Faust 1 - Bezug zum klassischen Menschenbild?

1 Antwort

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Goethes Werke, wie überhaupt die Werke der Weimarer Klassik (von Schiller, Wieland, Herder) sind dem Zeitalter des Idealismus zuzuordnen. Auch der „Faust“ müsste deshalb ein typisches Werk der deutschen Klassik sein.

Was ist nun idealistisch am „Faust“?

Zwar ist vom Streben nach dem Guten (wie z.B. in der „Iphigenie“ oder in dem Gedicht „Das Göttliche“ im „Faust“ wenig zu spüren. Fausts Verhalten gegenüber Margarete ist alles andere als moralisch-gut zu nennen. Er ist sich bewusst, dass er das kleinbürgerliche Mädchen, das überhaupt nicht zu ihm, dem „Unbehausten“, passt, zugrunde richten wird: „Sie, ihren Frieden musst ich untergraben! Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen!“ (Verse 3353 ff). Aber in der Kerkerszene ist sein ethisches Fundament durchaus zu erkennen. Er möchte sie unter allen Umständen retten. Allerdings von einem „Streben“ nach einem Ideal (hier „des Guten“) kann man eigentlich hier nicht sprechen; allenfalls von einer Haltung, die sich vom Standpunkt des Anstands bemüht, die verheerenden Folgen seines Verhaltens ungeschehen zu machen.

Fausts Streben nach letzter Erkenntnis („was die Welt im Inneren zusammenhält“) ist allerdings ein idealistisches Streben, nach dem Ideal der Wahrheit nämlich. Insoweit kann man sagen, dass zumindest  Faust I ein Drama der Klassik ist, denn der Protagonist strebt idealistisch nach geistigen
Höhen, nämlich nach letzter Erkenntnis.

In „Faust II“ bleibt es zunächst bei dem idealistischen Streben Fausts, jetzt strebt er nach den Urbildern griechischer Schönheit, Paris und Helena. Vom Kaiser erhält Faust den Auftrag, Helena zu beschwören. Möglich wird das durch Homunculus, dem vom Famulus Wagner (jetzt Professor) mit Hilfe Mephistos erzeugten Geistwesen, das, in einer Phiole voranschwebend, Faust und Mephisto zur klassischen Walpurgisnacht geleitet. Im Hades erbittet Faust von Persephone die ideal schöne Helena. In der Begegnung mit Helena – mit ihr lebt Faust in der idealisierten Kunstlandschaft von Arkadien - vollzieht sich die Synthese zwischen der seelischen Erlebniskraft des „romantischen“ Nordens und dem Formsinn der griechischen Klassik. Der Vereinigung entspringt ein Sohn: Euphorion. Der übermütige Knabe verunglückt bald darauf bei einem Flugversuch tödlich. Helena folgt ihrem Sohn in den Tod.

In den Schlussakten scheint „Faust II“ kein Drama der Klassik mehr zu sein. Faust, inzwischen vom Kaiser mit einem Stück Land belehnt, entpuppt sich im 5. Akt  als Agnostiker: Vom Göttlichen und seinen Gesetzen ist nicht mehr die Rede, auch nicht mehr von Gott selbst: „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, sich über Wolken seinesgleichen dichtet.“ Dann kommt der Satz, der von Nietzsche, dem Atheisten, stammen könnte: „Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm! Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen? Was er erkennt, lässt sich ergreifen. Wenn Geister spuken, geh er seinen Gang…“ Faust ist jetzt eigentlich zu einem Realisten geworden.

Doch ein idealistisches Streben hat er sich bewahrt: das Streben nach Freiheit, ebenfalls einem Ideal: „Das ist der Weisheit letzter Schluss: nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“ (Verse 11573 ff)

So kann man abschließend doch sagen: das Faust-Drama ist in wesentlichen Teilen ein Drama der Klassik.

Haldor  10.12.2017, 19:23

Präzisierung zu den zwei Erscheinungen der Helena: Faust hatte  dem Kaiser die Erscheinung Helenas und Paris‘ mit  Hilfe Mephistos vorgeführt (Gang zu den „Müttern“, dort einen glühenden Dreifuß berührt und mit Hilfe eines magnetischen Zauberschlüssels den Dreifuß zur Oberwelt gebracht; darauf steigen Nebel empor, aus denen sich Helena und Paris bilden).

Faust jedoch schlägt mit dem Schlüssel eifersüchtig nach Paris; darauf verschwinden die antiken Gestalten wieder, und Faust sinkt ohnmächtig zu Boden.


Nun kann Faust nur geheilt werden, wenn er in die antike Vorwelt zurückkehrt und Helena von dort zurückholt. Jedoch kann kein Sterblicher dorthin gelangen. So erfindet Goethe den Homunculus, ein Geistwesen, das auf magische Weise in die Welt der Antike eintauchen kann. Auf einem Zaubermantel fliegen die Drei, der leblose Faust, Mephisto und Homunculus, ins antike Thessalien. Kaum berührt dort Faust den antiken Boden, erwacht er und scheint geheilt.

Faust gelangt schließlich auf Umwegen zur Göttin der Unterwelt, Persephone, und erwirkt von ihr die Erlaubnis, dass Helena in die menschliche Welt zurückkehren darf.

1