Vor- und Nachteile von Token-Economy (Operantes Konditionieren)?

3 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Der wesentliche Vorteil am Token-System ist, dass von einem Bestrafungs- zu einem Belohnungssystem übergegangen wird. Das ist für Kinder zum Beispiel oft fundamental, weil zu viele Bestrafungen häufig zu einem eher oppositionellen Verhalten gegenüber den Eltern führen, d.h. das Kind tut genau das Gegenteil von dem, was von den Eltern erwartet wird (schau dir dazu auch mal die sog. erlernte Hilflosigkeit an, auch dazu können bleibende Bestrafungen führen). Stattdessen lernt das Kind, dass es Erfolgserlebnisse durchleben kann, wenn es an einer Sache dranbleibt, was in dem System durch das Token sammeln realisiert wird.

Parallel dazu stärkt es im Fall von Kindern natürlich die Eltern-Kind-Beziehung, weil die Belohnung für Gutes mehr ins Gewicht fällt als die Bestrafung für Schlechtes (obwohl teilweise natürlich auch Punktabzug bei Fehlverhalten sinnvoll ist - wobei das die Sache ein bisschen verkompliziert, weil dann auch darauf geachtet werden muss, dass das Verhältnis zwischen Belohnung und Bestrafung stimmt). Das ist zum Beispiel vor allem bei Kindern mit ADHS ein wichtiger Schritt.

Ein wichtiger Vorteil ist aber auch die Vereinfachung. Verhaltenstherapie ist nicht trivial, genauso wie psychologische Phänomene, die von Laien aber gerne mit vermeintlichen offensichtlichen Ursachen begründet werden, die passend wirken.

Der Patient selbst muss aber die Schritte der Verhaltenstherapie gar nicht komplett durchsteigen. Meistens genügt es, wenn es einen grundlegenden "Fahrplan" gibt, an dem er sich orientieren kann, der aus den Situationen besteht, an denen der Patient Tokens erhalten kann und ihm zeigt, ab welchen Momenten er die Tokens in primäre Verstärker, also salopp gesagt ein (materielles oder immaterielles) Geschenk, eintauschen kann. Das ist vor allem bei Kindern oft zweckmäßig, weil nicht erwartet werden kann, dass sie die komplexen Therapiemethoden nachvollziehen können bzw. wollen.

Außerdem bieten sie dem Patienten eine klare Unterscheidung zwischen gut und schlecht, d.h. Situationen, in denen er sich an das gewünschte bzw. vereinbarte Verhalten, hält, werden positiv besetzt, während Fehlverhalten klar negativ (ggf. auch durch Abzug mehrere Tokens bei schlimmem Fehlverhalten) aufgenommen wird.

Trotzdem ist die Konditionierung durch Tokens oft nicht hundertprozentig durchsetzbar, weil sie nicht konsequent gehalten werden kann, vor allem wenn der Patient oder das Kind Kontakt zu vielen Autoritätspersonen hat. Sobald eine Autoritätsperson einbricht und nicht mehr klar durch Tokens auf das Verhalten reagiert, funktioniert das Konzept nicht mehr vollständig. Das kann die Oma sein, bei der das Kind unabhängig von den Tokens Belohnungen wie Süßigkeiten bekommt oder den ganzen Tag fernsehen darf, oder in Kliniken auch Pfleger, die Patienten womöglich aus Mitleid oder Sympathie belohnen, obwohl die Anzahl der Tokens das momentan nicht zulassen würde.

Du sagst, die Verhaltensänderung geht nicht vom Patienten aus - das würde ich nicht so sagen. Die Tokens sind eher ein Mittel zum Zweck, um natürliche Verstärker zunächst zu ersetzen, weil eine konkrete Belohnung bzw. Bestrafung bei jedem Verhalten schlicht nicht möglich ist. Trotzdem geht die Verhaltensänderung vom Patienten aus, wobei das Bekommen von Tokens eher sekundär ist. Worauf der Patient letzten Endes ja hinarbeitet, ist eine größere Belohnung, die er sich mit den Tokens "erkaufen" kann.

Dass der Patient Ziele selbst festlegen kann, ist auch eher eine Gratwanderung und passiert so in der Regel nicht, denn zentral für die Funktionalität des Token-Systems ist eine klare Vorgabe, wofür es Tokens gibt. Dass der Patient sich das Verhalten selbst aussuchen kann, untergräbt eher das System, vor allem wieder bei Kindern.

Letzten Endes ist das Token-System aber wie viele andere auch ein idealisiertes System, das so von der Idee her funktioniert, aber nie vollumfänglich umgesetzt werden kann. Es wird immer Faktoren geben, die die Konditionierung stören; Ziel der Behandlung ist auch, diese Faktoren minimal zu halten bzw. schnell zu erkennen.

LG

HamsterKnowHow 
Fragesteller
 25.04.2020, 15:15

Hey, danke für deine Antwort :D

Du sagst, die Verhaltensänderung geht nicht vom Patienten aus - das würde ich nicht so sagen.

Naja meinte das so - wenn der Patient weiß, dass er für ein bestimmtes Verhalten Tokens bekommt (womit er sich dann halt Belohnungen abholen kann), dann würde er doch eher das bestimmte Verhalten aufzeigen, weil er eben Tokens möchte und nicht weil er selbst nachvollziehen kann, das sein Verhalten positiv bzw. besser als das ursprüngliche ist, oder?

Dass der Patient Ziele selbst festlegen kann, ist auch eher eine Gratwanderung und passiert so in der Regel nicht

Ne, habs evtl. bisschen unklar formuliert - meinte, dass der Patient selbst Belohnungen "festlegen" / vorschlagen kann und somit die Motivation bleibt, Tokens zu sammeln. Heißt wenn dem Kind plötzlich was neues einfällt, zB. nen Zoo-Besuch, kann es diesen für eine bestimmte Anzahl an Tokens einlösen und hat direkt ein neues Ziel, worauf es hinausarbeitet.

Wie ist das eigentlich, wenn man aus dem System dann mal wieder raus möchte (s. der Stichpunkt von mir mit dem Ausstieg), gibts da dann bestimmte Wege, dass der Patient dann sein Verhalten nicht wieder ändert, wenn es plötzlich keine Tokens mehr dafür gibt? Wäre ja dann auch wieder son bisschen das, was ich oben geschrieben hab - wenn der Patient sein Verhalten selbst evtl. noch nicht nachvollzogen hat sondern nur wegen den Tokens so handelt, sieht er ja dann keinen Sinn mehr darin, dieses Verhalten fortzuführen, wenn die Belohnungen wegfallen.

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Willibergi  25.04.2020, 15:57
@HamsterKnowHow

Okay - ja das stimmt natürlich. Das Ziel ist mehr die Belohnung.

Alles klar. Das stimmt. Dass der Patient indirekt seine Belohnungen festlegt, kann passieren.

Was du beschreibst, nennt man Fading und ist tatsächlich keine einfache Sache. In Einzeltherapie wird der Wert des Tokens dabei schrittweise vermindert, d.h. die Anzahl der Tokens, die das Kind für eine bestimmte Belohnung "bezahlen" muss, wird erhöht. Dadurch werden die Tokens zunehmend unwichtiger und bestenfalls überträgt sich das Verhalten dann tokenlos auf den Alltag. Der schwierige Punkt ist hier aber natürlich der Rückfall, denn vor allem beim Verhaltensabbau ist es oft so, dass Verhaltensmuster durch Strafen bzw. Belohnungen zwar gehemmt, aber wieder angelernt werden, wenn die Gefahr von Strafen vorüber ist, weshalb direkte Bestrafung immer gründlich überdacht werden sollte. Denn das ist ja genau das, was nicht passieren soll.

Das klingt alles viel einfacher, als es in der Realität ist, aber so ist die Theorie, die aber leider gerade bei Gruppentherapien oft fehlschlägt. Aber das Token-System ist kein Alleingänger, d.h. es ist nicht so, dass das Verhalten allein wegen der Tokens geändert wird, auch wenn sie natürlich ein starker Faktor sind (und auch sein sollen). Nebenbei findet ja in der Regel noch eine persönliche Therapie statt, in der das Verhalten besprochen wird, sodass das Kind oder der Patient auch versteht, warum das Verhalten falsch ist und er diese Muster auf- bzw. abbauen soll. Das Token-System ist weniger ein Systemabbild von dem Esel, der der Karotte hinterherläuft, sondern mehr wie schon gesagt ein Mittel zum Zweck.

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HamsterKnowHow 
Fragesteller
 27.04.2020, 19:41
@Willibergi
Nebenbei findet ja in der Regel noch eine persönliche Therapie statt, in der das Verhalten besprochen wird, sodass das Kind oder der Patient auch versteht, warum das Verhalten falsch ist und er diese Muster auf- bzw. abbauen soll.

Joa gut, sowas macht natürlich Sinn, hatte ich nicht dran gedacht. So ohne andere Unterstützung ist mir das System halt irgendwie zu low vorgekommen. Danke für deine Hilfe :D

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Willibergi  27.04.2020, 20:23
@HamsterKnowHow

Es ist halt eine Art und Weise, Verhalten messbar zu machen und einen ersten Ansporn zum Verhaltensauf- oder -abbau zu erzeugen. Aber genug ist es (zu Therapiezwecken) natürlich nicht.

Aber es kommt ja nicht nur in der Verhaltenstherapie zum Einsatz, hier ist es ähnlich, das hat Mjutu ja ganz schön beschrieben. Fast überall, wo man ein bestimmtes Nutzerverhalten erreichen will, greift man auf Token-Systeme zurück, überall wo irgendwas bepunktet wird, steckt ein Token-System dahinter. Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, findet man Token-Systeme überall ;-)

Gerne und Grüße ;-)

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Das von dir angedeutete System 'Operantes Konditionieren' lässt mich an eine Vorlesung zu dem Pawlow'schen Modell der klassischen Konditionierung denken; dort werden zwei Reize so miteinander verknüpft, dass beide dieselbe Reaktion auslösen, obwohl diese Reaktion zuvor nur von einem biologisch bedingten (angeborenen) Reiz ausgelöst wurde.

'Klassische Konditionierung ist eine von dem russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow begründete behavioristische Lerntheorie, die besagt, dass einer natürlichen, meist angeborenen, sogenannten unbedingten Reaktion durch Lernen eine neue, bedingte Reaktion hinzugefügt werden kann.' Soweit Wikipedia

Das ist die Geschichte mit dem Futter, dem Glöckchen und dem automatischen Speichelfluss, der auch ohne Futter allein beim Klang schon funktioniert.

Dabei geht es wie in deinem Beispiel um einen token - Futter in diesem Fall - der hier allerdings der Bedürfnisbefriedigung dient: schließlich handelt es sich um Tiere, deren wichtigste Belohnung in Nahrung besteht.

Bei Menschen stelle ich mir je nach Intellekt, Charakterstärke und sonstiger Motivation viel subtilere Möglichkeiten vor. Die denkbaren pädagogischen Effekte gezielt gesetzter Belohnungsreize dürften auch darin bestehen, mit einer genügend großen Anzahl von Tokens Entscheidungen z.B. von Mandatsträgern zu steuern.

Vorteile? A priori Bereicherung durch Wohlverhalten. Nachteile? Je nach Ethos Gewissensbisse gegen über dem Wähler.

Überwiegt der Druck des Belohnungsreizes oder der Bestrafungsandrohung bei Nicht-Befolgen, so konnte das einen der potentiellen Nachteile, die Angst vor der Offenlegung, überlagern. Wer dann als Tokennehmer außer seinem Gesicht nicht viel zu verlieren hat, wird evtl. nach dem Prinzip 'Nach mir die Sintflut' handeln und Kollateralschäden beim Souverän in Kauf nehmen.

Das Ganze ist noch nicht zuende gedacht, entwickelt sich noch.

Vielleicht trägt ja mein Ansatz etwas Konstruktives bei.

Willibergi  25.04.2020, 12:27

Der letzte Absatz ist sehr treffend ausgedrückt. Daumen hoch dafür.

Der Pawlow'sche Hund passt zwar eher weniger zum Token-System, die Gemeinsamkeit der Konditionierung stimmt aber natürlich. ;-)

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Man kann das in diesem Forum verwendete Feedbacksystem aus "Hilfreich", "Danke" und "Sternchen"-Flags als Form der token-basierten Konditionierung betrachten. Diese Methode kann den Vorteil haben, die Qualität der Antworten zu steigern. Als Nachteil kann man das suchterzeugende Verhalten sehen, wenn Nutzer den Eindruck haben, dass die hier gesammelten Punkte irgendeinen realen Vorteil darstellen. So werden hohe Punktzahlen leicht mit einer bestimmten Reputation im echten Leben verwechselt. Im Endeffekt kann das dazu führen, dass Antworten unter dem Gesichtspunkt geschrieben werden, möglichst viele positive Feedbacks zu kassieren anstatt dem Fragesteller möglichst gut zu helfen.

Personen mit vielen Bewertungspunkten können durch über respektables Fachwissen verfügen. Oder aber sie gehören zu einer kleinen Gruppe weniger Personen, die sich häufig gegenseitig positiv bewerten, wobei sie abwegige und unproduktiven Ideologien folgen. Eine Einzelperson kann kaum unterscheiden, ob sie ein Experte ist oder sich nur in einer Informations- und Bestätigungsblase aufhält.

Für die Betreiber eines Internetdienstes ist beides ein Vorteil, da es die Nutzungsfrequenz steigert. Man kann die Frage nach Vor- und Nachteilen also nicht nur für die Empfänger der Tokens stellen, sondern auch für die Verteiler und die Umgebung, hier also die Gemeinschaft der Nutzer und der Werbekunden.

Welche Blüten das Bewertungssystem treibt, ist leicht zu sehen. Menschen verkaufen ihre Moral und ihren Anstand, um mehr "Likes" zu bekommen. Jedes mal, wenn ich z.B. hier im Forum ein "Danke für den Stern" sehe, gruselt es mich. Eigentlich ist der Stern doch für zukünftige Leser gedacht gewesen, damit man möglichst schnell die hilfreichste Antwort findet. Wenn sich dann der Antworter bedankt, läuft offenbar etwas schief - oder aus Sicht des Token-Verteilers perfekt. Die Konditionierung funktioniert.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Lese Fragen durch und vermeide Ferndiagnosen