Zeit ist relativ zu ...?

6 Antworten

Hallo AlfredoMcGuines,

es gibt nicht die Redewendung "relativ zu etwas sein", sondern nur "relativ zu etwas so_und_so sein", wobei "so_und_so" für ein Adjektiv steht.

Relativ zu vielen meiner Sangesbrüder im Männerchor bin ich jung, relativ zur Nachkommenschaft meiner Schwester, Cousins und Cousinen bin ich alt.

Auch "ruhend" oder "mit einer Geschwindigkeit*) v› bewegt" gehören in diese Kategorie. Wenn ich still sitze, ruhe ich natürlich relativ zur Erde, aber nicht relativ zu einem mit der Erde um die Sonne mitbewegten, aber nicht rotierenden Koordinatensystem. Wenn ich im antarktischen Sommer mit meiner normalen Gehgeschwindigkeit (ca. 4km/h) einen Kreis von ca. 96km Umfang um den Südpol gehe, immer in westlicher Richtung, ist es genau umgekehrt. Ich sehe das (bei hinreichend gutem Wetter) daran, dass sich der Sonnenstand relativ zu mir nicht bzw. kaum ändert.

"Eine Größe X ist relativ" bedeutet, dass X davon abhängt, mit welchem Koordinatensystem wir eine Fläche, den Raum oder auch die Raumzeit kartographieren, respektive welches von mehreren zur Verfügung stehenden Koordinatensystemen wir als Bezugssystem wählen.

In einer räumlichen Ebene

Die Position zweier Punkte P₁ und P₂ in einer Ebene – oder auf einem Blatt Papier – relativ zueinander lässt sich in einem Koordinatensystem S als (Δz | Δx) = (z₂ − z₁ | x₂ − x₁) beschreiben, in einem anderen, S°, als (Δz° | Δx°) (Δz bzw. Δz° ist "vertikal", Δx bzw. Δx° ist "horizontal"). Diese Koordinatendifferenzen sind orthogonale Projektionen der Strecke zwischen P₁ und P₂ auf die Achsen des jeweiligen Koordinatensystems.

Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass S und S° beides orthonormale**) Koordinatensysteme sind, sie also allenfalls gegeneinander verschoben und ggf. um einen Winkel θ verdreht sind. In diesem Fall ist

Δz° = Δz∙cos(θ) − Δx∙sin(θ)

Δx° = Δz∙sin(θ) + Δx∙cos(θ).

Beispielsweise könnte Δz = 5cm und Δx = 0 sein, d.h. ein Punkt liegt genau über dem anderen in Δs = 5cm Entfernung. Bei θ ≈ 37° wäre Δz° = 0,8∙Δs = 4 cm und Δx° = 0,6∙Δs = 3 cm.

Vertikaler Abstand sowie auch natürlich horizontaler Abstand sind also in dem Sinne relativ, dass sie davon abhängen, welches Koordinatensystem wir nutzen.

In S und S° dasselbe ist hingegen das Abstandsquadrat

Δs² = Δz² + Δx² ≡ Δz°² + Δx°².

Es verändert sich durch Drehung nicht, es ist unter Drehung invariant.

In der Raumzeit

Ganz ähnlich ist dies auch in der Raumzeit; allerdings spielen hier Ereignisse E₁ und E₂ die Rolle der Punkte und spielt hier die Zeit die Rolle der "vertikalen" Richtung. Genauer:

Die Koordinatenzeit, nämlich die von einer Bezugsuhr aus ermittelte Zeitspanne zwischen den Ereignissen. Von jeder von zwei relativ zueinander geradlinig- gleichförmig bewegten Uhren U und U' aus lässt sich nämlich ein raumzeitliches Koordinatensystem definieren – wir nennen sie Σ und Σ' – deren Zeitachse die Weltlinie (WL) der jeweiligen Uhr ist. Die x-Richtung soll die Bewegungsrichtung von U' relativ zu U sein, die negative x'-Richtung die von U relativ zu U'.

Die "Position" zweier Ereignisse E₁ und E₂ in der t- x- Ebene lässt sich in Σ als (Δt | Δx) = (t₂ − t₁ | x₂ − x₁), in Σ' als (Δt' | Δx') = (t'₂ − t'₁ | x'₂ − x'₁) beschreiben, wobei Δt die U- Koordinatenzeit und Δt' die U'- Koordinatenzeit ist.

GALILEIs Relativitätsprinzip (RP) sagt nun aus, dass Σ und Σ' physikalisch völlig gleichwertig sind, d.h., die grundlegenden Beziehungen zwischen physikalischen Größen – nichts anderes sind Naturgesetze – sind unabhängig davon, in welchem Koordinatensystem wir die Größen selbst ausgedrücken (dasjenige heißt dann unser Bezugssystem).

Daher ist die Gleichortigkeit zweier zeitlich aufeinander folgender Ereignisse relativ, d.h., haben sie in Σ den räumlichen Abstand Δx = v∙Δt, so finden sie in derselben Position relativ zu U' statt, sind in Σ' also gleichortig. In diesem Fall ist Δt' auch mit der Eigenzeit identisch, der von einer lokalen Uhr Ώ – die in diesem Fall relativ zu U' ruht – direkt gemessenen Zeitspanne Δτ. Und die ist eine echte Entfernung wie Δs auf dem Blatt Papier.

Solche Ereignisse heißen zeitartig getrennt. Das ist sozusagen eine Verallgemeinerung des Begriffes der Gleichortigkeit.

Bislang haben wir noch nichts gesagt, was nicht auch in der NEWTONschen Mechanik (NM) Gültigkeit hätte, nur dass sie aussagt, die Unterscheidung zwischen Eigenzeit und Koordinatenzeit sei überflüssig.

GALILEI meets MAXWELL

Da hat allerdings NEWTON die Rechnung ohne MAXWELLs Grundgleichungen der Elektrodynamik gemacht, die er freilich noch nicht kennen konnte. Auch sie sind Naturgesetze, und die direkt aus ihnen folgende elektromagnetische Wellengleichung daher ebenfalls. Sie sagt aus, dass sich elektromagnetische Wellen (also Licht) im materiefreien Raum (genauer: in einem Raum, der nicht voller elektrisch geladenen Teilchen ist) mit c ≈ 3×10⁸ m⁄s ausbreitet.

Das Tempo c muss invariant (unveränderlich) sein unter dem Wechsel des Bezugssystems, d.h. einer physikalisch korrekten Umrechnung von Σ in Σ' oder umgekehrt. Diese Invarianz ist nicht eine spezielle Eigenschaft von Licht, sondern von c selbst.

Darauf beruht die gesamte Spezielle Relativitätstheorie (SRT).

Bild zum Beitrag

Abb.: Vergleich zwischen einer räumlichen und einer raumzeitlichen Ebene

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*) Geschwindigkeit (engl. velocity) ist eine Vektorgröße, eine Größe mit Richtung, also nicht Weg durch Zeit, sondern Änderung der Position durch Zeitspanne. Ihr Betrag (engl. speed), den wir im Deutschen oft auch Geschwindigkeit nennen, lässt sich im Deutschen gut mit "Tempo" wiedergeben.

**) D.h., sowohl orthogonal, d.h. rechwinklig, als auch mit Basisvektoren der "Länge" 1, d.h., 1m bleibt 1m.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung
 - (Physik, Wissenschaft, Zeit)
AlfredoMcGuines 
Fragesteller
 30.08.2022, 08:47

Ich versuche eine Struktur in „Allem“ also der gesamten Existenz (so weit sie uns bewusst ist) zu erkennen. Und da gibt es ja erstmal nur das Element Raum. Das Universum ist ja Raum (der maximal große Raum). Wie muss ich in meiner Logik dann die Elemente Zeit und Geschwindigkeit hinzfügen, damit das alles etwas zusammenhängendes ist, das Sinn macht?

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SlowPhil  30.08.2022, 11:37
@AlfredoMcGuines
Und da gibt es ja erstmal nur das Element Raum. Das Universum ist ja Raum (der maximal große Raum).

Das stimmt nicht. Das Universum ist Raumzeit. Raum ist gleichsam die Menge aller Orte, aber was ist ein Ort? Ein Ort ist eine Position relativ zu einem Bezugskörper, nennen wir ihn B wie engl. body, die man in einem von B aus definierten Koordinatensystem Σ als (x | y | z) schreiben kann.

Es ist aber ebensogut möglich, einen relativ zu B mit konstanter 1D-Geschwindigkeit v› bewegten Körper B' als Bezugskörper auszuwählen, was B zu einem mit −v› bewegten Körper macht. In so einem von B' aus definierten Koordinatensystem Σ' ist allerdings nicht eine feste Position relativ zu B ein Ort, sondern eine feste Position (x' | y' | z') relativ zu B'.

Was Du sehen kannst, ist ohnehin nicht der Raum zur Jetztzeit, sondern eine Art 3D- Hyperkegelmantel, bestehend aus den Ereignissen, für die r = −c∙t ist. Dabei ist r die Entfernung von Dir und t = 0 ist jeweils "jetzt".

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AlfredoMcGuines 
Fragesteller
 30.08.2022, 12:00
@SlowPhil

Also gibt es zum einen Raum und die Zeit misst den Raum anhand von Entfernungen?

Weil das Universum sich immer weiter ausbreitet?

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SlowPhil  30.08.2022, 12:47
@AlfredoMcGuines

Es gibt nicht Zeit an sich und Raum an sich, denn welche Richtung in der Raumzeit tatsächlich rein zeitlich ist und welche nur hauptsächlich zeitlich, aber auch räumlich, hängt davon ab, welchen Körper wir als Bezugskörper auszuwählen.

Das gilt eigentlich schon in der NEWTONschen Mechanik (NM), nur dass in ihr die Gleichzeitigkeit räumlich getrennter Ereignisse als absolut beschrieben wird.

Die Gleichortigkeit zeitlich aufeinanderfolgender Ereignisse ist aber auch schon laut NM relativ.

In der Speziellen Relativitätstheorie (SRT) kommt noch hinzu, dass die Gleichzeitigkeit räumlich getrennter Ereignisse relativ ist, d.h. von der Wahl des Bezugskörpers abhängt.

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Nicht die Zeit, sondern nur die Ergebnisse der Quantifizierung zeitlicher Abstände durch unterschiedliche Beobachter ein und derselben Situation sind relativ.

Nur relativ zu einander NICHT bewegte Beobachter kommen zum selben Messergebnis, wenn sie ein und dasselbe Uhr ablesen.

Ursache hierfür ist die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit.

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Relativ zu einander bewegte Beobachter sehen ein und denselben räumlichen oder zeitlichen Abstand als unterschiedlich groß. Man nennt das "die Relativität von Zeit und Raum".

Lies auch: Relativitätstheorie behauptet nicht ...

analog dazu wie es (wenig überraschend) davon abhängt welche route zwischen zwei orten A und B du gehst welche distanz du zurücklegst, so ist es (vielleicht ein bisschen mehr überraschend) davon abhängig welche exakte route durch die raumzeit du zwischen zwei ereignissen A und B wählst, wie viel zeit für dich zwischen den beiden ereignissen vergeht.

Woher ich das weiß:Berufserfahrung – Physiker (Teilchenphysik)

Mit "relativ" ist hier ist gemeint: Die Zeit steht im Bezug (in Relation, ist relativ) zur Geschwindigkeit (genauer: Geschwindigkeitsdifferenz) zweier bewegter Inertialsysteme zueinander.

  • Ein Physiker im Inertialsystem A misst eine andere Zeit als ein Physiker im bewegten System und umgekehrt. Die gemessene Zeitdifferenz hängt dann von der relativen Geschwindigkeit der beiden Systeme zueinander ab.
  • Ein Physiker im Inertialsystem A misst auch andere Längen als ein Physiker im bewegten System und umgekehrt. Die gemessene Längendifferenz hängt dann von der relativen Geschwindigkeit der beiden System zueinander ab.
Aber relativ zu was?

Relativ zum Bezugssystem des Betrachters.