Was bedeutet „Theorie“ in der Wissenschaft – und warum ist die Evolution trotzdem als gut bewiesene Tatsache anerkannt?
Ich höre oft von manchen Menschen, dass die Evolution „nur eine Theorie“ sei und deshalb nicht bewiesen. Aber meines Wissens ist eine wissenschaftliche Theorie etwas anderes als eine bloße Vermutung – sie basiert auf vielen Beweisen und Erklärungen. Kann mir jemand erklären, was genau der Begriff „Theorie“ in der Wissenschaft bedeutet und warum Evolution trotzdem als sicher gilt? Wie unterscheidet sich das von der alltäglichen Verwendung des Wortes?
7 Antworten
Eine Theorie ist in der Wissenschaft ein beschreibendes bzw. erklärendes Modell, das hinreichend belegt ist und somit als "wahr" angesehen werden kann.
Wissenschaftliche Theorien, die historische Prozesse nachzeichnen, und das tut die Evolutionstheorie, können nicht bewiesen werden. Ein Beweis kann nur in der Mathematik geführt werden. Bei wissenschaftlichen Theorien spricht man stattdessen von Belegen. Ein Beleg ist aber nicht unbedingt schlechter als ein Beweis, weshalb aus dem Umstand, dass die Evolutionstheorie (ET) sich nicht beweisen lässt, nicht folgt, dass die ET keine Tatsache wäre. Beweise und Belege werden lediglich auf unterschiedliche Weise erhoben, können aber genauso gewichtig sein, ähnlich wie vor Gericht eine Zeugenaussage genauso sicher zu einer Verurteilung führen kann wie Indizienbeweise das können. Außerdem sind mathematische Beweise auch von Axiomen abhängig, also von zuvor als Tatsache angenommenen Bedingungen, die nicht geprüft wurden.
Eine Theorie im wissenschaftlichen Sinn hat zwei wesentliche Eigenschaften. Die erste ist ihre Falsifizierbarkeit. Das heißt, dass eine Theorie stets so formuliert sein muss, dass es grundsätzlich möglich sein muss, sie widerlegen zu können. Das klingt erst mal paradox, schließlich will man eine Theorie ja eigentlich bestätigen. Aber erst durch die Eigenschaft der Falsifizierbarkeit können wir eine Theorie überhaupt erst mit den Methoden der Wissenschaft testen. Das Konzept des Intelligent Design (ID) etwa ist nicht falsifizierbar. Wir können mit den Methoden der Wissenschaft die Existenz eines "intelligenten Schöpfers" nicht be- oder widerlegen, dessen Annahme beruht einzig auf dem Glauben daran, weshalb das ID keine Theorie im wissenschaftlichen Sinn und somit auch keine Alternative zur ET ist. Die ET ist falsifizierbar. Es ist grundsätzlich möglich, sie zu widerlegen, vorausgesetzt natürlich, dass diese Belege wirklich existierten. Wenn man beispielsweise ein menschliches Fossil in einer Gesteinsschicht fände, in der es der ET zufolge eigentlich noch keine Menschen gegeben haben kann, wäre das ein Beleg, der die ET falsifizierte (es sei denn natürlich, man fände eine plausible Erklärung dafür). Bisher hat man in über 160 Jahren Erforschungsgeschichte jedoch nicht einen einzigen Beleg gefunden, der der ET widerspräche. Außnahmslos alle Belege stehen mit ihr im Einklang.
Zweitens ermöglicht eine Theorie Prognosen. Unsere Wettermodelle beispielsweise sind auch nichts anderes als wissenschaftliche Theorien, die mit beobachteten Daten gefüttert werden und uns sagen, wie das Wetter werden könnte. Prognosen müssen nicht in jedem Fall eintreffen, aber je präziser das Modell ist, umso zuverlässiger wird natürlich auch die Prognose. Der Wetterbericht für den kommenden Tag etwa ist sehr genau und trifft fast immer zu, während wir für das Wetter in sieben Tagen mit größeren Abweichungen rechnen müssen. Auch die ET erlaubt uns, Vorhersagen zu treffen. Das bekannteste Beispiel lieferte Darwin höchstselbst. Darwin war ja auch ein versierter Botaniker (er war u. a. der erste, der eine Abhandlung über fleischfressende Pflanzen schrieb) und untersuchte auch Orchideen, darunter auch den Stern von Madagaskar (Angraecum sesquipedale). Die Blüte dieser Orchidee besitzt einen langen Sporn, an dessen Ende sich der Nektarvorrat befindet. Darwin prognostizierte, es müsse einen Bestäuber geben, eine Nachtfalterart, dessen Rüssel lang genug ist, um den Nektar am Ende des Sporns zu erreichen. Erst Jahre nach Darwins Tod wurde der Bestäuber wirklich gefunden und Xanthopan morganii praedicta getauft (praedicta heißt so viel wie "wurde vorausgesagt"). Allerdings nahm Darwin an, es hätte sich dabei um einen co-evolutiven Prozess gehandelt, also eine wechselseitige Anpassung zwischen Bestäuber und Pflanze. Inzwischen nimmt man eher an, dass es eher das Resultat eines Bestäuberwechsels (pollinator shift) ist - die Pflanze hat sich einseitig an den langen Rüssel des Bestäubers angepasst. Der lange Rüssel entstand vermutlich schon vorher als Anpassung an Fressfeinde wie z. B. Spinnen, die sich gern in Blüten verstecken, durch den langen Rüssel gelangte der Falter außerhalb der "Sprungweite" seiner Fressfeinde.
Hallo,
Ich höre oft von manchen Menschen, dass die Evolution „nur eine Theorie“ sei und deshalb nicht bewiesen.
Ja, das hört man oft, obwohl diese Darstellung gleich in mehrfacher Weise falsch ist. (Erkläre ich gleich) Manch wissenschaftlicher Laie mag es einfach nicht wissen... bei manch aktivem Missionierer steckt mehr dahinter.
Was ist falsch an dieser Darstellung?
Verwechslung von Evolution und EvolutionstheorieDie Evolutionstheorie ist ein wissenschaftliches Erklärungsmodell. Das heißt, sie stellt eine ganze Reihe von Beobachtungsdaten in einen logischen Kontext und erklärt uns, warum wir diese Beobachtungen gemacht haben - und nicht ganz andere. Der logische Kontext ist hierbei ein in der Natur ablaufender Prozess - die Evolution.
Die Evolutionstheorie ist also eine wissenschaftliche Beschreibung eines in der Natur ablaufenden Prozesses. Während die Evolutionstheorie also den erkenntnistheoretischen Gegebenheiten unterliegt (die ich gleich im nächsten Punkt erkläre), gilt das NICHT für den natürlichen Prozess der Evolution.
Evolution ist also weder "nur eine Theorie", noch eine wissenschaftliche Theorie. Es ist ein in der Natur ablaufender und bestens nachgewiesener Prozess.
Vermischung von Umgangssprache und FachspracheDu schreibst ganz richtig, dass in der Wissenschaft eine Theorie etwas anderes ist als in der Umgangssprache. Und ich komme gerne Deiner Bitte nach, das genauer zu erklären:
In der Umgangssprache beizeichnet das Wort "Theorie" oft eine Vermutung, eine ungeprüfte Idee. Das ist in der Wissenschaft (bestenfalls) eine Hypothese. In der Umgangssprache versteht man das Wort "Theorie" auch oft als Gegensatz zur Praxis. Die Theorie steht jedoch in der Wissenschaft nicht der Praxis, sondern den Daten gegenüber: Beobachtungsdaten werden durch die theoretischen Erklärungsmodelle in einen logischen Kontext gebracht, die Theorien anhand der Daten überprüft.
Eine Theorie bezeichnet in der Wissenschaft ein konkretes, geschlossenes Erklärungsmodell, an das gewisse Anforderungen gestellt werden. Verschiedene Erkenntnistheoretiker formulieren diese Kriterien etwas unterschiedlich. Die wichtigsten sind:
- Exaktheit - die Aussagen der Theorie müssen so exakt formuliert sein, dass sie sich überprüfen lassen (siehe Prüfbarkeit);
- Konsistenz - die Theorie darf nicht in interne Widersprüche laufen oder Beobachtungen oder anderen gesicherten Daten widersprechen
- Erklärwert - das Modell schafft es, ohne dieses Modell logisch unverknüpfte Beobachtungen in einen gemeinsamen logischen Kontext zu stellen. Das Modell erklärt uns damit, __warum__ wir diese Beobachtungen gemacht haben.
- Vorhersagewert - das Modell macht konkrete Vorhersagen, die so exakt sein müssen (siehe Exaktheit), dass man falsche Vorhersagen von richtigen unterscheiden kann (sihe Prüfbarkeit)
- Kritisierbarkeit - wissenschaftliche Modelle müssen durch rationale Gegenargumente und Beobachtungsdaten widerlegbar sein
- Prüfbarkeit und Testerfolg - Ein Modell wird überhaupt erst dadurch "wissenschaftlich", dass es konkret prüfbar ist und an dieser Überprüfung scheitern kann. Im Falle eines naturwissenschaftlichen Modells findet diese Überprüfung durch Beobachtung der Natur/Experiment statt: Eine naturwissenschaftliche Aussage ist nur dann eine solche, wenn sie an der Natur scheitern kann. Von einer belegten oder bestätigten Theorie reden wir dann, wenn sie diesen Test in bestimmten Bedingungen (Messgenauigkeit, Wertebereich,…) bestanden hat.
Die Evolutionstheorie erfüllt jedes einzelne dieser Kriterien mit Bravour. Kaum ein anderes wissenschaftliches Modell hat einen derartigen Testerfolg vorzuweisen - sie erklärt uns nahezu alle Daten der Biologie... oder wie es der Biologe T. Dobzhansky einmal gesagt hat: "Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Licht der Evolution!" Kaum ein anderes wissenschaftliches Modell ist derart gut vernetzt mit bestens gesicherten Erkenntnissen anderer wissenschaftlicher Disziplinen:
(Graphik aus dem letzten meiner Links unten, S.13)
All das verwischt der Spruch "nur eine Theorie"... entweder aus Unkenntnis über die genannten Unterschiede zur umgangssprachlich gemeinten "Vermutung" - oder zum Zwecke der aktiven Diskreditierung. Wissenschaftsfeinde und fundamentalistisch religiöse Gruppierungen wollen mit dem Spruch "nur eine Theorie" die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse herabspielen. Wissenschaft soll als ebenfalls rational unbegründetes Glaubenssystem dargestellt werden.
Richtig ist, dass das Kriterium der Kritisierbarkeit und der allgemeingültige Charakter naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle bedeuten, dass naturwissenschaftliche Theorien (Modelle) nie im philosophischen Sinne letztbeweisbar sind. Sie bleiben anpassbar an neue Daten und neue Erkenntnisse. Während Wissenschaftsfeinde (Anti-Intellektuelle, Rechtsextremisten, Kreationisten,...) versuchen, dies mit dem Spruch "nur eine Theorie" als Schwäche darzustellen, liegt hierin in Wahrheit die Stärke naturwissenschaftlicher Beschreibungen der Natur. Naturwissenschaftliche Beschreibungen werden mit der Zeit immer besser. So hat sich beispielsweise die Evolutionstheorie seit Darwin stark verändert, hat etwa die gesamten Erkenntnisse der Genetik in sich aufgenommen.
Tatsächlich zählen bestens bewährte naturwissenschaftliche Theorien aufgrund der wissenschaftlichen Methodik zu den verlässlichsten Aussagen, die wir haben. In zahlreichen Alltagssituationen pflegen wir weit weniger gut mit Daten untermauerte Aussagen als "wahr" zu akzeptieren.
Ich gebe Dir noch ein paar Links zum Thema mit, falls Du noch mehr dazu wissen möchtest:
https://bigthink.com/starts-with-a-bang/never-tell-scientist-just-a-theory/
https://www.scinexx.de/dossierartikel/nur-eine-theorie/
https://www.nytimes.com/2016/04/09/science/in-science-its-never-just-a-theory.html?smid=pl-share
https://web.archive.org/web/20210615164122/http://www.martin-neukamm.de/kreation.pdf
Und ich gehe fest davon aus, dass ich jetzt wieder ein paar der üblichen Kommentare mit denselben schon zigmal widerlegten Sprüchen von eingefleischten Kreationisten unter meine Antwort kriege...
Grüße

was nun eine Theorie ist wurde dir ausführlich beschrieben und erklärt...aber Evolution ist eher eine These als eine Theorie...zumindest wenn man genau darauf schaut...
Eine wissenschaftlich anerkannte Tatsache ist eine Theorie, die als Tatsache anerkannt wird.
Bisher gibt es nur Erkenntnisse, die die Evolutionstheorie bestätigen, daher wird diese als Tatsache angesehen.
Empirische Theorien sind hinsichtlich ihrer Beobachtungsdaten stets unterbestimmt. Zu einer Menge an Beobachtungsdaten passen daher immer auch alternative Theorien.
Siehe: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Duhem-Quine-These
Daraus folgt, dass man empirische Theorien wie z.B die Evolutionstheorie weder zweifelsfrei beweisen also verifizieren kann und genau genommen nicht mal falsifizieren kann.
Eine wissenschaftliche empirische Theorie wird durch viele Beobachtungsdaten ( durch Experimente) gestützt und hat sich im besten Fall bereits über längere Zeit bewährt
Wenn man das Wort Theorie im Alltag im Sinne einer Vermutung verwendet, dann hat man in der Regel wesentlich weniger Beobachtungsdaten zur Verfügung, die diese Theorie stützen und kann auch nicht viel über die Bewährtheit der Theorie sagen.
Dennoch gilt für empirische wissenschaftliche Theorien, dass es keine hundertprozentig sicheren Beweise dafür gibt.
Beweisen in diesem strengen Sinn tut man in der Logik, der Mathematik und der Informatik