Wieviel des erlernten Schulwissens (in %) ist für das spätere Berufs- oder Privatleben bedeutsam?

7 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Nun, dass man später nur einen kleinen Teil des Schulstoffs wirklich braucht, ist unbestritten.

Das Dumme ist: Woher weißt du, welchen Teil du brauchst und welchen nicht? Wusstest du als z.B. 10-jähriger schon so sicher, welchen Beruf du ergreifen wolltest, dass du dich komplett darauf hättest festlegen wollen, um den Preis dass dann was anderes vielleicht nicht mehr geht?

Fändest du es sinnvoll, wenn ein 10-jähriger sagt "nö, ich will eh nichts machen zu dem ich englisch können muss" und damit englisch von seinem Lehrplan streicht? Das wäre spätestens dann fatal, wenn derjenige mit 15 dann einen anderen Berufswunsch hat und feststellt, dass er dafür Englischkenntnisse gebraucht hätte.

Der Sinn des breit gefächerten Lehrplans ist, dass alle Optionen offen stehen. Egal, ob du ne Ausbildung machen willst bei der du rechnen können musst oder nicht, deine Schulbildung erlaubt es dir. Egal, ob du ne Ausbildung machen willst bei der du englisch können musst oder nicht, deine Schulbildung erlaubt es dir. Egal, ob du ein geographisches Grundverständnis brauchst oder nicht, deine Schulbildung passt für diese Ausbildung. Diese allgemeine Anwendbarkeit, das "egal was du machen willst, du hast ne gute Grundlage gelernt", ist das was die Schule erbringen soll.

In höheren Schulklassen, so ab der 9./10. und ganz besonders dann in der gymnasialen Oberstufe, geht es zunehmend auch gar nicht mehr um den konkreten Lernstoff, sondern um die Methodenkompetenz. Es geht nicht darum, dass ein Abiturient weiß was in Kafkas Prozess steht. Sondern es geht darum, sich mit schwierigen Texten auseinander zu setzen und unter Zuhilfenahme von Autor und Entstehungszeit die Kernaussagen herauszulesen. Und das wird halt am Beispiel von Kafkas Prozess gelehrt. Und wenn die Schüler Referate halten müssen, geht es nicht darum dass sie als jeweils einziger in der Klasse die thematischen Inhalte dieses Referates gelernt haben, sondern es geht ganz allgemein darum, dass sie geübt haben, sich in ein Beispielthema einzuarbeiten und zu referieren.

Diese Unterscheidung, also dass es um die Methodenkompetenz geht und nicht um den Inhalt, wollen auch viele nicht kapieren.

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Die Schulbildung ist eine allgemeine Grundlagenbildung mit dem Anspruch, für alle weiteren, individuellen Bildungswege passend zu sein. Und solange dieser Anspruch besteht, ist es komplett sinnlos, wenn jeder anfängt aufzuzählen was aus der Schulzeit er alles nie wieder gebraucht hat.

Was man dann individuell für einen bestimmten Beruf, für bestimmte Hobbys usw. braucht, findet außerhalb bzw. nach der Schule statt.

Nicht schwer zu verstehen, oder?


WraithGhost 
Beitragsersteller
 24.11.2024, 22:11

Ausgezeichnete Antwort, vielen Dank!

Nehmen wir allerdings Dein Kafka-Beispiel: Ich erachte (womöglich noch pubertierende) Schüler als noch zu unreif, um die Thematik wirklich erfassen, begreifen und tiefsinnig kommentieren zu können - Stichwort Überforderung.

Ein aktives Streichen von Fächern aus dem Lehrplan (wie Englisch) ist ohnehin illusorisch.

Deine Ausführungen zur "Methodenkompetenz" finde ich allerdings sehr hilfreich - von dieser Warte aus hatte ich das Ganze noch nicht betrachtet. Diese Betrachtungsweise hat durchaus was für sich.

RedPanther  25.11.2024, 17:19
@WraithGhost

Ja, es werden sicherlich auch Jugendliche mit komplizierter Literatur deutlich überfordert. Allerdings wird, soweit ich weiß, Kafka nur im Gymnasium gelehrt und nicht auf z.B. der Hauptschule. Wenn Gymnasiasten mit dem Lehrstoff überfordert sind, liegt das in meinen Augen a priori nicht am Lehrstoff, sondern daran dass Schüler in der falschen Schulart sitzen.

Aber ich denke, für nen eher überdurchschnittlich intelligenten 15/16jährigen, also jene Menschen wie ich sie in der 10. Klasse des Gymnasiums erwarten würde, ist Kafka definitiv machbar. Hauptgrund des Scheiterns werden Unwille und Desinteresse sein (das war bei mir definitiv der Fall!), gefolgt von Lehrpersonal das es einfach nicht schafft, den Stoff interessant zu gestalten.

Nichtsdestotrotz: Ich habe mich privat ein Bisschen tiefgehender mit Schreibstilen, Erzähltechniken und dergleichen befasst, weil ich früher mal glaubte dass ich Romanautor werden könnte. Nach den Maßstäben meines damit angeeigneten Halbwissens ist mir völlig unverständlich, weshalb ein Kafka oder Kleist als hochwertige Literatur gilt. Ich würde daher eine Revision dieser Beurteilung und Ersatz dieser Literaturstücke durch tatsächlich gute Literatur auf jeden Fall befürworten.

Von Experte notting bestätigt

Es kommt nicht auf die Inhalte an, zumindest nur sekundär. In Fremdsprachen und Mathe natürlich, das baut aufeinander auf, wenn ich darauf verzichten möchte, dann sollte ich halt nicht unbedingt ein Gymnasium besuchen. Ansonsten geht es in erster Linie darum, Fertigkeiten zu erlernen, immer wieder zu üben, wie man sich Wissen aneignet (üben kann man das nur an konkreten Inhalten, auch wenn du die jetzt doof findest), recherchiert, Texte verfasst, Sachverhalte miteinander in Zusammenhang bringst, Dinge auf den Alltag anwendest...

Im übrigen geht es nicht jedem so. Ich gehöre zu denen, die alles mögliche interessant finden und es sich auch gemerkt haben. Wenn es nur darum geht, was man später in klingende Münze verwandeln kann, ist Schulbildung langweilig und blöd. Wenn man Spaß am Wissen und Können um seiner selbst willen hat, dann fällt einem auch das Lernen leicht. Und zwar in aller Breite. Denn zum gebildeten Menschen gehört nicht nur das, was er zufällig später einmal beruflich macht, sondern auch Fähigkeiten und Kenntnisse in Kunst, Musik, Philosophie/Ethik/Religion, Literatur und vieles andere mehr.

Was ist das Kriterieum, wann etwas "Müll" ist? Weil es ausgerechnet dich nicht interessiert? Und die anderen?


WraithGhost 
Beitragsersteller
 24.11.2024, 21:52

Vielen Dank für Deine fundierte und differenzierte Antwort!

In meinem Gymnasium gab's halt Schulfächer und Lehrstoffe, für die ich offenbar noch nicht reif genug war. Zum Beispiel ödete mich Geschichte an - heutzutage bin ich hierüber voll begeistert. Dito Literatur in allen Facetten.

Mit "Müll" meine ich insbesondere hochkomplizierte mathematische Formeln, die der Mensch im späteren Alltag nie mehr braucht - es sei denn, dieses Thema ist für das spätere Studium unabdingbar. Dennoch war ich in Mathe einer der Klassenbesten.....

Es geht z. T. auch um das Wissen an sich, sondern um:

  • Herauszufinden was einem liegt, auch zwecks Berufsfindung.
  • Damit umzugehen Zeug zu lernen, was man nicht mag, was mir nicht nur im Studium, sondern auch heute im Beruf immer wieder passiert.
  • Sich an Termine zu halten bzw. Prioritäten zu setzen etc.

Und zumindest zu meiner Zeit konnte man auch z. B. an ein berufl. Gymnasium gehen, wo man ggf. mehr Sachen hat, die einen interessieren.

notting

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung
Bin m 59 

Dann dürfte dir bekannt sein, dass "Lernen" bedeutet, dass man sich Etwas durch Widerholen aneignet.

Für die Prüfung gelernt, zwei Tage später schon wieder vergessen.

Also nicht gelernt, sonst hättest du das im Langzeitgedächtnis behalten. Du hast dir das Wissen nur ins Kurzzeitgedächtnis geprügelt.

"Non scholae, sed vitae discimus" empfinde ich als Farce.

Dann überlege mal, was du jeden Tag an Tätigkeiten durchführst, analysiere diese Tätigkeiten und versuche mal herauszufinden, WO du überall etwas anwendest, zu dem du die Grundlagen in der Schule hättest lernen können. Ob du das auch getan hast, muss ich deiner eigenen Einschätzung überlassen.

Zumindest mal wirst du die gelernte Sprache anwenden, dann auch Mathe, bei diversen Freizeitbeschäftigungen durchaus auch Physik oder Chemie (ohne dass man es bewusst wahrnimmt!) und nicht zuletzt etwas, was man ohne Schule durch Home-Schooling nicht lernen wird -> Verhalten und Benehmen bei sozialen Kontakten.....


RedPanther  25.11.2024, 17:20
Dann dürfte dir bekannt sein, dass "Lernen" bedeutet, dass man sich Etwas durch Widerholen aneignet.

Ist dem so?

Bewusst überspitzt: In der Regel wird ein Kind nicht mehrere Wiederholungen derselben Lektion brauchen, um zu verinnerlichen dass es keine gute Idee ist, die Hand auf die heiße Herdplatte zu legen.

Ja, sehe ich auch so mit der Einschränkung, dass man aus allem etwas rausholen kann, was sich dann als sehr nützlich erweisen könnte, wenn man es braucht.

Tatsächlich hat man für die Schule gelernt, wenn man gelernt hat, dann ging es um Noten, nie um den Inhalt, schon gar nicht für das Leben. Diese Art von Schule ist irgendwie reformbedürftig und wenn die Schüler heute noch dazu mit mathematisch spekulativen Weltmodellen konfrontiert werden, muss man sich nicht über das Ergebnis wundern.