Jemand wurde in der Kindheit zurückgesetzt und hat als Erwachsener ein schwaches Selbstwertgefühl -wie lässt sich dieses nach und nach aufbauen?

4 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Jeden Abend 5 Erfolge aufschreiben und 3 Gründe für Dankbarkeit.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
tomkaller  01.10.2021, 13:55

Danke für den ⭐️

0
Von Experten Rosenmary und DianaValesko bestätigt

...der Vergleich hinkt möglicherweise, aber ich (Jahrgang 1990) wuchs als "Ausländerkind" auf und war nicht überall gern gesehen, es gab Diffamierungen, die heute wohl in Richtung Mobbing oder Rassismus ausgelegt werden würden - und das hinterließ auch Spuren. Ich war zwar nicht unbedingt schwach oder so, aber ich hatte Identitätsprobleme und es kam erschwerend hinzu, dass mir vorhandene Charaktereigenschaften aberzogen worden sind, bis sie dann doch wieder gekommen sind. War alles nicht so einfach.

Es gab u.a. Gerüchte, meine Familie würde in Rockerkreisen verkehren und im organisierten Verbrechen in Deutschland und Jugoslawien mitmischen, wir würden mit anderen Albanern - wir wurden oft für Albaner gehalten, obwohl wir eigentlich Janjever sind; ich hab's irgendwann aufgegeben, das zu erklären weil es sowieso kaum einer kennt und kapiert - illegale Geschichten mit alten Autos machen und sonstiges. Da war nix dran, aber es hinterließ schon gewisse Nachgefühle.

Mitschüler waren meist recht zahm, weil ich größer und stärker war als sie und einige meiner Freunde Thaiboxen gemacht haben, aber es gab einige, die meinen Namen verhunzten und einen, der was dagegen hatte, wenn meine russlanddeutschen Freunde oder ich oder meine Kumpels aus polnischen Familien in seiner Nähe gewesen sind. Da fielen wirklich derbe und ekelhafte Ausdrücke; den Vogel hat eine Chemielehrerin abgeschossen, die mich ständig vor allen anderen mit plumpen Osteuropäerklischees aufzog und Witze über meinen Namen gemacht hat. Eines Tages bin ich während des Unterrichts aufgestanden, zu ihr ans Pult gelaufen und die anderen dachten, jetzt haue ich sie nieder ... ich habe ihr nur vor allen sinngemäß gesagt, dass mir das langsam zu doof wird und sie vor ihrer eigenen Tür kehren soll, weil sie da sicher auch Dreck wegzuputzen hat. Ich rechnete mit dem Schlimmsten, aber die hat seither Ruhe gegeben.

Was hat mir über die Jahre geholfen ... puh, ich sag's mal so: Ich war im Nachgang doch jemand. Ich war im Jugendhaus-Leitungsteam, kam über die Schiene in die Nähe gewisser Kreise (Politik, kath. Kirche, Vereine) und hatte auch im Job einigermaßen Glück. Dazu kamen Leute, die es ehrlich mit mir gemeint haben und nicht nach meiner Herkunft fragten und nicht auf den Stadtteil anspielten in dem ich bis 2019 sogar noch wohnte, sondern für die meine Leistungen zählten. Mein Ausbilder zum Beispiel war klasse, ebenso einige sehr gute Lehrer, dann diverse Leute im Berufsleben. Mir hat es - so doof es klingt - enorm geholfen, ziemlich weit oben mitzumischen während ich sah, die Widersacher von damals strampeln sich als quasi "niederes Volk" ab, während ich in meinem zwar gebrauchten, aber gepflegten und selbstverständlich bar bezahlten BMW 728i mit Klimaautomatik und Sitzheizung durch die Gegend fahre und im Beruf viel Freiheiten eingeräumt bekam.

Als junger Erwachsener mit um die 20-25 war ich noch recht verunsichert und wusste oft nicht zuzuordnen, was die Leute von mir wollen bzw. habe in vielen auch potenzielle Widersacher gesehen und vieles auf alte Erlebnisse bezogen. Manchmal bin ich heute noch etwas misstrauisch so unterschwellig, so ganz kriegt man das nie raus und das darf man auch nicht erwarten; irgendwas bleibt immer hängen vom Erlebten und Erlittenen. Aber es geht schon, ich komm klar und ich habe nicht das Gefühl, dass es mir schlecht geht oder irgendein Leidensdruck auf mir lastet, ganz im Gegenteil. Es ist echt okay so wie es ist :-)

Noch eine Anekdote: Einmal hat ein ehemaliger Mitschüler die Post gebracht in der Firma, in der ich arbeitete - der war Dauerstudent und hatte mit 27/28 noch nie wirklich Geld verdient. ich hatte seinen Namen vergessen, ihn aber wieder erkannt; bei einem Termin, den ich mal mit einer anderen Firma hatte bzw. deren Vertreter, war eine ehemalige (damals sehr arrogante) Mitschülerin dort eine kleine Sachbearbeiterin und ich war der Gast, der mit Anzug, Chronograph, Aktenkoffer und dem Siebener-BMW anreiste - da dachte ich mir ... tjaha, der alte Mausefallenhändler und der doofe Albaner von damals hat's offenbar doch gepackt. Das pumpte ganz ehrlich ohne Ende Bestätigung durch die Adern. Ich merkte, ich habe doch einiges richtig oder viel mehr nicht alles falsch gemacht und hatte gute Leute, die mir das ermöglicht haben.

Als ich diese Phase mit ca. 29 Jahren überwunden hatte und auch auf den Siebener-BMW verzichten konnte und manches andere, war ich auf einmal so sicher, dass ich zu mir stehen konnte, keiner Frage nach meiner nationalen Herkunft aus dem Weg gehe und auch zu meinem Aufwachsen stehen kann. Mir ist das nicht peinlich. Ein gewisser Lebensstandard ist mir immer noch wichtig, weil ich es mir einfach erlauben kann und gönnen will, aber nicht mehr so wie vor meinetwegen fünf Jahren, wo es teilweise fast dekadent war.

Was mir half war am Ende vor allem das Menschliche - meine Freundin/Frau, meine Familie, meine Mam allen voran und mein Patenonkel, aber auch ein paar private Bekannte sowie - tut mir leid wenn ich das so sage - ein Therapeut, bei dem ich vier oder fünf Gespräche hatte, die er als "Kennenlerngespräche" abrechnete und nach denen er sagte, er wolle mich eigentlich nicht mehr wieder sehen - zumindest nicht in seiner Praxis.

In Therapie bin ich nie gewesen und das war ganz gut so. Wichtig ist ein starker und berechenbarer, verständnisvoller und einem dabei stets mehr Raum zubilligender menschlicher Hintergrund, ebenso eine erfüllende Aufgabe im Job, vielleicht auch Ehrenamt (aber das ist oft auch eine mühselige Plackerei, sollte man sich überlegen ... ich habe damit aufgehört); Menschen, die einen mögen und die man selber auch mag. Und man muss sich selbst annehmen können. Ich habe auch jahrelang in tradierten Werten geschwelgt und z.B. fürchterliche Klamotten getragen, weil es mancher von mir vorrausgesetzt hat, bis es nicht mehr gegangen ist.

Nur wer sich mag, der kann gemocht werden vom Leben & von anderen ... und bei aller Liebe, es ist keine Schande und keine Dekadenz, sich selbst zu mögen. Man muss sich nicht sexy finden und man muss nicht auf einer Wolke schweben und andere nieder machen - denn man wird nicht besser, wenn man andere schlecht macht. Aber man muss sich auch nicht schlechter machen und das fängt im Kopf an. Ich sage mir immer: ICH muss mich ganz sicher nicht verstecken - wir sind gut so wie wir sind und genau so sind wir richtig :-)

Man kann noch erwähnen, dass mir das Buch "Sorge dich nicht - lebe" von Dale Carnegie, ein Klassiker der ursprünglich aus den 40ern oder 50ern stammt aber noch immer aktuell ist hinsichtlich seiner Aussagen, auch sehr geholfen hat, außerdem die Musik, Hobbys, Abstand zu DIngen die belastend waren und teilweise entwürdigend. Auch so ein "Tagebuch der guten Stunden" kann helfen oder wenn man Briefe an sich selbst schreibt oder an diejenigen, auf die man einen Brass hat. Ich bin vor einiger Zeit mit meiner Frau an die Gräber von Leuten, denen ich gewisse Fragen stellen wollte und das half immens. Auch mit meiner Mam arbeite ich immer wieder manches auf und es ist bereichernd.

Einfach ist so was nicht und ggf. kann so was auch Jahre (!) dauern und irgendwas bleibt immer haften, da machen wir uns nix vor.... man kann aber lernen damit klar zu kommen, man muss es nur wollen & sich vllt. auch mal in den Hintern treten, anstatt sich im Selbstmitleid zu suhlen.

Es geht definitiv und nach meiner eigenen Erfahrung auch ohne Therapie, man muss aber die Bereitschaft haben aktiv mitzuarbeiten und ein bisschen was selbst in die Hand zu nehmen.. man kann nicht im Lehnstuhl hocken & warten, bis man schwarz wird und nix mehr passiert.

Mehr kann ich dazu nicht sagen, das war vllt. sowieso schon extrem viel - ich hoffe du konntest was damit anfangen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Wenn es um deinen narzisstischen Freund geht sehe ich da ohne Therapie schwarz dafür. Mal ganz abgesehen davon dass das auch schnell zu einer mehr als ungesunden Bindung bzw noch ungesünderen Bindung kommen kann.

Therapie mit sich selbst ohne die Basis dafür professionell zu legen kann auch absolut nach hinten losgehen und alles schlimmer machen, beispielsweise mit Retraumatisierungen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Sozialpädagogischer Zug / Berufserfahrung

Wahrscheinlich braucht die Person Erlebnisse, in denen sie sieht, dass andere auch nicht besser (oder sogar schlechter) zurechtkommen als sie selbst. Sie wird sich auf ihre Stärken stützen müssen.