Meinem Denken fehlt bei diesem Text der scharf unterscheidende Verstand, d.i., dass zu viele Begriffe und deren Bedeutungen blind ineinander verknüpft werden und somit etwas scheinbar Intellektuelles entsteht; ein Gedankengebäude voller semantischer Fantasie ohne klare, eindeutige Aussagen.
Schon der erste Satz ist so unscharf formuliert:
Du bist nicht du, bevor du es bist. < DU ist eine Definition des ICHS, d.h. ein anderes ICH definiert ein ICH mit DU; z.B. ist das neugeborene ICH ein DU für das ICH der Mutter - und umgekehrt. Z.B. kann sich das ICH bei der Selbstreflexion einfach DU nennen, muss es aber nicht. Das ist eben reine Sache der Definition. Und Definitionen müssen möglichst eindeutig sein, um damit möglichst präzise denken zu wollen.
Ich möchte nicht behaupten, dieser Text sei uninteressant, aber er neigt mir eben mehr zur psychopathischen Paranoia als zur ernsthaften Philosophie, auch wenn er vielleicht von einer berühmten Persönlichkeit verfasst wurde.
Die Schlusszeilen sind philosophisch unscharf, rational betrachtet uninteressant, deshalb poetisch, vielleicht als Gedankenspiel sogar gekonnt und schön poetisch:
Denn selbstverständlich "erinnere" ich mich daran, wer ich bin und wer ich als DU bin, also an das, für was mich viele andere Ichs alles halten. Das habe ich doch nicht vergessen. Sehr, sehr Vieles aus vielen Jahrzehnten könnte ich sofort und jederzeit aufschreiben, auch zusätzlich mit Vermutungen über mein Ich. Das ist das Selbstbewusstsein auch meines Ichs, erzeugt durch andere Ichs für die mein Ich ein Du ist. Und natürlich kann Ich all das nicht gewesen sein, bevor Ich durch andere Ichs zu deren Du wurde. Und logischerweise habe Ich mich deshalb nicht vorher verlieren können, weil es ja da mein Du noch nicht gab.
So, das dazu. Wahrscheinlich sehe ich diesen Text nur falsch, wenn er etwas ganz anderes Richtiges aussagen möchte. "Mir ist dieser ganze Text eben viel zu unscharf, mir", sagt mein Ich zu sich selbst, nicht zu seinem Selbst. Und über das vom Ich getrennten Selbst sagt dieser Text doch rein gar nichts Klares aus, auch wenn er das Selbst darstellen möchte. Schade, vielleicht.