Was hat die Aussage von Ovid in Bezug auf ein Leben nach dem Tod zu bedeuten?

2 Antworten

Das ist eine Aussage aus der Philosophie des Kepos, der Philosophie der Epikureer, mit der Ovid sympathisierte. Das geht zurück auf die Atomtheorie, wonach sich das Sein in unaufhörlicher Veränderung befindet, d.h. jeder Organismus nur eine Kombination von Atomen auf Zeit ist und sich danach die Atome in neuen Verbindungen organisieren. Im Tod lösen auch beim Menschen die Atome ihren Verbund auf und verstreuen sich um wieder neue Verbindungen einzugehen. Mystiker haben das in dem schönen Bild dargestellt, wonach der Mensch im Tod wie ein Regentropfen wieder ins große Meer zurückfällt um irgendwo wieder als ganz anderer Regentropfen in einer neuen Regenwolke aufzusteigen. Für Epikur löste sich auch die Seele im Tod in ihre Atome auf, d.h. für ihn gab es kein Leben nach dem Tod, warum er von den Christen aufs schärftste bekämpft und die zahlreichen Schriften der Epikureer vernichtet wurden.

Die Aussage omnia mutantur, nihil interit („Alles verändert sich/wandelt sich, nichts geht zugrunde/geht unter/vergeht“) steht bei Ovid, Metamorphosen 15, 165 innerhalb einer langen Rde, die der griechische Philosoph Pythagoras hält.

Die richtige Bedeutung kann erkannt werden, wenn die Untersuchung nicht auf ein paar Wörter beschränkt bleibt, sondern den Texzusammenhang einbezieht.

Ovid, Metamorphosen 15, 165 - 172

Omnia mutantur, nihil interit: errat et illinc

huc venit, hinc illuc, et quoslibet occupat artus  

spiritus eque feris humana in corpora transit  

inque feras noster, nec tempore deperit ullo,  

utque novis facilis signatur cera figuris  

nec manet ut fuerat nec formam servat eandem,  

sed tamen ipsa eadem est, animam sic semper eandem  

esse, sed in varias doceo migrare figuras.

Publius Ovidius Naso, Metamorphosen : lateinisch-deutsch. In deutsche Hexameter übertragen und herausgegeben von Erich Rösch. Mit einer Einführung von Niklas Holzberg. 13. Auflage. München ; Zürich : Artemis & Winkler, 1992 (Sammlung Tusculum), S. 565:  

„Alles wandelt sich, nichts vergeht. Es schweift unser Geist, kommt  

hierher von dort, von hier dorthin, und dieser und jener  

Glieder bemächtigt er sich, geht über aus Tieren in Menschen-  

leiber und wieder in Tiere, und niemals geht er zugrunde.  

Wie das schmiegsame Wachs sich formt zu neuen Gebilden,  

so nicht bleibt, wie es war, die gleiche Gestalt nicht behält, und  

doch das selbe verbleibt, so lehre ich, ist auch die Seele  

immer die selbe, doch wandert sie stets in neue Gestalten.“

Hier wird die Lehre von der Seelenwanderung (griechisch: μετεμψύχωσις [metempsychosis], wörtlich: Um-Beseelung), die sogenannte Metempsychose, vertreten. Die Seele (anima), auch als Geist/Lebenshauch (spiritus) verstanden, vergeht nicht, auch wenn der Körper, dem sie jeweils innewohnt, zugrundegeht (Tod). Nach der vorgetragenen Auffassung existiert die Seele nach dem Körpertod weiter und wandert in neue körperliche Gestalten/Formen. Dies wiederholt sich immer. Es wird also eine Unsterblichkeit der Seele angenommen.

Bei der Reinkarnation (Wiederverkörperung/Wieder-Hineingehen ins Fleisch) kann die Seele sowohl in Menschenleiber als auch in Tierleiber hineinkommen. Dies wird auch als Begründung für den Verzicht auf den Verzehr von Fleisch (Vegetarismus) verwendet.

Die Aussage über eine Seelenwanderung wird dann zu einer allgemeinen Lehre erweitert, wonach im Weltall/Kosmos alles fließt/im Fluß ist (Ovid, Metamorphosen 15, 178: cuncta fluunt).

Dies kann an den Satz „Alles fließt (griechisch: πάντα ῥεῖ [panta rhei]) erinnern, der dem Philosophen Herakleitos/Heraklit zugeschrieben worden ist, auch wenn er nicht genau diesen Satz geäußert hat, sondern nur das Bild des Flusses verwendet und dabei auf die ständige Veränderung hingewiesen hat, wegen der es nicht möglich ist, zweimal in genau denslben Fluß zu steigen. Es gibt nach ihm einen ständigen Prozeß des Werdens und Vergehens.

Dorothee Gall, Die Literatur in der Zeit des Augustus. 2., durchgesehen und bibliographisch aktualisierte Auflage. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2013 (Klassische Philologie kompakt), S. 146: 

„Im 15. Buch der Metamorphosen krönt der Lehrvortrag des Philosophen Pythagoras das Epos der ‚Verwandlungen‘ mit der alten religiös-philosophischen Konzeption der Seelenwanderung (Metempsychose); der Gedanke der ‚Dauer im Wandel‘ ist damit in seine letzte Konsequemz überführt.“

Eine nähere Erläuterung enthält die Darstellung einer Vier-Elemente-Lehre Ovid, Metamorphosen 15, 237 – 261. Das ewige Weltall/der ewige Kosmos (aeternus mundus 239) enthält Elemente, die vier Grundstoffe Erde, Wasser, Luft, Feuer. Aus ihnen entsteht alles und in sie fällt alles zurück. Die Grundstoffe haben keinen festen unveränderlichen Bestand, sondern gehen in einem Ablauf ineinander über. Nichts bleibt in seiner Form/Gestalt. Die Erneuerin Natur schafft aus anderem anderes und im Weltall/Kosmos geht nichts verloren. So hat bei allen diesen Übergängen die Gesamtheit/das Ganze Bestand, weil die stofflichen Bestandteile nicht auf einmal weg sind, sondern andere Formen bilden.

Eine epikureische Lehre über die Seele wird in der Rede des Pythagoras eindeutig nicht vorgetragen. Epikur hat eine materialistische Atomlehre vertreten. Auch die Seele ist danach etwas Körperliches, aus besonders glatten, festen und feinen Atomen bestehend. Sie ist mit dem Körper verbunden, entsteht und vergeht daher mit ihm (vgl. für eine solche epikureische Lehre mit einer Sterblichkeit der Seele z. B. Lukrez, De rerum natura 3, 258 – 272). Der Organismus ist eine gewisse Zeit bestehende Zusammensetzung von Atomen. Irgendwann löst sich diese Verbindung auf, die Atome zerstreuen sich und bilden in neuen Kombinationen Zusammensetzungen. Bei dieser Auffassung sind eine Weiterexistenz einer Seele nach dem Tod (Auflösung der Zusammensetzung), eine Unsterblichkeit der Seele und eine Seelenwanderung ausgeschlossen.