Warum war das Mittelalter so dreckig und primitiv obwohl es davor schon mal besser war?

5 Antworten

Das traurige Märchen vom dreckigen Mittelalter

Hallo, Bogatyr!

Schön, dass Du dich für das Thema Mittelalter interessierst und Fragen dazu stellst. Man merkt deiner Frage an, dass du schon etwas über das Mittelalter gesehen hast, vielleicht eine Dokumentation, verschiedene Filme oder auch durch Lehrer.

Mythos I: Das dreckige Mittelalter

Das Mittelalter war nicht dreckig, weder im Vergleich zur Antike und schon gar nicht zu wesentlich schmutzigeren Epochen viel später. Die momorweiße Antike wird nur immer als besonders ideal hingestellt und es gab da ja auch sicher viele Errungenschaften und technische Meisterleistungen. Die gab es aber auch im Mittelalter.

  • Die Menschen hatten natürlich auch Seife, sowohl für die Körperhygiene als auch für Wäsche. Es gibt viele Hausbücher, in denen beschrieben wird, wie man diese mit Kräutern und Essenzen zum Duften bringt. Verbreiteter dürfte allerdings Lauge gewesen sein, die man ebenfalls gern zum Duften gebracht hat. Die Menschen haben z.B. ihre Waschtücher (nasse Handtücher fürs Waschen) mit Lavendel, Rosen, u.s.w. behandelt, damit sie ein angenehmes Gefühl und einen schönen Duft beim Waschen hatten. Klingt das für dich sehr dreckig?
  • Nein, die Menschen haben ihren Dreck nicht einfach auf die Straßen gekippt und auch nicht ihren Nachttopf dort entleert!
  • Die Schweine sind auch nicht frei durch die Städte gerannt und haben auch keine Krankheiten und Dreck verteilt!
  • Auch in frühmittelalterlichen Gräbern, als noch Beigaben zugelegt wurden, finden sich bei nahezu jedem Toten auch immer Gegenstände, die zur Körperhygiene dienten: Hauptsächlich Kämme, aber auch Zahnreiniger, etc.
  • Die Museen sind voll von Gegenständen, die der Hygiene dienten.
  • Die Häuser hatten nahezu immer Toiletten im Hinterhof oder am Garten. Es gibt zig Bücher über die Funde, die man in ehemaligen Scheisshäusern gefunden hat. Immer Tonscherben. Zerbrochenes Geschirr eignet sich gut um zu filtern und den Gestank zu mindern. Dann noch Kalk rüber und du riechst auch nichts mehr.

Mythos II: Das primitive Mittelalter

Das Mittelalter war nicht primitiv, sondern extrem inuvativ und viele große Erfindungen sind in dieser Zeit entstanden. Ja, nach dem Sterben des Römischen Reiches ging tatsächlich viel Wissen verloren. Aber es kam auch sehr viel neues Wissen hinzu und wie wenig primitiv das Mittelalter war, zeigt dir dieses Bild:

Bild zum Beitrag

Dies ist die gothische Kathedrale zu Reims (Frankreich), erbaut ab 1211! Kein römischer Architekt, kein noch so genialer Baumeister irgendwo und irgendwann wäre in der Lage gewesen, solche Bauwerke zu erschaffen. Himmelhochragend mit dünnsten Mauerwerken und riesigen Fenstern übertrifft die Gotik alles, was die Römer je erbaut hatten. Und die Römer haben wirklich fantastisch gebaut und doch konnten sie nicht, was das "primitive" Mittelalter geschafft hatte.

In der Antike hatten Römer, Griechen, Araber, Chinesen usw. schon Kanalisationen, Badehäuser, Seife, Glas usw.

Also die Araber solltest du nicht mit Griechen und Römern auf eine Stufe stellen, das mal am Rande erwähnt. Vielleicht meinst du das alte Ägypten? Jedenfalls...

  • Es gab im Mittelalter eine ausgeprägte Badehauskultur. Allein in Nürnberg waren es über 50 Badehäuser. Es gab für sie strenge Regeln was Hygiene, Sittlichkeit und Badekultur anging und vielleicht hast du schon mal etwas von einem Bader gehört. Dieser hatte seinen Namen nicht zufällig. Die Badehausdichte war im Mittelalter pro Einwohner höher als in Rom. Ich wette, das wusstest du nicht :)
  • Natürlich hatten die Menschen im Mittelalter Glas. Dies war zwar teuer aber nicht unbezahlbar. In der Regel wurde Fensterglas sparsam aber fast immer eingesetzt - ergänzt mit Läden aus lichtdurchlässigem Geflecht. War es kalt, konnte man die unteren Läden schließen, während oben weiter Licht reinkam.

Folgende Erfindungen entstammen dem "primitiven" Mittelalter (auszugsweise):

  • die Brille
  • die Versicherung
  • die Handelsgesellschaft
  • bargeldloser Zahlungsverkehr
  • Segeln gegen den Wind (konnten Römer überhaupt nicht)
  • Hochseefahrten (konnten Römer überhaupt nicht)
  • der Kompass
  • Land- und Seekarten
  • die Universität
  • Dreifelderwirtschaft (waren bei den Römern die Felder ausgelaugt, gaben sie diese einfach auf und rodeten sich neue Felder, mit entsprechenden Umweltproblemen)
  • die Wassermühle
  • das Papier - unglaublich wichtige Erfindung
  • der Buchdruck
  • die Post
  • die Armbrust
  • das heliozentrische Weltbild!
  • der Trittwebstuhl
  • die Schubkarre
  • die gotische Baukunst (s.o.)
  • das Spinnrad (nicht zu unterschätzen)
  • Die Uhr!!!!! Was wären wir ohne Uhr. Die Römer kannten die überhaupt nicht.
  • immer bessere Schiffstypen, die allen antiken Schiffen weit überlegen waren, vom Drachenboot bis zur Karavelle
  • der Globus
  • die Windmühle
  • das Steuerrad bei Schiffen
  • Der Panzer, das selbstfahrende Auto und Flugmaschienen (als Entwurf aber gedanklich bereits fertig und nicht nur von da Vinci!!)
  • Ölmalerei
  • der Roman
  • der Räderpflug
  • der Kummet
  • das Hufeisen
  • bessere Stahlverhütung
  • moderne Schrift
  • verschiedene Drucktechniken
  • Feuervergoldung
  • die Vorläufer unserer modernen Justiz und Strafverfolgung
  • Deichbau
  • viele Gesetze der Mechanik

Die Liste ist noch nicht fertig aber wichtige Erfindungen sind schon da, Erfindungen, die unsere moderne Zeit überhaupt erst ermöglichten! Du solltest das Mittelalter wirklich nicht primitiv nennen, denn das war es einfach nicht.

  • Die Qualität der Kleidung, auch der einfachen Leute, war der unseren heute weit überlegen!
  • Handwerker waren Meister ihres Faches und haben Dinge vollbracht, die heute niemand mehr herstellen kann.
  • Es gab sogar ein Multifunktionswerkzeug, welches wie ein moderner Letherman funktioniert, nur in schön.
  • Es gibt unzählige Darstellungen aus dem Mittelalter mit wirklich komplizierten und tatsächlich gebauten WErkzeugen und Waffen, die man beliebig umbauen konnte - je wie gerade benötigt.
 - (Geschichte, Religion, Mittelalter)
bountyeis  03.10.2022, 18:49

Wirklich "primitiver" im Vergleich zur Antike war die Alphabetisierung der Bevölkerung und die Anzahl der publizierten Bücher pro Jahr

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Eisenklinge  03.10.2022, 18:57
@bountyeis

Moin :)

Ja, das Mittelalter war tatsächlich eine schriftarme Zeit, besonders in der ersten Hälfte. Aber man sollte nicht den Fehler machen die Alphabetisierungsrate der Menschen mit Bildung gleichzusetzen. Denn Bildung ist ja vielfältiger als Buchwissen und du kannst mir glauben, dass ein einfacher Bauer eine vielseitige und profunde Bildung hatte. Er konnte zwar keine Romane lesen, musste folgende Dinge wissen:

  • wie man ein Haus baut, Dach deckt, Ställe und Scheunen. Später kamen Fachleute auf, die dies zu ihrem Beruf machten
  • Wie man Brunnen wo und wie tief bohrt.
  • Wie das Wetter die nächsten Tage werden wird.
  • Welche Tierrassen man wie, wann kreuzt und welche nicht.
  • Viehaltung allgemein
  • Welche Getreide- und Nutzpflanzenarten wann und wie gesäht und geerntet werden mussten.
  • Wie man Felder bewässert
  • Welche Kräuter welche Krankheiten heilen
  • Was schlimme Flecken entfernt
  • wie man Lebensmittel haltbar macht - weiter verarbeitet (Käse, Schinken, Wurst, Grützwürste, Einkochen, Süßwürste)
  • Lagerung von verderblicher Ware auch über den Winter
  • Herstellung von Stoffen
  • Herstellung von Kleidung für Mann, Frau, Kind
  • Herstellung und Reperatur von Gerätschaften, Haushaltsgegenständen
  • Töpferei
  • Bierbrauerei
  • Düngung der Felder
  • Herstellung von Spielzeug für die Kinder
  • Bekämpfung von Schädlingen

Ich denke, die Liste zeigt, dass diese Menschen absolut nicht ungebildet waren. Ich meine, wer kann das heute alles noch selbst tun? Sind wir gebildeter weil wir ein PC benutzen? Die meisten von uns wissen doch nicht einmal, wie man einen PC selbst zusammen baut, geschweige denn wie die Platinen bestückt werden.

Ja, wir lesen - unsere Welt ist eine textbasierte Welt. Das war aber im MA nicht notwendig.

Aber du irrst, was die Bücher angeht. Denn diese waren eine Mittelalterliche Erfindung - das Buch - hatte ich gar nicht aufgeschrieben. Nicht nur der Buchdruck. Und ab dem Buchdruck ... da explodierten die Veröffentlichungen.

Und auch in der Antike haben nur die wenigsten lesen können - das darf man nicht vergessen dabei!

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Eisenklinge  03.10.2022, 20:25
@bountyeis

Bitte formuliere deine Argumente das nächste Mal selbst aus. Danke 😀

Dein Wikibeitrag bleibt ja auch sehr oberflächlich und ist mMn viel zu optimistisch für die Antike, insbesondere was das "dreigliedrige" Schulsystem angeht, ist hier Vorsicht mehr als angebracht. Ja, es waren vor allem Bürger, Patrizier etc. alle umfassend und gut gebildet waren und da gab es ganz sicher Abstufungen. Wer Karriere machen wollte, musste viel gelernt haben. Es gibt durchaus Quellen, die davon berichten, dass auch Kinder, sogar von Sklaven unterrichtet werden. Ich glaube zB. auf Mosaiken von Pompeji.

Dennoch würde ich ich von einer Rate ausgehen, die nicht höher als 30-40% war. Aber das sind natürlich trotzdem gewaltige Unterschiede.

Was deinen 2. Link angeht, so ist natürlich viel zu spekulieren, was an Schriften verloren gegangen war. Die meisten Werke werden wohl geistiger Natur gewesen sein. Aber den Verlust hatte ich auch nicht bestritten.

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bountyeis  04.10.2022, 11:43
@Eisenklinge

Der Buchverlust traf im wesentlichen das westliche Europa. Ich finde es interessant, dass wir wenn wir Mittelalter sagen, eigentlich das Byzantinische Reich und den gesamten Osten so ziemlich ausklammern. Dort gab es beispielsweise noch Schulen für Bauerkindern, erst im Osmanischen Reich ab der Eroberung hörte das auf. Die Byzantiner verlegten weiterhin Schriften, hatten Badehäuser, bauten Kuppeln und Brücken und mit der Fluchtbewegung vor den Türken begann in Italien die Renaissance, was hierzulande ziemlich unbekannt ist. Argumente selbst auszuformulieren, da könnte ich Seiten schreiben. Auch von Moravia, dem armenischen Imperium etc. hat kaum jemand etwas gehört.

Die Eroberung Aegyptens durch die Araber hatte Europa von der Papyrusproduktion abgeschnitten. Pergament gab es früher schon, war jedoch viel teurer und wurde nur zu besonderen Anlässen beschrieben. Daher soviele "Reescribti" in den Klöstern, der antike Text wurde abgekratzt und beispiuelsweise mit einem Bibeltext beschrieben.

Außerdem kann man Frühmittelalter und Hochmittelalter auch nicht in einen Topf werfen. Und die Religion wurde interessanterweise erst am Beginn der Neuzeit mit Hexenverbrennungen und Inquisition zu jener tyrannischen Institution, die oft mit dem Mittelalter verbunden wird.

Wie gesagt, nichts gegen das Mittelalter, auch wenn mir die Antike mit ihrer Weltläufigkeit, ihrer Schriftkultur und auch dem Polytheismus mehr zusagt, und du hast Recht, dass Menschen, auch wenn sie nicht schreiben, trotzdem vieles erreichen können, weil das das Gedächtnis schult. Auch die Kelten haben nicht geschrieben, bauten Städte, prägten Münzen, betrieben Bergbau und gelten als Erfinder des Streitwagens.

 Dreckig waren die Leute nicht, die Badehäuser beispielsweise dauerten an und waren eine Fortsetzung der Thermen. Erst als die Pest ausbrach, wurden sie geschlossen, weil man sie wohl mit Recht für einen Verbreitungsort hielt.

Zur Antike: Sklavenkinder, die für hochwertige Aufgaben, wir würden sagen, Management, vorgesehen waren, wurden in sogenannten Sjklavenpädagogien ausgebildet. Nicht aus Humanismus natürlich, das war eine Wertsteigerung.

Leider sind auch viele wissenschaftliche Werke verloren gegangen, wenn die Araber nicht so freundlich waren, und sie aufbewahrt haben. Beispielsweise die mathematischen Schriften der Hypathia, von Aristoteles, die Werke von Pytheas, dem ersten alten Griechen, der vermutlich Eisberge gesehen hat etc. Lange Zeit konnte niemand mehr Kuppeln, Aquädukte oder Brücken bauen. Geschweige ein Hypocaustum.

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Eisenklinge  04.10.2022, 13:45
@bountyeis

Moin 😊

Vieles von dem, was du schriebst, hatte ich auch schon gesagt und es freut mich, dass du das so bestätigst. Zwar interessiere ich mich sehr für Geschichte, die Antike kennne ich aber weniger gut als beim Mittelalter. Dennoch finde ich die Epoche ebenfalls sehr spannend. Du hast jedenfalls einige interessante, für mich neue Aspekte erwähnt.

Natürlich kann man 1000Jahre Mittelalter nicht in einen Topf werfen. Ich bin überdies der Meinung, dass die Einteilung der Epochen auch zu Fehlannahmen verleitet. Das Römische Reich (im Westen) ging unter aber es verschwand ja nicht einfach. Sowohl Infrastrukturen, Rechtsgewohnheiten und viele Dinge mehr blieben ja erhalten, oft nur eben unter anderen Bedingungen.

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bogatyr070122 
Fragesteller
 03.10.2022, 21:55

Vielen Dank für die ausführliche und interessante Antwort :)

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Bis auf die Kanalisation gab es alles, was Du aufzählst auch im Mittelalter.

Aber am Ende der Antike gab es die Völkerwanderung und wenn tausende Menschen in ihren Sippen und Familienverbänden - zum Teil auch kriegerisch - 200 Jahre lang durch ganz Europa wandern, da ging viel verloren.

Dann wirbelten die Ungarn halb Europa durcheinander (um 900), dann die Mongolen (um 1240).

Um 1350 wütete die Pest und raffte 25 Millionen (rund 1/3 der Bevölkerung) hin.

Ab 1525 die Bauernkriege und -aufstände, die Konfessionskriege und schließlich der 30jährige Krieg, der nochmal Millionen Menschen das Leben kostete (rund 1/4 der Bevölkerung).

Immer ging Wissen auch verloren. Als die Franken um 800 in die Nachfolge der Römer traten, die rund 300 Jahre vorher untergingen, war schon vieles vergessen. Vielleicht wollte eine Nachfolgekultur auch ganz bewusst sich von den Vorgängern abgrenzen?

Woher ich das weiß:Hobby
Die Hunnen drangen nach Europa ein, vertrieben die germanische Stämme von ihren traditionellen Siedlungsgebieten und diese überschwemmten das römische Reich. Und wurden massiv integriert. Mit teilweise fatalen Folgen: Irgendwann wurde ein römischer Kaiser abgesetzt und kein Nachfolger (im Westen, Ostrom ist eine andere Geschichte und heißt Byzanz) mehr akzeptiert. Damit verfiel langsam aber sicher das römische Verwaltungssystem in den Provinzen. Ganz einfach: Mehr Barbaren + Weniger Römer = Weniger Zivilisation Das ist jetzt ein bisschen radikal ausgedrückt, stimmt aber im Kern. Die Straßen verfielen langsam, ebenso die Städte... Einige Bereiche des römischen Lebens blieben erhalten. Aber trotz allem gab es diesen Abwärtsweg hinein ins 'Finstere Mittelalter'.
https://www.g-geschichte.de/forum/mittelalter-allgemein/3772-roemischen-reich-dunkeln-mittelalter.html

Das Mittelalter wird immer so schlecht dargestellt. Eigentlich war es auch eine ganz gute Zeit. Aber vor allem der Einfluss der Kirche war nicht gut für die Entwicklung

Eisenklinge  03.10.2022, 20:26

Inwiefern war der Einfluss der Kirche denn schlecht?

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Badehäuser, Seife und Glas gab es auch im Mittelalter ...

Nur weil Terra-X alles falsch darstellt, muss es nicht auch so gewesen sein.