waren.

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Liebe_seines_Lebens_%E2%80%93_The_Railway_Man

Tauscopis 
Fragesteller
 19.07.2022, 01:06

Dankeschön. Das ist auch durchaus ein gutes pragmatisches Beispiel um der Rache als solches zu widersprechen. Allerdings geht es mir ja nicht um eine allgemein ethische Betrachtung der Rache, sondern um eine kantianische Betrachtung um zu sehen wo die Grenzen des Kategorischen Imperativs leben. Aber ein wirklich sehr interessanter Film. Den werde ich vielleicht mal schauen,

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SerenSaethu  19.07.2022, 02:18
@Tauscopis

Ah! Verstanden, dann muss ich mich doch einmal näher mit dem Kategorischen Imperativ befassen bzw. um eine kantianische Betrachtung (das habe ich jetzt von Dir übernommen). Von Immanuel Kant habe ich natürlich schon gehört, vom Kategorischen Imperativ das erste Mal im damaligen CosmiQ. Viel Nennenswertes oder Hilfreiches wird mir also dazu nicht einfallen, davon ist auszugehen. Aber ein Versuch ist es wert. ;-) Dankeschön für Deine netten Worte! LG Seren

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SerenSaethu  19.07.2022, 12:32
@SerenSaethu

Grüß' Dich, Tauscopis, da bin ich wieder. Du hast eine sehr positive und mega-interessante "Lese-Lawine" bei mir losgetreten. Dankeschön dafür! Das ist ja mal wirklich etwas ganz anderes hier bei GF. Auf geht's! Nach meinem Verständnis muss es die Pflicht sein, dass der Verstand über Gefühle, Neigungen, Emotionen aller Art herrscht, wenn es um Moral und Ethik geht. "Kant ist der Meinung, dass der gute Wille das einzig absolut Gute ist. Begabung, Charakter oder günstige Umstände können auch zu schlechten Zwecken verwendet werden, aber der gute Wille an sich ist positiv zu bewerten und daher das höchste Gut. Die Konstruktion eines Ideals des guten Willen ist Voraussetzung für seine Ethik." Der kategorische Imperativ ist deontologisch, d. h., er bezieht sich auf den Begriff der Pflicht. Wenn mir also jemand großes Unrecht zufügt, ich denjenigen - aus der Wut heraus - in Grund und Boden verfluche und ihm die Pest an den Hals wünsche, dann ist es meine (moralische) Pflicht, meinen VERSTAND einzuschalten, auch wenn mir 10 mal der Kragen platzt. Immanuel Kant hat es natürlich wesentlich schöner geschrieben. Aber mit großer Freude (!) lese ich meine momentan noch sehr dürftige Lektüre, werd' mir doch noch Bücher dazu bestellen. Das interessiert mich sehr. Das greift. Das ist mein Ding (auch wenn ich ab und an Passagen 3 x lesen muss, das ist mir das Thema wert!). Kant schreibt ein bisschen kompliziert.

Tausend Dank für diesen Impuls!

Ach ja, Entschuldigung bitte. Was ich bislang gelesen habe, das verfestigt meine Meinung = Rache ist nicht zu vereinbaren mit dem kategorischen Imperativ.

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SerenSaethu  19.07.2022, 12:47
@SerenSaethu

Mir ist noch etwas dazu eingefallen. Seit langen Jahren lebe ich - so gut es geht, und das geht ganz gut - AHIMSA. Der kategorische Imperativ gefällt mir also zu 100 %, das passt perfekt zusammen. Eines gestehe ich allerdings = bei Putin muss ich mich echt am Riemen reißen, mein geliebtes AHIMSA beizubehalten. Es gibt Menschen, denen muss man Grenzen setzen, weil sie anscheinend gar nicht in der Lage sind, ihren Verstand einzuschalten und nur ihren Trieben folgen.

Sehr lieben Dank für die Lesegeduld! LG Seren

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Hallo,

"Rache" ist absolut unvereinbar mit dem "Kategorischen Imperativ".

Hansi

Tauscopis 
Fragesteller
 18.07.2022, 20:07

Eben weil Rache ein höchst emotionaler Akt (z.B. aus Frustration oder Hass) ist und eine Gesellschaft der Rache in einen ständigen Kreislauf der Gewalt rutschen würde?

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Kerner  18.07.2022, 20:50
@Tauscopis

Genau!

Weil laut Kant die Emotionen (Sinnlichkeit) der Vernunft (Erkenntnis und Erfahrung) unterworfen sind.

Handle stets so, dass deine Grundsätze, gemeint sind Einstellungen, auch allgemeine Gesetze einer Gesellschaft werden können.

Hansi

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Skoph  19.07.2022, 08:18
@Tauscopis

Ein gutes Beispiel hat man in "Israel und Palästina": Einer schmeißt aus Wut und Rache Bomben, der andere aus Rache und Wut zurück. Irgendwer intelligenter Mächtiger bremst dann zum Glück den Kreislauf für eine unbestimmte Dauer wieder. Ob es besser wäre, wenn sie sich eines Tages gegenseitig ausgerottet hätten, ist eine Frage, die heutzutage selbst als böse bewertet wird. Was Kant dazu gesagt hätte, wäre interessant, immerhin dreht sich dann um kriegerisches Massenmorden. Wahrscheinlich war deshalb sein letztes Werk die praktisch genaue Anleitung für Staatsregenten "Zum ewigen Frieden".

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Kerner  19.07.2022, 08:55
@Skoph

Hallo!

Gutes Beispiel!

Ich habe es schon lange aufgegeben Kant rational zu verstehen.

Das schaffen nicht mal die Profs..

So erspare ich mir die drei obligatorischen Beispiele lieber. Das kann man dann in dunklen Studierendenkneipen ausdiskutieren,

Hansi

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SerenSaethu  18.07.2022, 22:40

Das ist sehr gut! Danke!

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