Warum flohen Nazis nach dem Dritten Reich speziell nach Argentinien?


25.10.2021, 09:58

Weder entsprechende politisch-historische Fachbücher noch das von mir ohnehin immer mit Misstrauen beäugte Internet geben konkreten (!) Aufschluss für den Grund, warum viele Nazis in Südamerika, speziell Argentinien, ein Fluchtziel fanden.

Meiner Ansicht nach kann es weder allein "Asyl" (Auslieferungsverbot) noch besondere Deutschfreundlichkeit der Südamerikaner gewesen sein.

5 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Auch der argentinische Staatschef Juan Domingo Perón förderte in der Nachkriegszeit die Einwanderung von Deutschen und anderen Europäerinnen und Europäern. Argentinien – seit der Kolonialzeit ein Einwanderungsland und bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein beliebtes Ziel deutschsprachiger Auswanderer und Auswanderinnen – sollte modernisiert werden. Dafür benötigte Perón Fachleute, um sich ihr Expertenwissen zunutze zu machen, etwa für die Aufrüstung der Luftwaffe. Bei der Anwerbung deutscher Fachkräfte (z.B. Ingenieure, Techniker, Piloten, Offiziere) konkurrierte der autoritäre Staatspräsident mit den Siegermächten (besonders den USA). In diesem Wettstreit bestand Argentiniens Vorteil in vorhandenen Kontakten, denn die Beziehungen zwischen Argentinien und Deutschland waren schon seit dem späten 19. Jahrhundert sehr eng. Da der argentinischen Regierung die Reiserouten der ehemaligen NS-Eliten bekannt waren, konzentrierte Buenos Aires seine Anwerbungstätigkeit auf Italien. Bald spielte sich auf der Route Südtirol – Genua – Buenos Aires ein funktionierendes System ein: Die katholische Kirche gewährte Unterkunft, Verpflegung und Logistik, das Rote Kreuz stellte die Reisedokumente aus und das argentinische Generalkonsulat in Genua erteilte in Abstimmung mit der Einwanderungsbehörde in Buenos Aires die Visa und bezahlte darüber hinaus in vielen Fällen die Schiffspassage.

Peróns Diplomaten bedienten sich dabei gerne der Hilfe von Argentiniern deutscher Herkunft. Im Zusammenspiel mit untergetauchten SS-Angehörigen in Italien und Südtiroler SS-Offizieren organisierten diese ein effektives System der Anwerbung. Die SS-Angehörigen besaßen die entsprechenden Kontakte, dabei verfolgten sie oft eigene Interessen. Ihnen ging es neben der Anwerbung von Fachleuten für Perón auch um die Fluchthilfe für Kameraden – schwer belastete Kriegsverbrecher eingeschlossen. Dabei konnten die Nazi-Helfer zunehmend freier agieren, denn das Interesse an Strafverfolgung wurde im Frühen Kalten Krieg immer geringer. Geschätzte 300 bis 800 exponierte Nazis flüchteten ab 1946 nach Argentinien. Ende der 1990er Jahre rekonstruierte die staatlich einberufene argentinische Historikerkommission 180 Biografien von nach Argentinien geflüchteten prominenten NS-Kriegsverbrechern aus Österreich, Deutschland, Belgien, Frankreich und Jugoslawien. Die weit größere Zahl von einfachen SS-Soldaten und Nazi-Kollaborateuren aus ganz Europa, die in Argentinien eine Zuflucht fanden, wurde dabei aber nicht erfasst.

https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/suedamerika/317754/argentinien

Edit:

Zur nationalsozialistisch orientierten deutschen Gemeinschaft in Argentinien pflegte Juan Domingo Perón enge Kontakte. Einer der Freunde des ehrgeizigen Militärs und Politikers war seit den dreißiger Jahren der einflussreiche Unternehmer Ludwig Freude. Als Perón als Vizepräsident einer Militärregierung im Oktober 1945 vorübergehend entmachtet wurde, gewährte Freude ihm in seinem Wochenendhaus nahe Buenos Aires Unterschlupf.

Nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr darauf beauftragte Perón den Sohn seines Gönners, Rodolfo Freude, mit dem Aufbau eines Nachrichtendienstes. Freude organisierte vom Regierungspalast aus die Nazi-Einwanderung. Der Journalist Uki Goñi hat diese offizielle argentinische Fluchthilfe für sein Buch „Odessa. Die wahre Geschichte“ erforscht.   

„Glücklicherweise haben Dokumente überlebt, die die äußerst enge Beziehung zwischen Perón und einigen nach Argentinien geflüchteten Nazis und Kollaborateuren belegen. Eine der wichtigsten Quellen ist das Tagebuch des belgischen Kollaborateurs Pierre Daye, das Forschern zugänglich ist. Daye erzählt darin, wie er und andere Flüchtige aus Deutschland, Frankreich und Kroatien zweimal von Perón im Präsidentenpalast empfangen wurden. Einige der ersten deutschen Ankömmlinge schickte Perón zurück nach Europa, um weiteren Nazis bei der Ausreise zu helfen.“   

Zum Haupt-Fluchthelfer wurde der Deutsch-Argentinier Horst Carlos Fuldner, ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer. Ab 1948 war er in Peróns Auftrag in der Schweiz und Italien unterwegs. Fuldner und der Nachrichtendienst Rodolfo Freudes sorgten dafür, dass die argentinische Migrationsbehörde die Einreisegenehmigungen erteilte – sowohl für begehrte Wissenschaftler als auch für Schwerverbrecher vom Schlage Adolf Eichmanns.

1950 gründete der ehemalige SS-Mann Fuldner in Argentinien die Firma CAPRI, die Staatsaufträge erhielt und in der Eichmann und andere Nazis Arbeit fanden. Zwar gab es eine geheime Flucht-Organisation ehemaliger SS-Leute, wie sie 1972 der britische Schriftsteller Frederick Forsyth in seinen Roman „Die Akte Odessa“ beschrieb, nicht. Was aber existierte, war ein Kameradenwerk: eine solidarische Unterstützung nationalsozialistischer Kreise in Argentinien für die Gesinnungsgenossen aus Europa, die Perón willkommen hieß.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/fluchthilfe-fuer-ns-verbrecher-die-rattenlinie-nach.976.de.html?dram:article_id=488129

paulklaus 
Fragesteller
 25.10.2021, 10:07

Danke ! - Mich irritiert genau die Tatsache, dass Historiker und Politologen dem oben genannten Artikel widersprechen: Kriegsverbrecher seien allenfallszahlreich ANONYM in Süd-Amerika (Argentinien / Chile) untergetaucht und keinesfalls mit offenen Armen emfangen worden...

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Pseudonym333  25.10.2021, 10:11
@paulklaus

Der deutsch-argentinische SS-Hauptsturmführer Horst Carlos Fuldner rekrutierte von Dezember 1947 bis Oktober 1948 in Italien und der Schweiz Fachkräfte. Fuldner war ranghoher Mitarbeiter in Perons Nachrichtenabteilung. Diese Behörde war für die Koordination der argentinischen Einwanderung zuständig. Auf Grund seiner NS- Vergangenheit und der hohen Position, die Fuldner in Perons Einwanderungsbehörde innehatte, lässt sich hier erneut der Verdacht auf Nazi-Seilschaften erheben.

https://www.grin.com/document/148301

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paulklaus 
Fragesteller
 25.10.2021, 10:20
@Pseudonym333

Nochmals danke ! Dieser Kommentar bringt Licht ins Dunkel meiner Frage, wohingegen die anderen (bisherigen) Antworten nur aus aussagearmen Allgemeinplätzen bestehen, deretwegen ich die Frage sicherlich NICHT stellte.

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Pseudonym333  25.10.2021, 10:34
@paulklaus

„Glücklicherweise haben Dokumente überlebt, die die äußerst enge Beziehung zwischen Perón und einigen nach Argentinien geflüchteten Nazis und Kollaborateuren belegen. Eine der wichtigsten Quellen ist das Tagebuch des belgischen Kollaborateurs Pierre Daye, das Forschern zugänglich ist. Daye erzählt darin, wie er und andere Flüchtige aus Deutschland, Frankreich und Kroatien zweimal von Perón im Präsidentenpalast empfangen wurden. Einige der ersten deutschen Ankömmlinge schickte Perón zurück nach Europa, um weiteren Nazis bei der Ausreise zu helfen.“  

1950 gründete der ehemalige SS-Mann Fuldner in Argentinien die Firma CAPRI, die Staatsaufträge erhielt und in der Eichmann und andere Nazis Arbeit fanden. Zwar gab es eine geheime Flucht-Organisation ehemaliger SS-Leute, wie sie 1972 der britische Schriftsteller Frederick Forsyth in seinen Roman „Die Akte Odessa“ beschrieb, nicht. Was aber existierte, war ein Kameradenwerk: eine solidarische Unterstützung nationalsozialistischer Kreise in Argentinien für die Gesinnungsgenossen aus Europa, die Perón willkommen hieß.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/fluchthilfe-fuer-ns-verbrecher-die-rattenlinie-nach.976.de.html?dram:article_id=488129

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Pseudonym333  25.10.2021, 10:41
@Pseudonym333

'in seinem Roman beschrieb', Dativ... im Artikel wurde fälschlicherweise Akkusativ verwendet.

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Argentinien war damals aber ein aufstrebendes Land, das viertreichste weltweit. Es hatte gute Voraussetzungen dafür, irgendwo im Nirgendwo unerkannt weiterzuleben. Auch aufgrund der Dimensionen (weitgehend unbesiedelte Landstriche über hunderte von Kilometern).

Die Anzahl derjenigen, welche vor der Entnazifizierung flüchteten war jedoch vergleichsweise gering. Die größte deutsche Einwanderungswelle in Argentinien fand während des 2. WK statt, also als Flucht vor den Nazis.

Lt. spanischer Wiki gab es dann nach dem 2. WK eine Germanophobie, was die geflüchteten Nazis dazu veranlasste, sich schnell anzupassen und einzugliedern.

https://es.wikipedia.org/wiki/Inmigraci%C3%B3n_alemana_en_Argentina

Alles in allem liegt und lag der deutsche Anteil der Migranten jedoch im verschwindend geringen Bereich, wenn man sie der spanischen und italienischen Migration (in beiden Richtungen) gegenüberstellt.

Dann muss man ja auch die kulturelle Kompatibilität sehen: in ein afrikanisches oder asiatisches Land kam für sie weniger in Betracht. Argentinien war durch die mehrheitlichen Spanier und Italiener europäisch geprägt, zudem waren das Franco-Spanien und Italien keine Feinde Hitlers und man konnte deren Strukturen mitnutzen, so wie auch Nazis nach Spanien flüchteten.

paulklaus 
Fragesteller
 25.10.2021, 15:26

Danke für die sehr ausführliche, erklärende Information !

Bei Franco muss ich sofort an Hemingway's "For whom the bell tolls" (gleichnamiger Film mit Gary Cooper) und Hitlers "Legion Condor" denken....

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Ludwig Erhard hatte sich bereits 1943 Gedanken gemacht, wie Deutschland nach dem Krieg weiter eine gewisse Konkurrenzfähigkeit behalten könne.

So wurden Zweigfirmen (auch in Argentinien) mit mehr Geld ausgestattet, sogar Firmen dazu gekauft.

Ähnliches machten ja auch SED Bonzen mit dem Parteivermögen und Teilen des Staatsvermögens bereits vor dem Mauerfall.

Da fehlen heute noch Milliarden.

das nicht gerade demokratische Regime in Argentinien deckte die Nazis. Immerhin waren sie für diese Regimes durchaus brauchbar. Barbie in Bolivien z.b. arbeitete unter anderem als Folterknecht für das dortige Regime.

paulklaus 
Fragesteller
 25.10.2021, 13:55

Klar, aber Peron, Pinochet & Co. "kamen" später....

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Weil es doch diese "Rattenlinien" gab, bei denen die kath. Kirche und der damalige Papst ihre dreckigen Finger mit im Spiel hatten.

In Agentinien und Chile wurde dann diese Nazi nicht gezielt verfolgt und konnten sich mit gefälschten Papieren neue Existenzen aufbauen. So z.B. dieser Eichmann.