Wie entwickelten sich komplexe Strukturen wie z.B. ein Arm durch die Evolution?

3 Antworten

Die Gliedmaßen der Landwirbeltiere (Tetrapoda) entstanden genauso wie die Schnäbel von Vögeln und wie alles andere in der belebten Natur - in vielen kleinen Schritten über Generationen hinweg.

Evolution ist grundsätzlich kein zielgerichteter Prozess. Sie denkt und sie lenkt nicht, sondern sie passiert einfach. Die Evolution ist abhängig von den zufällig auftretenden Mutationen, die neue Varianten von Genen (sog. Allele) entstehen lässt. Die Gene wiederum führen zu Veränderungen des Phänotyps. Eine Mutation ist prinzipiell erst einmal weder "gut", noch "schlecht", sie ist einfach da. Damit eine Mutation einen Anpassungswert hat, muss erst noch die natürliche Selektion ins Spiel kommen. Diese ist abhängig von den jeweils herrschenden Umweltbedingungen. Erst die Umwelt entscheidet also darüber, ob eine neu auftretende Mutation für ihren Träger einen Selektionsvorteil bedeutet, sich auf dessen Überleben nachteilig auswirkt oder ob sie neutraler Art ist. Neue Gene und die darauf basierenden Strukturen entstehen also zunächst zufällig und nicht zweckgerichtet. In der Evolutionsbiologie spricht man hierbei von sog. Exaptationen. Ein Merkmal X entsteht also nicht, um damit ein Ding Y tun zu können. Lungen entstanden nicht, um damit an Land atmen zu können. Und Arme und Beine entstanden nicht, um damit an Land laufen zu können. Keiner der Vorfahren der Landwirbeltiere konnte schließlich wissen, dass einer seiner Nachfahren viele, viele Generationen später mal an Land leben würde.

Hinzu kommt, dass Beine, Arme und Lungen eine zwingende Voraussetzung dafür waren, damit die Landwirbeltiere an Land gehen konnten. Erst an Land zu gehen und dann Beine und Arme und Lungen zu entwickeln, das hätte nicht geklappt, weil ein Landtier ohne diese Merkmale an Land gar nicht hätte überleben können. Das bedeutet, dass diese Merkmale bereits vorher entstanden sein müssen, noch während die Vorfahren der Landwirbeltiere als fischartige Wesen im Wasser lebten.

Wir müssen uns also die Frage stellen, worin der Anpassungswert (Adaptationswert) dieser Strukturen im Wasser bestanden haben muss, weshalb Lungen und Beine im Wasser einen höheren Überlebenserfolg gehabt haben soll.

Fangen wir einmal bei den Lungen an. Wenn du im Hochsommer, wenn es richtig heiß ist, einmal spazieren gehst und du kommst an einem Karpfenteich vorbei, bleib ein paar Minuten lang stehen und beobachte, was an der Wasseroberfläche geschieht. Was passiert? Ab und zu siehst du einen der Karpfen auftauchen und nach Luft schnappen. Die Fische tun das tatsächlich, damit sie nicht ersticken. Denn im Sommer steigt die Wassertemperatur. Mit zunehmender Temperatur nimmt die Löslichkeit von Sauerstoff immer weiter ab. Bei 0 °C liegt sie z. B. bei 14.6 mg/l, bei 20 °C nur noch bei 9.1 mg/l. Der Sauerstoffgehalt im Wasser nimmt also im Sommer stark ab. Die Fische nehmen dann zusätzlich atmosphärischen Sauerstoff auf, den sie über die Darmschleimhaut absorbieren, sie atmen mit ihrem Darm also Luft.

In der Tat ist die Lunge entstanden aus einer Aussackung des vorderen Darms. Diese Aussackung war am Anfang bestimmt winzig, aber sie vergrößerte die Oberfläche, über die Sauerstoff aufgenommen werden konnte. Gegenüber den Individuen, die diese Aussackung nicht hatten, war das ein Überlebensvorteil. Der Vorteil war marginal, aber er war groß genug, dass diese Tiere überlebten und sich erfolgreicher fortpflanzten. Schritt für Schritt wurde die Aussackung immer größer und schließlich wurde daraus eine erste Lunge. Das muss in der Evolution bereits sehr früh passiert sein, denn sehr wahrscheinlich gehören Lungen zum Grubdbauplan aller Osteognathostomata (das sind die "Knochenfische" einschließlich der Landwirbeltiere). Die Lungen waren im Wasser deshalb ein Vorteil, weil damit in Zeiten von Sauerstoffknappheit zusätzlich atmosphärischer Sauerstoff geatmet werden konnte. Die Lungenfische (Dipnoi), die die engsten Verwandten der Säugetiere sind, machen es noch heute so. Die Gattung der Afrikanischen Lungenfische (Protopterus) ist damit sogar in der Lage, in ephemeren Gewässern (das sind Gewässer, die nicht dauerhaft Wasser führen) zu überleben. Sobald der Fluss oder Tümpel, in dem sie leben, austrocknet, graben sie sich im Schlamm ein, hüllen sich in einen Schleimkokon ein und können dank ihrer Fähigkeit mit ihren Lungen zu atmen sogar mehrere Jahre der Trockenheit überstehen, solange bis es wieder regnet und ihr Tümpel sich wieder füllt.

Im Lauf der Evolution verloren viele Fischarten ihre Lungen oder genauer gesagt: sie funktionierten sie um. Dieselbe Anlage, aus der sich bei Landwirbeltieren die Lunge entwickelt, wird bei den Fischen zur Schwimmblase. Das muss zwei Mal voneinander unabhängig geschehen sein, nämlich bei Stören und bei den eigentlichen Knochenfischen (Teleostei). Die Herkunft der Schwimmblase erkennt man daran, dass bei den meisten Arten die Schwimmblase noch über einen Kanal mit dem Darm verbunden ist. Manche Fische wie die Arapaimas können mit der Schwimmblase sogar atmen. Hauptsächlich dient sie jedoch dazu, den Auftrieb zu regulieren.

Die Vorfahren der Landwirbeltiere hatten also bereits Lungen und sie nutzten sie, um Zeiten der Sauerstoffknappheit oder das Austrocknen ihres Tümpels zu überstehen. Die Landwirbeltiere schließlich konnten die Lungen umfunktionieren, um damit an Land zu überleben. Ein solches Merkmal, das später "umfunktioniert" wird, nennt man auch Präadaptation.

Jetzt schauen wir uns einmal die Entstehung der Gliedmaßen an. Die Landwirbeltiere gehören zur Verwandtschaftsgruppe der Fleischflosser (Sarcopterygii). Neben den bereits erwähnten Lungenfischen gehören auch die Quastenflosser (Coelacanthimorpha oder Actinistia) in diese Gruppe. Kennzeichnendes Merkmal der Sarcopterygier sind ihre "fleischigen Flossen", die bereits Ähnlichkeiten mit den Extremitäten der Tetrapoden erkennen lassen. Als es in den 1980ern Hans Fricke erstmals gelang, die Komoren-Quastenflosser (Latimeria chalumnae) zu filmen, zeigte sich, dass sie ihre Flossen bereits im Kreuzgang zur Forwärtsbewegung einsetzen. Wahrscheinlich ist das eine energiesparende Fortbewegungsweise. Möglicherweise konnten die Vorfahren der Landwirbeltiere mit ihren Flossen auch energiesparend über den Boden des Gewässers "laufen" (die beiden heute lebenden Quastenflosserarten machen das allerdings nicht).

Die Fähigkeit, mit den Flossen über den Gewässergrund kriechen zu können, war möglicherweise noch auf eine andere Weise von Vorteil. Wie die Afrikanischen Lungenfische lebten die Landwirbeltierahnen wahrscheinlich auch in ephemeren Gewässern. Wenn ein Tümpel austrocknete, konnten sie sich vielleicht einige hundert Meter weit über Land ziehen, um einen anderen, noch nicht ausgetrockneten, Tümpel zu erreichen. Nach und nach entwickelten sich aus den Flossen Beine und Arme, mit denen die Fortbewegung an Land noch leichter ging.

Der Landgang der Tetrapoden erfolgte also graduell über viele Zwischenschritte. Jeder einzelne Zwischenschritt war zum jeweiligen Entwicklungszeitpunkt von Vorteil. Belegt wird dieser Prozess auch durch eine ganze Reihe früher Fleischflosserfossilien und evolutionärer "Bindeglieder" (Brückenfossilien), z. B. Tiktaalik oder Ichthyostega.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

Durch natürliche Selektion. Wnen ein Merkmal einen Überlebensvorteil birgt, hat dieses eine höhre Wahrscheinlichkeit, an die Folgegereration weitergegeben zu werden. Und wenn das so weiter läuft, dann prägt es sich immer weiter aus. Das sind halt zeiträume von Millionen von jahren.

Du gehst fälschlicherweise davon aus, dass Merkmale für einen zukünftigen Zweck bestimmt und eigenständige Resultate des Evolutionsprozesses sind. Der Arm ist nicht direkt so entstanden, wie wir das Merkmal heute sehen können. Gliedmaßen entwickelten sich aus Flossen und durchliefen eine Reihe mehrerer Vorläufer mit anderen Anpassungen an unterschiedlichen Umweltbedingungen.

https://www.youtube.com/watch?v=MorhQ5uSug4

In diesem Video erklärt der Paläontologe und Evolutionsbiologe Neil Shubin die Entwicklung sehr gut.