Geld kann kein Stil kaufen, richtig?

10 Antworten

"Wann hat sich das geändert"?

Das kann man nicht pauschal beantworten. Früher gab es viele Vorschriften und es gab eine Fülle von Verhaltensweisen die nicht verboten waren, aber die dazu dienten, die soziale Schichten zu trennen. Die Angehörigen einer Schicht benahmen sich in gleicher Weise und wer nicht die Feinheiten der "Do's and Don'ts" kannte, kam in die Gesellschaft gar nicht rein.

Ich bin in dieser "besseren Gesellschaft" aufgewachsen. Was galt damals für mich als Teenager:

1) Bildung, Bildung, Bildung, Sprachkenntnisse.

2) Passende Kleidung für jede Tageszeit. Abends zog man sich um zum Abendessen.

3) Es wurde grundsätzlich am Tisch gegessen, meistens zu Hause. War man unterwegs gab es zwei Möglichkeiten: Picknick (aber dann stilvoll, mit Picknickkoffer, Besteck, Tischdecken etc.) oder das Essen im Restaurant. Fastfood, Essen aus Tüten oder Packungen wäre undenkbar gewesen. Das mache ich auch heute noch nicht und werde ich auch nie tun.

4) Rauchen auf der Straße: "nur Nutten machen das" (O-ton meiner Mutter).

5) Buntes Make-up: absolut daneben. Am Tage durfte man leichtes Pflegemake-up verwenden, am Abend ein etwas röteren Lippenstift und ein wenig Maskara. Die Kriegsbemalung von heute war verpönt.

6) Passende Gesprächsthemen: Gesundheit, Politik, private Finanzen, Probleme oder Religionsfragen wurden nicht öffentlich diskuttiert. Bei Politik und Finanzen gab es Ausnahmen, dazu setzten sich dann die Männer zusammen.

7) Es wurde erwartet das sich Frauen weiblich und Männer männlich benahmen. Dazu gehörte auch eine gewisse Galanterie, dass Männer Frauen die Tür aufhielten, und dass sie auf der Treppe und beim Betreten eines Restaurants die richtige Position einnahmen.

8) Zeiten wurden eingehalten, immer und überall. Zuspätkommen oder Absagen waren mehr oder weniger unverzeihlich und man musste schon extrem gute Gründe haben, sowas zu tun.

9) Emotionsäußerungen: lautes Lachen, lautes reden, schreien oder sich aufregen war verboten. Emotionen mussten dosiert gezeigt werden.

10) Zubehör: Kugelschreiber galten als "Notfallinstrument", erdacht für Buchhälter oder Verkaufspersonal. Grundsätzlich schrieben die Angehörigen der Oberschicht mit Füller. Wie kostspielig so ein Füller war, gab Auskunft über die Stellung des Besitzers.

War man irgendwo zu Gast, wurde penibel darauf geachtet, dass die Versorgung mit den "passenden" Gerätschaften gegeben war. Ich erinnere mich an einem Frühstück in der Eifel, bei Geschäftsfreunden meiner Eltern, bei der die Frau des Hauses sich X mal entschuldigte, dass es keine gekochte Eier geben konnte, weil sie die Hornlöffel zum Polieren weggegeben hätte. Ein Ei mit einem normalen Löffel zu essen kam gar nicht in Frage, das wäre ja Plebejerhaft.

Socken waren auch sehr verräterisch. Nur Tennisspieler und Segler trugen weiße Socken, und die auch nur beim Sport. Männer trugen feingestrickte Kniestrümpfe. Kurze Socken für Männer: Pfuiteufel. Ein Mann dessen Bein man sehen konnte, wenn er im Sessel saß, galt aus ungehobelt, und wurde kein zweites Mal eingeladen.

Es gab Hunderte solche Regeln und der Verstoß dagegen katapultiere einem gleich in den "niedrige Schichten".

Wie wohlhabend jemand war, war nur am Rande wichtig. Bildung und Wissen, gepaart mit Manieren, Umgangsformen und Verhalten machten den "Stil" aus. Es gab in dem Bekanntenkreis meiner Eltern recht viele Menschen die gar nicht reich oder Wohlhabend waren. Sie hatten im Krieg oftmals viel verloren oder waren als Flüchtlinge in die Niederlanden gelangt. Da sie aber die Klaviatur des gesellschaftlichen Benehmens beherrschten, wurden sie als gleichwertig gesehen und aufgenommen.

Darunter waren Juden, Flüchtlinge aus Ungarn, Übersiedler aus den Kolonien etc.

Du siehst: Stil ist eine Erziehungssache. Heute meinen einige, dass sie durch ihr Geld zur "Elite" gehören, dabei gehören sie zum "Geldadel", und die Typen sind oftmals extrem primitiv.

Wer viel Geld besitzt, kann seine Kinder zu teure Privatschulen schicken. Ob sie sich danach zu verhalten wissen ist dennoch fraglich. Der Stil, auch die Geschmacksfragen, werden von den Eltern vorgelebt.

lesterb42  11.12.2019, 11:34

Wie immer ein sehr guter Beitrag. Danke.

0
Ontario  18.01.2021, 19:07

Ein sehr guter Beitrag den viele lesen sollten, bei denen Anstand keine Rolle spielt.

Es hat sich allerdings gesellschaftlich einiges geändert. Das betrifft vorallem die Umgangsformen allgemein.

Früher bot man als Jugendlicher einer älteren Person den Platz im Bus an. Heute kaum noch zu erwarten. Das Grüssen ist auch nicht mehr jedermanns Sache. Ich stell da sin unserem Club fest. Da kommen Clubmitglieder in einen Raum in dem sich mehrere Personen befinden. Kein Wort des Grusses, weder beim Kommen noch beim Gehen.

Viele wissen gar nicht welches Besteck sie im Restaurant zuerst nehmen müssen, so es mehrere Gänge gibt. Dann die Haltung der Bestecke in den Händen beim Essen,.

Ich zähle nicht zu den sog. Oberen, wurde während des Krieges geboren. Kenne Verzicht und Entbehrungen. Doch eines brachten uns die Eltern bei, Anstand , Respekt und vernünftigen Umgang mit Geld.

Es war üblich, dass wir als Gymnasiasten einen Tanzkurs besuchten. Mussten ein Instrument erlernen.

Hatte einen Chef der seine Kinder auf eine Schule schickte, in der den Kindern beigebracht wurde, dass sie über Anderen stehen. Die hatten keinerlei Anstand auch dann nicht, wenn es mit Geschäftsfreunden zum Essen in gute Hotels ging..Der Chef, mehrfacher Millionär, liess sich seinen Reichtum aber nicht anmerken.

Die Kinder führen heute seine Firma erfolgreich weiter. Auch sie zeigen ihren Reichtum nicht, dafür aber Respektlosigkeit vor allen.

0
Schwervelke  18.01.2021, 20:03
@Ontario

An der Schule Birklehof im Schwarzwald, einen Ableger der Schule Schloss Salem, wurde von allen Schülern erwartet, dass die die Hausmeister und Putzfrauen grüßten. "Überheblichkeit" wurde abtrainiert. In Salem dagegen gab es schon eher Schüler mit neureichen Attitüden.

0

Es hat sich nie geändert. Frau May hatte tausend mal mehr Stil als Donald Trump, das dürfte fest stehen, und was jemand als stilvoll empfindet, mag jeder für sich entscheiden. Wer sich in der Upper Class umschaut, der sieht auch heute noch sehr viel geschmackvolles Styling. Aber dafür muss man nicht reich sein. Und genau so gut dürfen Reiche rumlaufen wie Schluffi. Ich war gerade im Kino, hatte eine dunkelgraue Joppe an, die ich für 39 USD mal bei Duffy's in Philadelphia gekauft habe. Man sieht mir nicht an, dass ich mir Teures leisten könnte und ich muss es auch niemandem zeigen. Sobald ich den Mund aufmache, weiß mein gegenüber, mit wem er es zu tun hat. Mein Styling trage ich in mir, das genügt.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
Oropol23 
Fragesteller
 09.12.2019, 22:56

Gerade Boris Johnson sieht noch ungepflegter aus als Trump.

0

Das beweist, dass Kunsterziehung (oder Kunstsinn) nichts mit Reichtum zu tun hat, dass sie davon ganz unabhängig ist. Anders gesagt, dass mann stinkreich und geschmacklos sein kann, oder, das Gegenteil.

Das wusten wir schon!

Doch kann man, für was ginbs Stilberater? Die bezahlt man und die kaufen ein und statten aus. Alles eine Frage des Geldes.

Smartass67  10.12.2019, 08:42

Ja und für den kleinen Mann gibt es "outfittery", danach sieht man dann aus, wie ein Erzspießer, der shoppen war.

0
feinerle  10.12.2019, 17:55
@Smartass67

1.) Outfittery ist nicht billig, nix für "den kleinen Mann" (und was ich in der Werbung sehen, hat eher weniger mit Stil zu tun....)

2.) Nicht jeder, der Geld und/oder Erfolg hat, ist ein Spießer.

Du solltest an Deinen Vorurteilen arbeiten, Deine Schubladen neu sortieren.

0
Oropol23 
Fragesteller
 11.12.2019, 09:24
@feinerle

Kommt darauf an welche Werbung. Was verstehst du denn unter Stil?

0

Da war ja gestern dieser uralte Unternehmer mit seiner Schraubenfabrik im TV. Ein echter Selfmademan alter Schule und heutiger Milliardär.

Also, ich fand sowohl dessen Büroeinrichtung als auch dessen Kleidung hatte schon Stil. Auch pflegt der ein gewisses soziales Engagement mit zielgerichteten Spenden.

Interessant fand ich aber dessen Gemäldesammlung, weil ich selbst auch wenig Gemälde sammle und praktisch bei uns auf jede Ausstellung gehe. Ja, der Mann hat wirklich Stil und Geschmack und sieht darüber hinaus seine (sehr wertvolle) Sammlung noch als stille Reserve für sein Unternehmen. Gar nicht so dumm!